VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 17.06.2011 - 10 K 164/10 - asyl.net: M18813
https://www.asyl.net/rsdb/M18813
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da für die psychisch kranke Klägerin im Kosovo eine psychotherapeutische Behandlung nicht zur Verfügung steht, denn Standard ist dort eine medikamentöse Behandlung mit supportiven Gesprächen. Selbst wenn von einer Registrierungsmöglichkeit und Sozialhilfezahlungen für die Klägerin und ihre Kinder ausgegangen würde, wird sie nicht vollständig von Zuzahlungen bei der Krankenhilfe befreit sein. Die öffentliche Medikamentenversorgung auch bei gängigen Krankheiten ist nicht zuverlässig gewährleistet, eine Beschaffung in privaten Apotheken könnte die Klägerin nicht finanzieren.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Ashkali, Depression, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Registrierung, Sozialhilfe, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass für die Klägerin unter Berücksichtigung der von ihr geltend gemachten Erkrankungen im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf ihr Herkunftsland die einem Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift zugrunde zu legende Voraussetzung, nämlich die Gefahr einer konkreten und alsbald zu erwartenden wesentlichen Verschlimmerung der Erkrankungen bei Rückkehr, droht, weil sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, die dort mögliche Behandlung finanziell sicherzustellen. [...]

Hiervon ausgehend lässt sich nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer für die Klägerin ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG herleiten. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei Rückkehr in den Kosovo aus finanziellen Gründen von der dort möglichen Krankheitsbehandlung, auch wenn von ihr hierzu nur geringe Eigenbeiträge entrichtet werden müssten, ausgeschlossen sein wird, sie zumindest nicht in der Lage sein wird, eine kontinuierliche Behandlung nach dem dortigen Standard sicherzustellen.

Nach der Überzeugung der Kammer liegt bei der Klägerin eine schwere depressive Störung mit Angst- und Panikattacken vor, die möglicherweise Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung ist. Das ergibt sich unzweifelhaft aus den von der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgelegten Psychologischen Stellungnahme des Dipl.-Psychologen E., ..., A-Stadt, vom 28.12.2009 in Verbindung mit dem Fachärztlichen Attest des Arztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. med. M., ..., vom 26.01.2010 und unter Berücksichtigung der sich aus den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten hervorgehenden, jedenfalls seit 2005 erkennbar lückenlos dokumentierten Krankheitsgeschichte der Klägerin. Dabei kommt es hier letztlich nicht wesentlich darauf an, ob die psychische Erkrankung auf psychotraumatische Ereignisse vor der Flucht der Klägerin aus dem Kosovo im Jahre 1999 zurückgeführt werden können und diese eine erstmalige Behandlung offensichtlich erst nahezu sechs Jahre später gesucht hat, weil die Lebensgeschichte der Klägerin über Kriegserlebnisse in ihrem Herkunftsland hinaus von weiteren Umständen geprägt sind, die das Vorhandensein der von ihr geltend gemachten psychischen Erkrankung jedenfalls seit dem Jahre 2005 nachvollziehbar belegen. Die so aufgrund der vorliegenden Atteste und Bescheinigungen sich ergebende Krankheitsgeschichte stellt sich im Wesentlichen folgendermaßen dar:

Mit Bescheinigung der Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. med. B., …, vom 23.05.2005 (Bl. 126 Ausländerakte) wurden der Klägerin eine bestehende Risikoschwangerschaft und mehrere künstliche Befruchtungsversuche attestiert. Dem später ausgestellten Attest des Arztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. med. C., ..., vom 25.07.2007 (Bl. 341 Ausländerakte) sind eine vierte Schwangerschaft seit 02.06.2007 und der Hinweis auf Fehlgeburten bei den drei vorhergehenden Schwangerschaften zu entnehmen. Zeitlich dazwischen lag die Scheidung von ihrem damaligen Ehemann, dem Vater ihrer später geborenen beiden Kinder, am 01.09.2005.

