VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 21.06.2011 - A 6 K 749/11 - asyl.net: M18782
https://www.asyl.net/rsdb/M18782
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG wegen Verfolgungsgefahr durch Taliban wegen vermeintlicher Arbeit für die Amerikaner und die Regierung sowie wegen Verfolgungsgefahr durch den afghanischen Staat wegen vermeintlicher Unterstützung der Taliban.

2. Das Vorbringen zum Verfolgungsschicksal ist glaubhaft. Das Gericht glaubt auch die berichteten Sprachschwierigkeiten bei der Anhörung des BAMF, denn aus der Niederschrift ergibt sich, dass er nicht immer alles verstanden hat. Der vom Gericht hinzugezogene Dolmetscher hat bestätigt, dass der Kläger einen Dialekt des Pashto spreche, der in der Gegend von Paktia gesprochen wird; bei diesem Dialekt müsse man teilweise nachfragen, weil er ungewöhnliche Wörter enthalte.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, politische Verfolgung, Anhörung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Dolmetscher, Dialekt, Paktia,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 5
Auszüge:

[...]

Jedoch liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor. Der Kläger wurde in Afghanistan wegen seiner (vermeintlichen) politischen Überzeugung durch den afghanischen Staat sowie durch nichtstaatliche Akteure verfolgt, ohne dass er eine innerstaatliche Fluchtalternative hatte (§ 60 Abs. 1 S.1, S. 4 a und c AufenthG). Er hat vorgetragen, die Taliban hätten ihn verschleppt, weil sie zunächst gemeint hätten, er arbeite für die Amerikaner und die Regierung im Straßenbau. Aus Angst habe er sich als gläubigen Moslem ausgegeben, der die "Ungläubigen" nicht möge. Er sei daher von den Taliban in ein Ausbildungscamp in den Bergen mitgenommen worden. Er sei ideologisch geschult worden und in die Methoden eines Selbstmordattentäters eingewiesen worden. Da er aber niemanden töten könne und wolle, sei ihm die Flucht gelungen. Nun habe er sowohl Angst vor den Taliban, die ihn als Verräter betrachteten, als auch vor dem afghanischen Staat, dem bekannt geworden sei, dass er in einem Ausbildungscamp der Taliban gewesen sei, und der bei seiner Mutter auch schon nach ihm gesucht habe.

Dieses Vorbringen ist glaubhaft. Es ist äußerst detailreich und konkret. Gravierende Widersprüche finden sich nicht. In diesem Zusammenhang ist auszuführen, dass das Gericht ihm die berichteten Sprachschwierigkeiten bei seiner Anhörung am 26.01.2011 in Karlsruhe glaubt, auch wenn er damals bestätigte, dass er sich mit dem Sprachmittler verständigen könne. Aus der Niederschrift ergibt sich, dass er nicht immer alles verstanden hat (vgl. Seiten 3 oben, 4 oben, 4 unten und 5 oben). Der vom Gericht hinzugezogene Dolmetscher hat bestätigt, dass der Kläger einen Dialekt des Pashto spreche, bei dem man teilweise nachfragen müsse, weil er ungewöhnliche Wörter verwende. Dies sei der Dialekt, der in der Gegend von Paktia gesprochen werde. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger sein Verfolgungsschicksal dann detailreich, einleuchtend, ohne Übertreibungen und widerspruchsfrei geschildert. Es sind etliche Kennzeichen vorhanden, die für die Wahrheit seines Vorbringens sprechen. So ist er auf die Blutrache nur kurz zu sprechen gekommen, sondern hat ausgeführt, seine Probleme hingen mit den Taliban zusammen. Seine Antwort an die Taliban, weshalb er an der Straße mit baue, ist so einfach und zugleich bildhaft, dass sie schwerlich erfunden sein kann: Er sagte den Taliban, er arbeite nicht für die "Ungläubigen", sondern "für seinen Magen". Auch seine Schilderung, wie er für ein Selbstmordattentat ausgebildet worden sei, dass er aber nicht geglaubt habe, sofort ins Paradies zu kommen, dass ihm das Ganze vielmehr auf einmal "total irre" vorgekommen sei, beruht erkennbar nicht auf angelerntem Text. Ferner führte er einleuchtend aus, die Taliban hätten auf die Gruppe der potenziellen Selbstmordattentäter nicht zu viel Druck ausgeübt, weil sie nur die Überzeugten bei einem Attentat hätten einsetzen können. Auch die Flucht vor den Taliban hat er plausibel geschildert. Es leuchtet ein, dass er keinen strengen Sicherheitsvorkehrungen in dem Camp unterlag, da die Taliban davon überzeugt waren, er sei einer der ihren. Schließlich hat er zu den Kosten seiner Flucht nicht einfach gesagt, sein Schwager habe ihm das Geld geschenkt, sondern es ihm quasi vorgeschossen, und es sei klar, dass er es zurückzahlen werde.

