VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.07.2010 - 11 S 1412/10 - asyl.net: M18879
https://www.asyl.net/rsdb/M18879
Leitsatz:

Kein Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis wegen mehrerer längerer Türkeiaufenthalte. Da die Tochter und die Enkel der Antragstellerin in der Türkei leben, ist es nur allzu verständlich, dass sie sich auch dort immer wieder längere Zeit aufhalten will. Wie dies bei "Gastarbeitern der ersten Generation" üblich und selbstredend rechtlich zulässig ist, lebt wohl auch die Antragstellerin seit dem Familiennachzug vor rund 20 Jahren zu ihrem seit 1973 in Deutschland arbeitenden Ehemann in zwei Welten; seit 1992 war sie immer wieder für mehrmonatige Aufenthalte in der Türkei. Es bestehen daher keine Anhaltspunkte dafür, dass sie auf Dauer aus Deutschland ausgereist sein könnte. Der Senat hält es für ausgesprochen befremdlich, dass die Antragsgegnerin nicht zumindest erst einmal die Entscheidung des ausländerrechtlichen Verfahrens abgewartet, sondern sogleich Strafanzeige gegen die Antragstellerin erstattet hat.

Schlagwörter: Erlöschen, Aufenthaltserlaubnis, vorübergehender Grund, Türkei, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Straftat,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, AufenthG § 51 Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 51 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 07.06.2010, mit dem der Antrag abgelehnt wurde, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 08.04.2010 gegen die Ablehnung der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis (Nr. 2) und die Androhung der Abschiebung in die Türkei (Nr. 4) im Bescheid der Antragsgegnerin vom 24.03.2010 anzuordnen, ist fristgerecht eingelegt (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründet worden (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) und auch sonst zulässig. Die Beschwerde hat in vollem Umfang Erfolg. Die von der Antragstellerin vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung das Beschwerdeverfahren grundsätzlich beschränkt ist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), gebieten eine andere Entscheidung.

Das Verwaltungsgericht hat den bezüglich der Verfügungen Nr. 2 und Nr. 4 im angefochtenen Bescheids nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaften und auch sonst zulässigen Antrag zu Unrecht abgelehnt. Bei der im Eilverfahren angezeigten summarischen Prüfung kann die Rechtmäßigkeit dieser Verfügungen nicht erkannt werden. Der Senat ist vielmehr der Auffassung, dass nach den objektiven Gesamtumständen des Einzelfalles (vgl. Senatsurteil vom 21.11.2001 - 11 S 1822/01 - InfAuslR 2002, 234) hier ganz Überwiegendes dafür spricht, dass diese Verfügungen rechtswidrig sind, weil die Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin nicht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen war und aller Voraussicht nach ein Anspruch auf deren Verlängerung besteht. Aus diesen Gründen überwiegt in der vorliegenden Konstellation das Aufschubinteresse der Antragstellerin das entgegenstehende öffentliche Interesse an der Abschiebung der Antragstellerin vor Eintritt der Bestandskraft des angefochtenen Bescheids.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist der Senat der Ansicht, dass die Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin hier nicht dadurch gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen ist, dass sie sich im Zeitraum 04.04.2008 bis 11.12.2009 drei Mal für längere Zeit in ihrer Wohnung in der Türkei aufgehalten hat. Für diese Türkeiaufenthalte hat sie zum einen plausible Gründe überzeugend dargelegt (Erholung des erkrankten Ehemannes, Hochzeit des Sohnes Murat). Zum anderen hat die Antragstellerin ebenso plausibel und überzeugend vorgetragen, dass sie aufgrund ihrer persönlichen Situation keinesfalls beabsichtigte, dauerhaft ihren Lebensmittelpunkt in die Türkei zu verlegen. Hiergegen sprechen im Übrigen schon die objektiven Umstände, dass die Antragstellerin ihre Wohnung in Stuttgart nicht aufgegeben hat und in naher Umgebung zu dieser drei ihrer vier Kinder sowie vier Enkelkinder leben, mit denen sie offenbar eng verbunden ist. Da in der Türkei ebenfalls in unmittelbarer Nähe zur dortigen Wohnung eine Tochter mit zwei weiteren Enkelkindern lebt, ist es nur allzu verständlich, dass sich die Antragstellerin auch dort immer wieder längere Zeit (vorübergehend) aufhalten will. Wie dies bei "Gastarbeitern der ersten Generation" üblich und selbstredend rechtlich zulässig ist, lebt wohl auch die Antragstellerin seit dem Familiennachzug vor rund 20 Jahren zu ihrem seit 1973 in Deutschland arbeitenden Ehemann gewissermaßen in zwei Welten. Ausweislich der in der Verwaltungsakte enthaltenen Reisedaten ist sie seit 1992 immer wieder auch für mehrmonatige Aufenthalte in der Türkei gewesen. Die Antragstellerin hält sowohl in der Türkei als auch in Deutschland Wohnungseigentum. Ihr Ehemann, mit dem sie seit 1960 verheiratet ist und in ehelicher Lebensgemeinschaft lebt, ist nunmehr seit 2008 berentet und im Besitz einer Bescheinigung nach § 51 Abs. 2 AufenthG. Der Großteil ihrer engsten Familie lebt in Stuttgart, ein Teil der Familie aber lebt in der Türkei. Nach den maßgeblichen objektiven Gesamtumständen des Einzelfalls sprechen deshalb keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin im Zeitraum 04.04.2008 bis 11.12.2009 aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde, insbesondere auf Dauer, aus Deutschland ausgereist sein könnte. Bei der Auslegung auch von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG müssen die verfassungs- und europarechtlichen Schutzwirkungen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK mit berücksichtigt werden; in einer Situation wie derjenigen der Antragstellerin, in der auch im Hinblick auf die besondere Rechtstellung des Ehemanns nach § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG längere Auslandsaufenthalte nicht ungewöhnlich sind, wenn auch die Antragstellerin die Vorgaben des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG grundsätzlich zu beachten hat, ist deshalb der berechtigte Belang der Aufrechterhaltung und Pflege der familiären Beziehungen auch über die räumliche Distanz hinweg mit zu berücksichtigen.

Nach alledem hält der Senat es im Übrigen für ausgesprochen befremdlich, dass die Antragsgegnerin nicht zumindest erst einmal die ausländerrechtliche Entscheidung des vorliegenden Falles abgewartet, sondern am 29.01.2010 sogleich Strafanzeige gegen die Antragstellerin erstattet hat. [...]