Eine erstmalige Behandlung psychischer Krankheitsäußerungen erfolgte laut deren Bescheinigung vom 07.12.2005 in der Psychologischen Beratungsstelle Heidelberg der Caritas bei der Dipl.-Psychologin V.

ab 17.11.2005. [...]

Die sich so darstellende, über fünf Jahre dokumentierte Krankheits- und Behandlungsgeschichte der Klägerin belegt, ohne dass es insoweit auf der Erkrankung zugrundeliegendes nachhaltiges konkretes traumatisches Erlebnis im Jahre 1999 vor ihrer Anreise ankommt, dass bei der Klägerin eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung in Form einer schweren depressiven Störung, deren psychotherapeutische Behandlung die Berücksichtigung der von der Klägerin dargelegten Kriegserlebnisse erfordert, vorliegt und diese Behandlung ungeachtet der bisherigen medizinischen und psychotherapeutischen Betreuung noch nicht abgeschlossen ist. Daraus ergibt sich auch angesichts der zumeist regelmäßigen Behandlung in den letzten fünf Jahren ein weiter bestehender dringender Behandlungsbedarf. [...]

Hiervon ausgehend sind die Behandlungsmöglichkeiten der Klägerin bei einer Rückkehr und die Folgen einer ausbleibenden genügenden Behandlung in den Blick zu nehmen. Unzweifelhaft wird sich bei einer ausfallenden oder ungenügenden Behandlung der schweren depressiven Störung der Klägerin eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einstellen. Geht man davon aus, dass, wie die vorgelegten Bescheinigungen vom 28.12.2009 und 26.01.2010 belegen, auch eine psychotherapeutische Behandlung der Erkrankung unabdingbar ist, so kann die Klägerin nicht zumutbar auf eine Behandlung im Kosovo verwiesen werden, da dort eine psychotherapeutische Behandlung nicht zur Verfügung steht, sondern medikamentöse Behandlung mit supportiven Gesprächen auch für Erkrankungen, wie sie bei der Klägerin vorliegen, Standard ist. Stellt man mit der bereits dargelegten Rechtsprechung der Kammer (vgl. oben) darauf ab, dass sich Rückkehrer in der Regel auf den dortigen Behandlungsstandard zumutbar verweisen lassen müssen, so ist indes speziell im Falle der Klägerin aufgrund deren konkreten Lebens- und Rückkehrumständen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie aus finanziellen Gründen prognostisch bei einer Rückkehr nicht in den Genuss der dort verfügbaren Standardbehandlung kommen wird. Im Einzelnen ergibt sich dies aus folgenden Erwägungen:

Nach den Erkenntnissen der Kammer (vgl. insbesondere Ministerium für Inneres, Sport und Integration des Landes Niedersachsen, Bericht über die Reise einer Delegation des niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration in die Republik Kosovo vom 15. – 18.11.2009; Mattern, Kosovo: Zur Rückführung von Roma; Update der SFH-Länderanalyse, Bern, 21.10.2009; ai Berlin, Stellungnahme zur Situation der Roma im Kosovo, 06.05.2010) können sich aus dem Ausland zurückkehrende frühere jugoslawische Staatsangehörige aus dem Kosovo grundsätzlich nur an dem Ort registrieren lassen, für den sie vor ihrer Ausreise aus dem Kosovo zuletzt gemeldet waren, und ist eine freie Wahl des Ortes der Wohnsitznahme nach einer Rückkehr aus Deutschland insoweit nicht möglich, als auch nur am letzten Wohnort Sozialleistungen beantragt werden können. Dementsprechend setzt das Verfahren zur Prüfung der Rückübernahmeersuchen aus Deutschland auch die Überprüfung einer entsprechenden Registrierungsmöglichkeit voraus.

