Die Praxis des BAMF, in sog. Dublin II-Verfahren die für die Durchführung der Abschiebung zuständige Stelle zu ersuchen, dem Ausländer den Bescheid nach § 34a Abs. 1 AsylVfG erst am Tag der Abschiebung zuzustellen, widerspricht der Regelung des Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO.
(Amtlicher Leitsatz)
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Der Antragsgegnerin wird für den Fall, dass sich ein anderer Mitgliedsstaat für die Behandlung des Asylbegehrens des Antragstellers für zuständig erklärt und den Antragsteller aufnimmt, aufgegeben, dafür Sorge zu tragen, dass zwischen der Zustellung eines Bescheides nach § 34a AsylVfG an den Antragsteller und der Durchführung der Abschiebung /Überstellung des Antragstellers in den aufnehmenden Mitgliedsstaat eine Frist von 1 Woche gewahrt wird. [...]
Der Antrag des (möglicherweise) minderjährigen Antragstellers ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässig und begründet. Bei einer EURODAC-Anfrage wurde eine Registrierung des Antragstellers – allerdings mit einem anderen Namen und Geburtsdatum – in Frankreich, Groß-Britannien und der Schweiz festgestellt.
Der Antragsteller bedarf des vorläufigen Rechtsschutzes, weil die Antragsgegnerin derzeit die Möglichkeit der Überstellung in einen dieser Mitgliedsstaaten prüft.
Es handelt sich beim Begehren des Antragstellers nicht um einen Antrag nach § 34a Abs. 2 AsylVfG, sondern um einen Eilantrag auf vorbeugenden Rechtsschutz gegen die gerichtsbekannte Praxis der Antragsgegnerin, in sog. Dublin II-Verfahren die für die Durchführung der Abschiebung zuständige Stelle zu ersuchen, dem Ausländer den die Abschiebung anordnenden Bescheid erst am Tag der Überstellung durch Zustellung bekannt zu geben, um das Überstellungsverfahren zu beschleunigen. Diese Praxis der Antragsgegnerin mag zwar durch § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylVfG gedeckt sein (so VG Neustadt (Weinstraße), B. v. 16.02.2010, Az.: 1 L 136/10), sie widerspricht aber der vorrangig zu berücksichtigenden Vorschrift des Art. 19 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO). Danach ist die Frist für die Durchführung der Überstellung anzugeben und der Zeitpunkt und Ort zu nennen, zu dem sich der jeweilige Antragsteller zu begeben hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedsstaat begibt.
Der Verpflichtung zum Einräumen einer Befolgungsfrist steht Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nicht entgegen, denn dessen Regelung bezieht sich nur auf den eigentlichen Vollstreckungsakt der Abschiebung, nicht jedoch auf das Verfahren zur Durchführung der Übernahme.
Die Einhaltung einer Mindestfrist zwischen Zustellung der Entscheidung und Vollstreckung ist auch deshalb geboten, weil dem Antragsteller durch die gleichzeitige Zustellung und Abschiebung die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise genommen wird, was für ihn ausländerrechtlich im Hinblick auf § 11 AufenthG eine Schlechterstellung bedeutet.
Außerdem wird ihm jegliche effektive Eilrechtsschutzmöglichkeit gegen die Abschiebungsanordnung abgeschnitten. Trotz der einfachgesetzlichen Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG kann vorläufiger Rechtsschutz gegen die Überstellung unter Beachtung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht immer und in jedem Fall ausgeschlossen werden (vgl. BVerfG, e.A. vom 12.10.2010, Az.: 2 BvR 1902/10; VG Gießen, B.v. 22.04.2009, Az.: 1 L 775/09).
Die im Eilverfahren angeordnete Fristsetzung von 1 Woche orientiert sich an der Regelung des § 36 Abs. 1 und 3 AsylVfG, der eine vergleichbare Interessenlage zu Grunde liegt.
Die Eilbedürftigkeit ergibt sich hier daraus, dass die Antragsgegnerin es ausdrücklich abgelehnt hat, von einer sofortigen Überstellung – falls ein aufnahmebereiter Mitgliedsstaat gefunden wird – abzusehen. Über eine vorbeugende Unterlassungsklage, die sich gegen die vom Antragsteller befürchtete Behandlung seines Asylantrags in Deutschland richtet, könnte aller Voraussicht nach nicht vor einer möglichen Überstellung rechtskräftig entschieden und damit die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindert werden. [...]