Eilrechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Italien. Vollständiger Ermessensausfall des BAMF bei der Ermessensprüfung hinsichtlich eines Selbsteintritts, wenn die besondere Schutzbedürftigkeit einer Familie mit Kleinkindern komplett ignoriert wird. Soweit darauf verwiesen wird, dass sie Zugang zum italienischen Gesundheitssystem haben, wird ignoriert, dass sie keine italienischen Papiere haben und die vorliegenden Erkenntnisquellen die Annahme, diese würden jedem Dublin-Rückkehrer ausgestellt, erheblich in Frage stellen.
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Unabhängig von der Frage, ob ein Drittstaat allgemein (noch) als sicherer Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz (GG) einzuordnen ist, ist die Überstellung in einen Drittstaat wegen dessen Zuständigkeit nicht zwingend. Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung stellt die Ausübung der Berechtigung zum Selbsteintritt in das Ermessen des Mitgliedstaates. Nach dem zugrunde liegenden Vorschlag der Europäischen Kommission für die Vorschrift soll ein Mitgliedstaat sich aus politischen, humanitären und praktischen Erwägungen bereit erklären können, einen bei ihm gestellten Asylantrag zu prüfen, auch wenn er nach den Kriterien der Verordnung nicht für die Prüfung zuständig ist (vgl. Wiedergabe in der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.12.2010, Az. 6 A 2717/09.A). Es liegen zwar keine humanitären Gründe i.S. Art. 15 der Dublin-II-Verordnung vor, da dieser allein an die Familienzusammenführung anknüpft. Daneben besteht aber die allgemeine Ermächtigung des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung, die die Berücksichtigung (sonstiger) humanitärer Gründe und politischer Gründe zulässt.
Die Situation der Antragsteller macht sie besonders schutzbedürftig. Es kann dabei dahinstehen, ob die vorgelegten Atteste ausreichende Anhaltspunkte dafür geben, dass es sich um dauerhafte Erkrankungen handelt, die die Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit und Organisation der allgemeinen Lebensführung einschränken. Jedenfalls haben die Antragsteller geschildert, dass es ihnen schon in den Jahren 2008 und 2010 nicht gelungen ist, in Italien eine ausreichende Lebensgrundlage zu finden. Ihre Angaben zu diesen Lebensverhältnissen entsprechen der Darstellung im Bericht von Bethke/Bender zur allgemeinen Situation vieler Dublin-Rückkehrer in Italien. Die Hintergründe und Quellen der entsprechenden Beschreibung werden in der der endgültigen Fassung des Berichts (veröffentlicht auf www.proasyl.de) in Fußnoten konkret belegt. Dass Ausländer, die als Flüchtlinge anerkannt sind oder subsidiären bzw. humanitären Schutz erhalten haben, in Italien aufgrund der Ausgestaltung des Sozialsystems dem Risiko ausgesetzt sind, unter menschenunwürdigen Bedingungen leben zu müssen, wird nunmehr auch in einem von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe herausgegebenen Bericht beschrieben (Asylum procedure and reception conditions in Italy, Mai 2011, zu finden über einen Link in www.fluechtlingshilfe.ch/asylrecht/eu-international/schengen-dublin-und-die-schweiz), Der Bericht enthält detaillierte Quellenangaben, deren Objektivität meist nicht in Frage zu stellen ist. Er beschreibt, dass es grundsätzlich Möglichkeiten der Unterbringung gibt, der Zugang mangels ausreichender Kapazitäten aber nicht gesichert sei. Nach der Anerkennung ginge die Verantwortung für Sozialleistungen auf die Kommunen über. Die Ausgestaltung sei von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Zuständig sei regelmäßig die Kommune, in der der Asylantrag erstmals gestellt worden sei, obwohl der Aufenthalt in ganz Italien erlaubt sei. Es wird beschrieben, dass in Rom ungefähr 7000 Personen mit Schutzstatus leben, die meisten ohne Unterkunft. Vor dem Hintergrund der beiden Berichte ist die Darstellung der Antragsteller zu ihren Lebensbedingungen in Italien schlüssig. Es ist auch nicht unglaubhaft, dass die Antragsteller bei der Rückkehr aus Norwegen keine neuen Papiere erhalten haben, was allein schon den Zugang zu Sozialleistungen und Gesundheitsfürsorge ausschließt.
