SG Mannheim

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Zitieren als:
SG Mannheim, Urteil vom 20.05.2011 - S 9 AY 4431/10 - asyl.net: M18792
https://www.asyl.net/rsdb/M18792
Leitsatz:

§ 64 Abs. 1 Satz 1 SGB X (Kostenfreiheit) gilt über den Wortlaut hinaus für alle Normen des materiellen Sozialrechts, hinsichtlich derer der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet ist. Dies gilt auch dann, wenn die jeweilige Norm (hier AsylbLG) nicht zum Sozialgesetzbuch gehört bzw. diesem nicht gleichgestellt ist.

Die Erhebung einer Aktenversendungspauschale nach den Vorschriften des Landesverwaltungsverfahrens bzw. Landesgebührenrecht für ein Widerspruchsverfahren nach dem AsylbLG scheidet aus.

Schlagwörter: Aktenversendungskosten, Gebührenforderung, Asylbewerberleistungsgesetz, Verfahren, Kosten, Auslagen
Normen: SGB X § 64 Abs. 1 S. 1, SGB X § 64 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist als reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig und begründet.

Dem beklagten Land ist zuzugeben, dass bei einer ausschließlich am Wortlaut orientierten Gesetzesauslegung die Erhebung einer Aktenversendungspauschale nicht zu beanstanden wäre. Denn das AsylbLG rechnet formal nicht zum Sozialgesetzbuch (SGB) und ist diesem auch nicht gleichgestellt (§ 68 Sozialgesetzbuch I - SGB I). Dies hat zur Konsequenz, dass die in § 64 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch X (SGB X) vorgesehene Gebühren- und Auslagenbefreiung für das Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren nicht zum Tragen käme, denn diese Vorschrift bezieht sich nach dem Gesetzeswortlaut nur auf Verfahren nach dem SGB (so im Ergebnis wohl bspw. auch LPK-SGB XII, 2. Auflage 2008, Vorbemerkung zum AsylbLG Rdnr. 4 und Oestreicher, SGB II / SGB XII, Oktober 2010, Einführung zum AsylbLG Rdnr. 33).

Ein solches Verständnis greift aber nach Auffassung des Gerichts zu kurz. Dies beruht auf folgenden Überlegungen:

Zunächst ist festzuhalten, dass das AsylbLG auch - zumindest im hier interessierenden Teil - Vorschriften des materiellen Sozial(hilfe)rechts enthält (so ausdrücklich Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, Einleitung zum AsylbLG Rdnr. 3). Darüber hinaus weist der Bevollmächtigte des Klägers zutreffend darauf hin, dass § 64 Abs. 1 SGB X nach den Gesetzesmaterialien darauf abzielt, sämtliche Kostenvorschriften für das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren zusammenzufassen bzw. zu koordinieren (BT-Drucksache 8/2034 Seite 36 und Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, April 2011, § 64 SGB X Rdnr. 2). Im Übrigen muss beachtet werden, dass in jüngster Zeit zunehmend betont wird, dass das Leistungsniveau, das durch das AsylbLG gewährleistet wird, deutlich hinter der Sozialhilfe zurückbleibt und hieraus geschlussfolgert wird, dass es nicht dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebot und dem Staatsziel eines menschenwürdigen Lebens (Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz - GG) gerecht wird (vgl. bspw. nur LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 22.11.2010 - L 20 AY 1/09). Vor diesem Hintergrund verbietet es sich nach Auffassung des Gerichts, Asylbewerber und andere gleichgestellte Ausländer im Hinblick auf die Kosten und Auslagen eines Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens schlechter zu stellen als Leistungsempfänger nach dem Sozialhilferecht (Sozialgesetzbuch XII - SGB XII) oder dem Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Sozialgesetzbuch II - SGB II). Für dieses Ergebnis pricht im Übrigen auch, dass Rechtsstreitigkeiten nach dem AsylbLG seit der Zuweisung zur Sozialgerichtsbarkeit (1.1.2005) kostenprivilegiert sind (vgl. § 183 SGG). Daher ist keine Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlungsgebot bzw. Diskriminierungsverbot) genügende Rechtfertigung ersichtlich, insoweit für das Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren zum Nachteil der Leistungsbezieher nach dem AsylbLG eine Differenzierung vorzunehmen. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hält es das Gericht für erforderlich, § 64 Abs. 1 Satz 1 SGB X erweiternd auszulegen und auf alle Vorschriften anzuwenden, die materielles - der Sozialgerichtsbarkeit unterfallendes - Sozialrecht beinhalten. Denn insoweit weist das geschriebene Recht aus den dargestellten Gründen durchaus eine ausfüllungsbedürftige Lücke auf (a.A. allerdings noch zur früheren Rechtslage OVG Niedersachsen, Urteil vom 25.2.1999 - 12 L 4133/98; ähnlich wie hier mit etwas anderer Begründung wohl SG Düsseldorf, Urteil vom 21.9.2007 - S 8 KR 19/05). [...]