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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 20.07.2011 - 29 L 94.11 - asyl.net: M18783
https://www.asyl.net/rsdb/M18783
Leitsatz:

Da dem 7-jährigen deutschen Stiefkind unter keinem Gesichtspunkt eine dauerhafte Übersiedlung nach Vietnam zumutbar ist, hat der Vater dessen vietnamesischen Halbbruders ein Aufenthaltsrecht in Deutschland (mit Bezug auf OVG Münster, Urteil vom 16.11.2010, 17 A 2434/07, ASYLMAGAZIN 2011, S. 132 ff.).

Schlagwörter: Aufenthaltsrecht, Eltern-Kind-Verhältnis, Familieneinheit, Schutz von Ehe und Familie, vorläufiger Rechtsschutz, deutsches Kind, Stiefkind, familiäre Lebensgemeinschaft, rechtliche Unmöglichkeit, Zumutbarkeit, Vaterschaftsanfechtung, Frist, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Duldung, Visumsverfahren
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, GG Art. 11, StAG § 4 Abs. 1 S. 2, StAG § 3 Abs. 1 Nr. 1, BGB § 1600 Abs. 1 Nr. 5, BGB § 1600b Abs. 1a S. 3
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers vietnamesischer Staatsangehörigkeit, die aufschiebende Wirkung der Klage VG 29 K 95.11 gegen den Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 28. Februar 2011 anzuordnen, ist gemäß § 80 Abs. 5, Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 2 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, § 4 Abs. 2 AGVwGO zulässig und begründet. Das öffentliche Interesse am Sofortvollzug der angefochtenen Versagung der Aufenthaltserlaubnis bzw. der Abschiebungsandrohung überwiegt nicht das private Interesse des Antragstellers, von einer Vollziehung der Ausreisepflicht vorläufig verschont zu bleiben. Denn die angefochtene Verfügung ist bei der im vorliegenden Verfahren allein gebotenen summarischen Prüfung rechtswidrig.

Entgegen der vom Antragsgegner nunmehr im angefochtenen Bescheid (im Gegensatz zu den zuvor seit 30. März 2010 erteilten Duldungen) vertretenen Ansicht besteht beim Antragsteller eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung. Daher liegt die maßgebliche Tatbestandsvoraussetzung von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG vor. Das rechtliche Abschiebungshindernis ergibt sich hier aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK im Hinblick auf die vom Antragsteller glaubhaft vorgetragene und vom Antragsgegner bislang nicht in Zweifel gezogene familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner vietnamesischen Ehefrau, dem gemeinsamen, im August 2009 geborenen Kind und dem im April 2004 geborenen Stiefkind des Antragstellers, welches unstreitig die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Zwar ergibt sich aus Art. 6 GG kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt und kann dem Ziel der Begrenzung des Zuzugs von Ausländern erhebliches Gewicht beigemessen werden. Jedoch verpflichtet Art. 6 GG die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zu berücksichtigen. Folglich ist das Interesse an der Erhaltung von Ehe und Familie im Einzelfall mit den öffentlichen Interessen der Zuwanderungssteuerung abzuwägen.

Der Schutz des Art. 6 GG gilt der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Diese wird von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt. Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 - zitiert nach juris). Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer - wie hier - vor Entstehung der schützenswerten Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass durch das nachträgliche Entstehen einer grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft regelmäßig eine neue Situation eintritt, die sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht eine Zäsur bewirkt und damit zu einer Neubeurteilung und -bewertung zwingt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - zitiert nach juris). Bei einer Vater-Kind-Beziehung ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird (vgl. die durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16. Dezember 1997 - BGBl. S. 2942 - gestärkte Rechtsposition des Kindes im Hinblick auf Sorgerecht und Umgangsrecht beider Eltern). Seither ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und zu beachten, dass gerade bei einem kleinen Kind die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, so dass selbst eine verhältnismäßig kurze Zeit der Trennung mit Blick auf Art. 6 GG schon unzumutbar lang sein kann. Vorliegend hat der Antragsteller glaubhaft vorgetragen, dass er mit seinem jetzt etwa zwei Jahre alten Sohn und der Mutter zusammenlebt und sich viel um das Kind kümmert, da die Eltern noch keinen Kita-Platz bekommen haben und die Ehefrau zeitweilig berufstätig ist. Damit ist jedenfalls für das Eilverfahren von einer solchen zu schützenden Lebensgemeinschaft auszugehen.