Soweit in der Antragserwiderung darauf verwiesen wird, dass die Ansicht des Bundesamts zum Drittstaat Italien bekannt sei, wird offenbar auf die Gegendarstellung zum Bericht von Bethke/Bender in einem allgemeinen Kompendium, das unter Einschaltung einer Liaisonbeamtin erstellt wurde und hier in einem anderen Verfahren vorgelegt wurde, Bezug genommen. Dieses geht schon nicht auf die weiteren Erkenntnisse aus dem neueren Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ein. Auch sonst ist die allgemeine Darstellung, nach der alle Dublin-Rückkehrer von der zuständigen Questura eine Unterkunft zugeteilt bekommen und sich etliche Personen nur nicht an die zugewiesene Adresse begeben (vgl. Ziff. 6.4), nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragsteller in Frage zu stellen. Es ist dieser Darstellung insbesondere nicht zu entnehmen, inwieweit die entsprechenden Ausführungen auf Recherche konkreter Rechtsvorschriften, die jedenfalls nicht zitiert werden, und tatsächlicher Verwaltungspraxis durch die Liaisonbeamtin oder nur auf allgemeinen Auskünften beruhen. Auch sonst wurden nur allgemein theoretisch mögliche Sozialleistungen beschrieben; offen bleibt, in welchem Umfang theoretisch bestehende Rechte von Ausländern in Italien tatsächlich praktisch durchgesetzt werden können.
Im Hinblick auf die für die Antragsteller schon in den Jahren 2008 und 2010 in Italien nicht gegebene Lebensgrundlage drängt sich auf, dass sie nach der Geburt eines weiteren betreuungsbedürftigen Babys sowie der Verschärfung der Situation in Italien aufgrund des aktuellen Flüchtlingsstroms aus Nordafrika bei einer erneuten Rückkehr erst recht keine Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten finden werden. Es besteht daher die Gefahr, dass die Eltern die ausreichende Versorgung der Kleinkinder unter den oben beschriebenen Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Italien nicht sicherstellen können und dass Kinder und Eltern unmenschlichen Lebensbedingungen ausgesetzt werden. Dies ist ein humanitärer Grund. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die durch das im Rang über dem Grundgesetz stehende Europarecht eröffnete Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch Art. 16a Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz und/oder § 34a AsylVfG ausgeschlossen wäre. Dies wird offenbar auch von der Antragsgegnerin nicht so gesehen, wie die Praxis des Absehens von Überstellungen bei besonders schutzbedürftigen Personen in den Drittstaat Malta zeigt, die ähnlich auch beim Drittstaat Griechenland bereits vor der allgemeinen Aussetzung praktiziert wurde.
Streitig ist zwar, ob der Ermessensausübung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung auch ein entsprechender subjektiver Anspruch der Asylantragsteller gegenübersteht oder ob die Verordnung allein der internen Verteilung der Lasten und Verantwortung unter den Mitgliedstaaten dient (vgl. Darstellung des Streitstands in der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.2.2010, Az.6 A 2717/9.A). Jedenfalls beim Vorliegen von Gründen, bei denen sich die Gefährdung von Grundrechten geradezu aufdrängt, liegt das Bestehen eines subjektiven Anspruchs nahe. Die Frage kann aber nicht in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geklärt werden, zumal insoweit ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof bereits anhängig ist (vgl. Vorlagebeschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.12.2010, Az. 6 A 2717/09.A und Veröffentlichung des Vorabentscheidungsersuchens im Amtsblatt der Europäischen Union vom 26.3.2011, Rechtssache C-4/11). Wegen der betroffenen Rechtsgüter ist daher im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zugunsten der Antragsteller vom Bestehen eines entsprechenden Anspruchs auszugehen.