Der Kläger wirkte von seiner Verfolgungsgeschichte auch emotional berührt; er schilderte sie im Zusammenhang und gab auf Fragen des Gerichts vernünftige, detaillierte Antworten, die nicht angelernt wirkten.

Damit hat der Kläger glaubhaft gemacht, dass die Taliban ihn nach seiner Flucht als Verräter betrachten, der zudem auch noch ihren Schlupfwinkel in den Bergen kennt. Da sie ihn anfangs beim Straßenbau antrafen, wird sich ihr anfänglicher Verdacht bestätigt haben, er arbeite für die afghanische Regierung und für die Amerikaner. Damit liegt es auf der Hand, dass sie nach seiner Flucht nach ihm suchten und ihn ohne weiteres liquidiert hätten, wenn sie ihn erwischt hätten. Somit war sein Leben wegen seiner politischen Überzeugung bedroht. Unerheblich ist, dass er tatsächlich wohl nicht auf der Seite der afghanischen Regierung war, sondern sich vor allem um sein eigenes Überleben kümmerte, denn es reicht für den politischen Charakter einer Verfolgung aus, wenn sie der von dem Verfolger vermuteten politischen Überzeugung des Opfers gilt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.02.1997 - 9 B 660.96 -, juris sowie GK-AufenthG, § 60 Rdnr. 159).

Der Kläger hat ferner glaubhaft gemacht, dass auch der afghanische Staat ihn wegen seiner (vermeintlichen) politischen Überzeugung verfolgte, da er davon ausging, er habe sich zu den Taliban abgesetzt und kämpfe mit ihnen gegen sie. Dafür spricht der glaubhafte Vortrag des Klägers, Sicherheitskräfte seien einige Wochen, nachdem er verschwunden sei, zu seiner Mutter gekommen und hätten nach ihm gefragt. Dies war noch im Heimatdorf und nicht in Kabul, wohin die Mutter sich später flüchtete. Dass die Sicherheitskräfte Verdacht schöpften, nachdem er von der Straßenbaustelle verschwunden war, leuchtet ein, zumal der Kläger dem Gericht einen Artikel aus dem Internet vorgelegt hat, wonach es auf dem Highway zwischen Paktia und Khost zu mehreren schweren Vorfällen zwischen den Taliban und den Straßenbauarbeitern kam.

Eine Fluchtalternative innerhalb des afghanischen Staates stand dem Kläger nicht zur Verfügung, da er sowohl vom Staat als auch von den Taliban verfolgt wurde und damit zwischen zwei "gefährlich heißen Stühlen" saß, wie er sich ausdrückte.

Mithin ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ergänzend anzuwenden, wie sich aus § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG ergibt. Diese Vorschrift privilegiert den Vorverfolgten durch die (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Heimatland wiederholen wird. Die Vermutung muss durch stichhaltige Gründe widerlegt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377 und juris). Das erkennende Gericht sieht solche stichhaltigen Gründe jedoch nicht. Wenn der Kläger nach Afghanistan zurückkehrte, wäre vielmehr die Gefahr vorhanden, dass er wiederum staatliche und nichtstaatliche Verfolgung zu erwarten hätte, zumal die Ereignisse, auf denen die Verfolgung beruhte, erst vor etwa einem Jahr stattgefunden haben. Mithin ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]