Diese Lebensgemeinschaft kann im vorliegenden Einzelfall zumutbar nur im Bundesgebiet fortgesetzt werden. Dies folgt aus der gleichermaßen schützenswerten, zumutbarerweise nur im Bundesgebiet fortsetzbaren familiären Gemeinschaft des ein Aufenthaltsrecht nach § 33 AufenthG innehabenden Kindes mit der Mutter und seinem Halbbruder. Zwar besitzen der Antragsteller, sein Sohn und die Kindesmutter die vietnamesische Staatsangehörigkeit. Der Stiefsohn des Antragstellers ist jedoch deutscher Staatsangehöriger. Als solcher hat er einen durch Art. 11 GG geschützten Anspruch, sich in Deutschland aufzuhalten. Ein Deutscher darf nur im Ausnahmefall der Auslieferung gem. Art. 16 Abs. 2 GG durch staatlichen Zwang ins Ausland verbracht werden. Folgerichtig bestimmt § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, S. 2 AufenthG, dass dem ausländischen Elternteil eines deutschen Kindes zur Ausübung der Personensorge die Aufenthaltserlaubnis ohne Rücksicht auf die Sicherung des Lebensunterhalts erteilt werden muss, wie es hier für die Ehefrau des Antragstellers im Hinblick auf das deutsche Kind erfolgt ist. Diese Privilegierung des ausländischen Elternteils dient in erster Linie dem Schutz des deutschen Staatsangehörigen. Dies findet seinen Grund darin, dass der Zwang, der durch Vorenthaltung einer solchen Aufenthaltserlaubnis für den ausländischen Elternteil auf das deutsche Kind ausgeübt würde - entweder seine Zukunftschancen in seiner deutschen Heimat aufzugeben oder die Trennung von dem Elternteil hinzunehmen, um im Bundesgebiet bleiben zu können - geeignet ist, die betroffene Familie zu erschüttern und zu gefährden und damit im Widerspruch zum Schutzgebot des Art. 6 GG steht. Weiterhin umfasst die von der deutschen Rechtsordnung geschützte Familiengemeinschaft dieses deutschen Kindes und seiner ausländischen Mutter deren weiteres ausländisches Kind. Auch sein Aufenthalt bzw. Verbleib im Bundesgebiet ist wegen der familiären Lebensgemeinschaft mit dem deutschen Halbbruder privilegiert und unterfällt dem Schutzgebot nach Art. 6 GG. Dies gilt unabhängig davon, ob das deutsche Kind zugleich auch die maßgebliche andere - hier die vietnamesische - Staatsangehörigkeit besitzt. Denn aus dieser zweiten Staatsangehörigkeit erwächst lediglich eine rechtliche Möglichkeit für das deutsche Kind, sich auch in dem anderen Land aufzuhalten, sein Anspruch auf Aufenthalt in Deutschland und daran anknüpfend auch der aufenthaltsrechtliche Anspruch des Elternteils und des Halbgeschwisterkindes wird davon nicht berührt. Dasselbe gilt für die Frage, ob eine familiäre Beziehung zwischen dem deutschen Kind und seinem deutschen Vater besteht. Auch das zeigt bereits die Regelung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die nur an den Aufenthalt des deutschen Kindes und das Sorgerecht des ausländischen Elternteils anknüpft. Damit kann jedoch auch die familiäre Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit seinem Sohn zumutbarerweise nur im Bundesgebiet fortgesetzt werden. Eine Beendigung seines Aufenthalts würde nämlich zwangsläufig unmittelbar die rechtlich wegen der deutschen Staatsangehörigkeit des Stiefsohnes besonders geschützte Aufenthalts- und Lebenssituation des Sohnes des Antragstellers mit seiner Mutter und deren deutschem Kind beeinträchtigen. Wäre der Antragsteller gezwungen, das Bundesgebiet zu verlassen, müsste sein Sohn dies entweder hinnehmen oder sich von der Mutter und seinem deutschen Halbbruder trennen bzw. auch die Mutter und der Halbbruder müssten zur Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft unter Aufgabe ihres Aufenthaltsrechts das Bundesgebiet verlassen. Ein effektiver Schutz des Rechts eines deutschen Staatsangehörigen auf Aufenthalt im Bundesgebiet umfasst notwendigerweise den Schutz vor unmittelbaren und mittelbaren Beeinträchtigungen, insbesondere auch hinsichtlich geschützter weiterer ausländischer Familienangehöriger. Es bedarf im Einzelfall einer Gesamtabwägung der in Rede stehenden individuellen Umstände und Verhältnisse, insbesondere bei einem familiären Beziehungsgeflecht wie dem vorliegenden (OVG Münster, Urteil vom 16. November 2010 - 17 A 2434/07 - Asylmagazin 2011, S. 132 in Abkehr von früherer Rechtsprechung, vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 29. März 2001 - 13 S 2643/00 - zitiert nach juris, zu einer familiären Lebensgemeinschaft mit deutschem Stiefkind ohne gemeinsames Kind; a.A. für den Fall, dass das deutsche Kind zugleich die maßgebliche ausländische Staatsangehörigkeit besitzt bzw. erwerben kann OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. September 2009 - OVG 12 S 81.09 - und Beschluss vom 9. Juli 2010 - OVG 3 S 33.10 -).