im Fall der Antragsteller ist bisher in der im Bescheidsentwurf und dem Aktenvermerk vom 30.6.2011 (der im Übrigen im von der Antragsgegnerin vorgelegten Behördenvorgang nicht enthalten ist) dokumentierten Ermessensausübung die besondere Situation der Antragsteller nicht berücksichtigt worden. Soweit darauf verwiesen wird, dass die Antragsteller Zugang zum Gesundheitssystem haben, wird ignoriert, dass diese keine italienischen Papiere haben und die vorliegenden Erkenntnisquellen die Annahme, diese würden jedem Dublin-Rückkehrer ausgestellt, erheblich in Frage stellen. Selbst wenn man unterstellt, dass die Augenerkrankung den Antragsteller zu 1 in seinen Erwerbsmöglichkeiten nicht einschränkt - was trotz fehlender entsprechender Aussage im vorgelegten Attest wenig wahrscheinlich ist - und die Erkrankung der Antragstellerin zwischenzeitlich geheilt ist, dann fehlt außerdem jegliche Befassung mit dem Problem der Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten aufgrund der beiden betreuungsbedürftigen Kleinkinder einerseits und deren besonderen Bedarf an die Unterkunft und Verpflegung andererseits. Angesichts der Vielzahl von in den letzten Monaten ergangenen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, in denen die Überstellung nach Italien wegen der dortigen (allgemeinen) sozialen Situation von Flüchtlingen ausgesetzt wurde, liegt ein vollständiger Ermessensausfall vor, wenn die besondere Schutzbedürftigkeit einer Familie mit Kleinkindern komplett ignoriert wird.
Die fehlende ordnungsgemäße Ermessensausübung rechtfertigt eine Ausnahme von Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG und § 34a Abs. 2 AsylVfG. Die vom Bundesamt derzeit praktizierte Verwaltungsübung, durch Erlass von gleichförmigen Kurzbescheiden sowohl die Lösung der vom Verfassungsgeber nicht vorhergesehenen rechtlichen und politischen Problematik der notwendigen Voraussetzungen für die Einordnung eines Staates als sicherer Drittstaat als auch die Prüfung von Einzelfällen vollständig auf die Verwaltungsgerichte zu verlagern, widerspricht massiv dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Dieser ist wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips und bei verfassungskonformer Auslegung der Vorschriften heranzuziehen. Der Antragsgegnerin steht anders als den Gerichten für die Aufklärung der tatsächlichen Ausgangsbedingungen in Italien ein eigener Behördenapparat, u.a. das Auswärtige Amt, zur Verfügung und ihr ist auch die Zuhilfenahme von Institutionen der Europäischen Gemeinschaft oder der Vereinten Nationen möglich.
Mangels fundierter Entscheidung der Exekutive, deren Rechtmäßigkeit im gerichtlichen Verfahren überprüft werden könnte, ist über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Diese geht hier zugunsten der Antragsteller aus. Bliebe den Antragstellern der begehrte Erlass einer einstweiligen Anordnung versagt, hätten sie aber in der Hauptsache Erfolg, könnten möglicherweise bereits wegen der Rücküberstellung eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Nachteile der Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz bei späterem Misserfolg in der Hauptsache wiegen dagegen weniger schwer. Insbesondere beginnt die sechsmonatige Frist für die Überstellung nach § 20 Abs. 2 Dublin-II-VO erst ab einer negativen gerichtlichen Hauptsacheentscheidung zu laufen (vgl. EuGH, Entsch. vom 29.1.2009, Az. C-19/08), so dass die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die spätere Rücküberstellung nicht ausschließt. [...]