Nach ihren keinen durchgreifenden Zweifeln unterliegenden Angaben in der mündlichen Verhandlung der Kammer leben zur Zeit im Kosovo noch die Eltern der Klägerin und zwei Brüder und zwar in dem Ort G.. Weiter hat sie angegeben, sonstige Verwandte im Kosovo nicht mehr zu haben. Vor ihrer Flucht aus dem Kosovo war die in P. geborene Klägerin zuletzt wohnhaft in der Ortschaft V., Gemeinde I., wo sie bei ihren Eltern bis zum Verlassen des Heimatorts im April oder Mai 1999 gewohnt hat (vgl. ihre Angaben in der Anhörung durch die Beklagte am 09.07.1999, Bl. 16 BA-Akte 2482308-138). Zu den derzeitigen Verhältnissen an ihrem Heimatort hat sie weiter glaubhaft angegeben, dass das dortige Haus ihrer Eltern im Verlaufe des Krieges verbrannt sei und sie nicht wisse, was mit dem Grundstück heute sei. Ihre Eltern lebten ebenso wie ihre beiden Brüder in dem Ort G. in von ihnen dort vorgefundenen leerstehenden Häusern, wobei sie keine näheren Kenntnisse über die rechtlichen Verhältnisse habe. Diese Angabe wird im Wesentlichen bestätigt durch die von der Ausländerbehörde eingeholten Informationen (Bl. 174, 271, 273 f. Ausländerakte). Den Informationen von UNMIK vom 09.10.2005 zu "Person n.o. ..." ("the information provided by UNMIK office in Peja") ist u.a. zu entnehmen, dass das Haus der Person während des Krieges total zerstört worden ist und u.a. deshalb eine Rückführung nicht akzeptiert wird. Aus der Mitteilung des Kosovo-Source Information Projekt (KOSIP) Nr. 0...0 vom Oktober 2006 zur Familie der Klägerin ergibt sich nach Maßgabe des englischsprachigen Antwortblatts von KOSIP und der Übersetzung in Form der weitergeleiteten E-Mail-Zusammenfassung in Deutsch an die Ausländerbehörden, dass die Familie der Klägerin das Dorf V. in der Gemeinde I. 1999 verlassen hat und das Haus unter der Adresse in V. im Krieg völlig zerstört worden sei. Der Vater der Klägerin habe das Grundstück an einen Nachbarn verkauft und ein anderes Grundstück erworben, das leer stehe. Der Vater der Klägerin lebe weiter mit seiner Frau und zwei Enkelsöhnen zur Zeit in dem Haus eines Roma, der sich im Ausland befinde und dafür seine Genehmigung erteilt habe. In der Nachbarschaft lebe des Weiteren der Bruder der Klägerin mit seiner Familie in einem neuen Haus, welches ihm eine Hilfsorganisation errichtet habe. Weder das Haus der Eltern (schlechte Bedingungen) noch das neu errichtete Haus des Bruders (zu klein) böten alternativen Wohnraum für die Klägerin. Diese jetzt knapp fünf Jahre zurückliegende Auskunft bestätigt die Angaben der Klägerin in der Anhörung in der mündlichen Verhandlung. Da, wie allgemein dargelegt, eine Registrierung alleine am Herkunftsort erfolgen kann, erscheint eine Registrierung der Klägerin angesichts des Aufenthalts ihrer dort noch lebenden nahen Verwandten außerhalb des letzten Wohnortes der Klägerin fraglich. Jedenfalls ist zu erwarten, dass die Registrierung nicht sofort und unmittelbar bei einer Rückkehr erfolgen wird, weil die Klägerin schlechterdings nicht an ihren Herkunftsort zurückkehren kann, sondern bei ihrer Familie, die in anderen Orten lebt, Aufnahme suchen muss.

Aber auch dann, wenn davon ausgegangen wird, dass ihr bei Rückkehr in absehbarer Zeit eine Registrierung möglich sein wird und sie in der Folge auch in den Genuss von Sozialhilfe für sich (und auch für ihre Kinder) kommt und damit auf Krankenversorgungsleistungen hoffen kann, wird sie nach den derzeitigen Verhältnissen nicht vollständig von Zuzahlungen befreit sein.