Vorliegend kann dahinstehen, ob das deutsche Stiefkind des Antragstellers überhaupt die vietnamesische Staatsangehörigkeit besitzt (nach dem aktuellen Gesetz über die vietnamesische Staatsangehörigkeit vom 13. November 2008 dürfte dies nicht der Fall sein - vgl. Brandhuber/Zeyringer, Standesamt und Ausländer, Abschnitt Vietnam, Stand 2010; das für die hier in Rede stehende Geburt 2004 maßgebliche vietnamesische Staatsangehörigkeitsgesetz ist weder dort noch in Bergmann/Ferid abgedruckt) oder ob es diese unproblematisch erwerben könnte. Denn jedenfalls ist diesem Kind unter keinem Gesichtspunkt eine dauerhafte Übersiedlung nach Vietnam zumutbar. Dies ergibt sich daraus, dass das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 StAG unstreitig aufgrund der Vaterschaftsanerkennung durch einen deutschen Staatsbürger am 27. April 2004 mit seiner Geburt am 23. März 2004 erworben, diese seither nicht verloren und es sich praktisch durchgehend (mit Ausnahme von 2 Monaten Visumsverfahren in 2004) in Deutschland aufgehalten hat. Zwar drängen sich nach dem Akteninhalt in der Tat erhebliche Zweifel auf, dass der mittlerweile verstorbene deutsche Staatsbürger, der diese Vaterschaftsanerkennung abgegeben hat, biologischer Vater des Kindes war. Darauf kommt es vorliegend jedoch nicht an. Denn der Antragsgegner hat es versäumt, von der seit dem Inkrafttreten von § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB durch Gesetz vom 13. März 2008 (BGBl. S. 313) am 1. Juni 2008 (wieder) eröffneten Möglichkeit einer Vaterschaftsanfechtung durch die Behörde bei Verdacht einer aufenthaltsrechtlich motivierten Scheinanerkennung Gebrauch zu machen. Die absolute Anfechtungsfrist gemäß § 1600b Abs. 1 a Satz 3 BGB lief nämlich erst fünf Jahre nach Wirksamkeit der Anerkennung, mithin erst im April 2009, ab und war - wie der Wortlaut des § 1600 Abs. 3 BGB zeigt - auch nach dem Tod des Vaters möglich. Das deutsche Stiefkind des Antragstellers ist mithin bereits 7 Jahre und 4 Monate lang in Deutschland als deutscher Staatsbürger aufgewachsen und hat bereits die 1. Klasse der Grundschule absolviert. Ein Abbruch dieses Lebensweges und eine Einschulung und Eingewöhnung in Vietnam kommt für dieses Kind unabhängig von der - wahrscheinlich zu bejahenden Frage - ob es über entsprechende Sprachfähigkeiten verfügt, offenkundig nicht in Betracht (ebenso bei einem 7 Jahre alten vietnamesischen Kind VG 15 K 306.10, Beschluss vom 30. September 2010).

Daraus, dass es für das deutsche Kind unzumutbar ist, sein Leben fortan in Vietnam zu führen, folgt - wie ausgeführt - eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers. In der Folge hat der Antragsgegner das ihm in § 25 Abs. 5 sowie in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen auszuüben, was bislang infolge der Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen unterblieben ist. Im Übrigen folgt aus dem Vorstehenden zumindest ein Anspruch des Antragstellers auf (weitere) Erteilung einer Duldung wegen dieses rechtlichen Abschiebungshindernisses, jedenfalls solange bis die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis als Ehemann erfüllt sind. Dann dürfte dem Antragsteller allerdings die Ausreise zur Nachholung des Visumsverfahrens zumutbar sein. [...]