BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 23.09.2010 - 2 BvR 1143/08 - asyl.net: M18828
https://www.asyl.net/rsdb/M18828
Leitsatz:

1a. In das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) darf nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden (vgl BVerfG, 27.10.1970, 1 BvR 557/68, BVerfGE 29, 312 316>), wobei nach Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ein Eingriff nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen erfolgen darf. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen (vgl BVerfG, 07.10.1981, 2 BvR 1194/80, BVerfGE 58, 208 220>).

1b. Art. 104 Abs. 2 GG fügt dem Gesetzesvorbehalt den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu (vgl BVerfG, 10.02.1960, 1 BvR 526/53, BVerfGE 10, 302 323>). Mit Blick auf die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts sind alle an der freiheitsentziehenden Maßnahme beteiligten staatlichen Organe verpflichtet, ihr Vorgehen so zu gestalten, dass dieser als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl BVerfG, 13.12.2005, 2 BvR 447/05, BVerfGK 7, 87 98>).

2. Bislang ungeklärt ist, welche Bedeutung § 62 Abs. 2 S. 5 AufenthG in den Fällen zukommt, in denen die Abschiebung aus Gründen scheitert, die der Ausländer nicht zu vertreten hat. Der Wortlaut der Regelung lässt den Schluss zu, dass die Haftanordnung in diesen Fällen nicht fortgelten soll (vgl OLG Hamm, 03.03.2009, I-15 Wx 13/09, OLGR Hamm 2009, 639).

3. Hier:

3a. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verwerfung einer auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung gerichteten Klage. Das OLG hatte nicht geprüft, welche Auswirkungen § 62 Abs. 2 S. 5 AufenthG in einem Fall wie demjenigen des Beschwerdeführers hat. Ein Versuch, den Beschwerdeführer in den Kosovo abzuschieben, war gescheitert, nachdem die Ausländerbehörde die Frist zu Ankündigung der Abschiebung nicht eingehalten und der Beschwerdeführer seine Erklärung, freiwillig auszureisen, widerrufen hatte.

3b. Angesichts der ungeklärten Rechtslage hinsichtlich der Auslegung des § 62 Abs. 2 S. 5 AufenthG und mit Rücksicht auf die Bedeutung des Richtervorbehalts für die Freiheitsentziehung hätte das OLG die Frage, wer vorliegend das Scheitern der Abschiebung des Beschwerdeführers zu vertreten hat, nicht offen lassen dürfen. (Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebung, Abschiebungsversuch, Sicherungshaft, Haftanordnung, Freiheitsentziehung, Richtervorbehalt, Scheitern der Abschiebung, missglückte Abschiebung, gescheiterter Abschiebungsversuch
Normen: GG Art. 104 Abs. 2, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 5, AufenthG § 62 Abs. 2 Nr. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

[...]

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist ( § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden ( § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Die Freiheit der Person ( Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 322>; 29, 312 316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 26>; 94, 166 198>; 96, 10 21>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 322>; 58, 208 220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 323>; 29, 183 195 f.>; 58, 208 220>).

Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerfGE 22, 311 317>). Mit Blick auf die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts sind alle an der freiheitsentziehenden Maßnahme beteiligten staatlichen Organe verpflichtet, ihr Vorgehen so zu gestalten, dass dieser als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239 248>; BVerfGK 7, 87 98>).

2. Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht gerecht. Die darin vorgenommene Überprüfung der Sicherungshaft des Beschwerdeführers verkennt Bedeutung und Tragweite des in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Richtervorbehalts für Freiheitsentziehungen.

Das Oberlandesgericht hat die Rechtmäßigkeit der nach missglücktem Abschiebungsversuch fortgesetzten Sicherungshaft einzig damit begründet, dass der Haftgrund nicht weggefallen sei, weil die Abschiebung ausweislich der Angaben der Ausländerbehörde im Verfahren vor dem Amtsgericht vor Ablauf des Jahres 2007 möglich gewesen wäre. Hingegen ist es auf den vom Beschwerdeführer gerügten "Verbrauch" der Haftanordnung und die daraus möglicherweise folgende Notwendigkeit einer erneuten richterlichen Anordnung für die Fortsetzung der Inhaftierung nicht eingegangen. Indem es diese Frage ausgeblendet und sich mit der vom Beschwerdeführer für seine Rechtsauffassung herangezogenen Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG nicht befasst hat, hat das Oberlandesgericht den ihm aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG zukommenden Auftrag verfehlt, zu ergründen, ob gegen eine freiheitsschützende Formvorschrift verstoßen worden ist.

§ 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG ordnet an, dass eine Haftanordnung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührt bleibt, wenn die Abschiebung aus Gründen scheitert, die der Ausländer zu vertreten hat. Die durch Art. 1 des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 ( BGBl 2007 I S. 1970) angefügte Regelung ist am 28. August 2007 in Kraft getreten. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll sie die Wirksamkeit der Anordnung der Sicherungshaft trotz Zweckverfehlung in den Fällen fortgelten lassen, in denen der Ausländer das Scheitern der Abschiebung und damit die Zweckverfehlung der Maßnahme selbst herbeigeführt habe, was etwa dann der Fall sei, wenn der Ausländer im Flugzeug randaliere und der Flug deshalb abgebrochen werden müsse (vgl. BTDrucks 16/5065, S. 188). Dem liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass die Haftanordnung ohne die ergänzende Bestimmung mit Beginn der Abschiebung ihre Wirksamkeit verliert.

Welche Bedeutung § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG in den Fällen zukommt, in denen die Abschiebung aus Gründen scheitert, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, ist bislang nicht geklärt. Der Wortlaut der Regelung lässt entsprechend dem Verständnis der Gesetzesbegründung den vom Beschwerdeführer gezogenen Umkehrschluss zu, dass die Haftanordnung in diesen Fällen nicht fortgelten soll. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung wird diese Auffassung von den Oberlandesgerichten Frankfurt und Hamm vertreten (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30. Januar 2009 - 20 W 154/08 -, FGPrax 2009, S. 188 189>; OLG Hamm, Beschluss vom 3. März 2009 - I-15 Wx 13/09 -, OLGR Hamm 2009, S. 639), während das Oberlandesgericht Düsseldorf die Frage zwar aufgeworfen, jedoch ausdrücklich offen gelassen hat ( OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Januar 2008 - I-3 Wx 15/08 -, FGPrax 2008, S. 89 90>). Im Schrifttum finden sich sowohl Befürworter (Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1264) als auch Gegner (Zeitler, HTK-AuslR/§ 62 AufenthG / zu Abs. 2 Satz 5 11/2008 Nr. 4) einer solchen Normauslegung.

Angesichts dieser ungeklärten Rechtslage durfte das Oberlandesgericht nicht allein auf das Vorliegen eines materiellen Haftgrundes abstellen und die Frage, wer das Scheitern der Abschiebung zu vertreten hat, dahinstehen lassen. Sollte die Auffassung des Beschwerdeführers im Ergebnis zutreffen, bedürfte die Fortsetzung der Sicherungshaft in den von § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG nicht erfassten Fällen wegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG einer erneuten richterlichen Entscheidung. Um der Bedeutung des Richtervorbehalts gerecht zu werden, hätte das Oberlandesgericht dieser Frage nachgehen und bejahendenfalls prüfen müssen, ob der Beschwerdeführer das Scheitern der Abschiebung zu vertreten hat.

3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts beruht auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Oberlandesgerichts auf und verweist die Sache an das Oberlandesgericht zurück. Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Grundrechtsverstöße kommt es nicht an. [...]