Ist nämlich davon auszugehen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr eine Registrierung an ihrem Aufenthaltsort im Kosovo möglich sein wird, so stehen ihr zudem auch grundsätzlich alle Maßnahmen der Sozialhilfe und der Teilhabe am öffentlichen Gesundheitssystem zur Verfügung (vgl. zur Sozialhilfe das Gesetz Nr. 2003/15, LAW ON THE SOCIAL ASSISTANCE SCHEME IN KOSOVO, vom 18.08.2003, Official Gazette of the Provisional Institutions of Self Governement in Kosovo, Pristina, Nr. 15 vom 01.08.2007, www.ks-gov.net/gazetazyrtare).

Zur Problematik der Krankheit und Kosovo sowie zur Teilhabe von Minderheitenangehörigen an der Gesundheitsversorgung hat sich der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes bezogen auf die hier fragliche Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (bezogen auf eine Angehörige der Volksgruppe der Roma) wie folgt geäußert (vgl. das Urteil vom 30.09.2010, 2 A 439/09): [...]

Dieser Bewertung, die auch für Angehörige der Volksgruppe der Ashkali gilt, folgt die Kammer (vgl. bereits das Urteil vom 25.02.2011, 10 K 659/10) auch unter Berücksichtigung der zum hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisquellen (vgl. insbesondere den Lagebericht Kosovo des AA vom 06.01.2011; UNICEF – Deutsches Komitee für UNICEF e. V., Knaus/Widmann/u.a., Studie: Integration unter Vorbehalt – Zur Situation von Kindern kosovarischer Roma, Ashkali und Ägypter in Deutschland und nach ihrer Rückführung in den Kosovo, Köln, 2010; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Grégoire Singer, Kosovo: Update – Zur Lage der medizinischen Versorgung, Bern; vom 01.09.2010; Der Tagesspiegel vom 29.09.2010, EU-Kommission warnt vor Abschiebung von Roma in den Kosovo; Berliner Zeitung - abgedruckt in ai, ASYL-INFO 11/2010, S. 7, vom 07.10.2010, Petra Sorge: Im Nichts – Zur Abschiebung einer Ashkali-Familie in den Kosovo – in die alte Heimat, die für sie nie eine gewesen ist; vgl. zur Fallschilderung auch: SZ vom 23./24.10.2010; Human Rights Watch: Lage abgeschobener Roma – Bericht vom 27.10.2010 – vollständiger englischer Text – vgl. die deutschsprachige Zusammenfassung in: ai, Asylmagazin 12/2010; ai – ASYL-INFO 11/2010, Online-Aktion: Abschiebungen von Roma in den Kosovo stoppen; FR vom 21.12.2010 und 12.01.2011; Berliner Zeitung vom 12.01.2011; NZZ vom 19.01.2011; Dt. Botschaft Pristina, Auskunft vom 01.06.2011).

Ist demnach bereits allgemein darauf abzustellen, dass die öffentliche Medikamentenversorgung auch bei gängigen Krankheiten nicht zuverlässig gewährleistet und eine private Beschaffung in privaten Apotheken zu gewärtigen ist, kann im Falle der Klägerin nicht festgestellt werden, dass diese in der Lage wäre, die erforderliche enge Behandlung durch Medikamentengabe und supportive Gespräche vor dem Hintergrund der bereits dargestellten Umstände, auf denen sie bei einer Rückkehr aller Voraussicht nach treffen wird, finanziell sicherzustellen. Die von ihr dargelegten und durch entsprechende Auskünfte bestätigten Lebensverhältnisse ihrer dortigen Verwandten sprechen bereits nicht dafür, dass auch unter Berücksichtigung des Familienzusammenhalts innerhalb der Familien der Volksgruppe, der die Klägerin angehört, eine regelmäßige Versorgung, die auf eine absehbare Zeit bei der Klägerin noch als erforderlich anzusehen ist, verlässlich erfolgen wird. Nichts anderes gilt für eventuelle Transferleistungen, auf die sich die Klägerin grundsätzlich verweisen lassen müsste. Nach ihren weiteren glaubhaften Angaben bei der Anhörung durch die Kammer sind ihre im Bundesgebiet lebenden Verwandten, zwei Brüder und zwei Schwestern, aufgrund deren eigenen Lebensverhältnisse ersichtlich nicht in der Lage, der Klägerin regelmäßige Transferleistungen zukommen zu lassen. [...]