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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.07.2011 - 12 S 41.11 - asyl.net: M18886
https://www.asyl.net/rsdb/M18886
Leitsatz:

Abschiebungsschutz für ausländischen Ehemann einer Deutschen bis acht Wochen nach der Entbindung. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners greifen aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses nicht erst dann, wenn die eine Risikoschwangerschaft begründenden Umstände zu einer wahrscheinlichen Gefährdung der Leibesfrucht führen. Eine Risikoschwangerschaft liegt nach allgemeinem Verständnis bereits bei Vorliegen von risikoerhöhenden Faktoren und nicht erst dann vor, wenn eine akute Gefahr für die Mutter und das ungeborene Leben besteht. Soweit der Antragsgegner darauf verweist, dass das dritte Kind in Kenntnis der Ausweisung gezeugt worden sei, ist dies mit Blick auf Art. 6 GG nicht entscheidungserheblich.

Schlagwörter: Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Schwangerschaft, Risikoschwangerschaft, deutscher Ehegatte, Schutz von Ehe und Familie, Depression, Duldung
Normen: VwGO § 123, MuSchG § 6 Abs. 1, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Es kann dahinstehen, ob die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass mit Blick auf die fünf und sieben Jahre alten Töchter des Antragstellers eine (vorübergehende) Trennung zumutbar ist, den sich aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird. Maßgeblich ist, dass der Antragsteller sich im Beschwerdeverfahren mit Erfolg auf die nach Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung veränderte Sachlage berufen kann, wonach seiner Ehefrau eine Risikoschwangerschaft bescheinigt worden ist und für Ende Dezember 2011 die Geburt seines dritten Kindes erwartet wird.

Die Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers ist hinsichtlich des ungeborenen Kindes seiner deutschen Ehefrau geeignet, einen Umstand darzustellen, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und der Pflicht des Staates, sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG schützend und fördernd vor den nasciturus zu stellen, aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses entfaltet (Beschluss des Senats vom 30. März 2009 – OVG 12 S 28.09 -, juris, Rn. 5). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben, da der Ehefrau des Antragstellers eine Risikoschwangerschaft bescheinigt worden ist. Dies wird von dem Antragsgegner nicht in Frage gestellt. Das Gericht hat auch keine Anhaltspunkte, an der Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen fachärztlichen Angaben, wie sie sich aus dem Mutterpass sowie der ärztlichen Stellungnahme vom 24. Juni 2011 ergeben, zu zweifeln. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners greifen aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses nicht erst dann, wenn die eine Risikoschwangerschaft begründenden Umstände zu einer wahrscheinlichen Gefährdung der Leibesfrucht führen. Eine Risikoschwangerschaft liegt nach allgemeinem Verständnis bereits bei Vorliegen von risikoerhöhenden Faktoren und nicht erst dann vor, wenn eine akute Gefahr für die Mutter und das ungeborene Leben besteht. Im Übrigen übersieht der Antragsgegner in diesem Zusammenhang, dass die Ehefrau des Antragstellers ausweislich der Angaben im Mutterpass bereits zwei Fehlgeburten erlitten hat und am 3. Mai 2011 ein Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes zum Schutz der erwerbstätigen Mutter - Mutterschutzgesetz (MuSchG) - ausgesprochen worden ist, um das Leben der Mutter und des Kindes nicht zu gefährden. Soweit der Antragsgegner schließlich darauf hinweist, dass das dritte Kind in Kenntnis der Ausweisung gezeugt worden sei, ist dies mit Blick auf Art. 6 GG nicht entscheidungserheblich.

Eine (vorübergehende) Ausreise des Antragstellers zur Durchführung eines Befristungsverfahrens ist derzeit auch deshalb nicht zumutbar, weil nach den im vorliegenden Einzelfall gegebenen besonderen tatsächlichen Verhältnissen die Anwesenheit des Antragstellers in der Familie erforderlich sein dürfte. Hierbei ist zu Gunsten des Antragstellers in den Blick zu nehmen, dass seine Ehefrau aufgrund der Risikoschwangerschaft und der behandlungsbedürftigen Depression derzeit nur eingeschränkt zur Versorgung und Betreuung der beiden minderjährigen, fünf und sieben Jahre alten Töchter zur Verfügung steht. In dieser Situation liegt es nahe, dass die Anwesenheit des Antragstellers für die Ehefrau und die Kinder eine wesentliche Stütze bedeutet. Hierfür spricht auch das der Ehefrau des Antragstellers erteilte Beschäftigungsverbot. Angesichts der geänderten Sachlage im Hinblick auf den für Ende Dezember 2011 errechneten Geburtstermin erscheint es zudem ausgeschlossen, dass der Antragsteller eine kurzfristige Wiedereinreise noch während der Risikoschwangerschaft und vor der Geburt realisieren könnte.

Dies zu Grunde gelegt sprechen die aktuellen, von dem Verwaltungsgericht noch nicht berücksichtigten, familiären Gegebenheiten und die unstreitige Annahme, dass zwischen dem Antragsteller, seiner Ehefrau und den beiden minderjährigen Kindern eine schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft vorliegt, dafür, derzeit von einer zwangsweisen Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers abzusehen. Unter den gegebenen Umständen kann es der Familie des Antragstellers auch nicht zugemutet werden, die familiäre Lebensgemeinschaft in der Türkei weiter zu führen. Weder der Ehefrau noch den beiden Töchtern des Antragstellers, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, dürfte gegen ihren Willen das Leben in einem anderen Staat zuzumuten sein. Entsprechendes gilt mit Blick auf die bei der Ehefrau des Antragstellers bestehende Risikoschwangerschaft. Vor diesem Hintergrund drängt die Pflicht des Staates, die Familie des Antragstellers und die Leibesfrucht zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 – NVwZ 2006, 682).

Der Abschiebungsschutz ist in Anlehnung an § 6 Abs. 1 MuSchG auf den Zeitraum von acht Wochen nach dem Ende der Schwangerschaft der Ehefrau des Antragstellers zu begrenzen (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 26. Februar 2010 – 2 B 511/09 –, juris). Soweit der Antragsteller darüber hinaus Abschiebungsschutz bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens (VG 35 K 179.10; OVG 12 B 19.11) begehrt, steht ihm mangels Dringlichkeit der Sache derzeit ein Anordnungsgrund nicht zur Seite. Im Übrigen lässt sich die zukünftige familiäre Situation des Antragstellers acht Wochen nach der Geburt des Kindes zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beurteilen. [...]