VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 16.06.2011 - 2 K 1027/10.WI.A - asyl.net: M18891
https://www.asyl.net/rsdb/M18891
Leitsatz:

Kein Widerruf wegen wiederholten Aufenthalts im Herkunftsland. Ein Verzicht auf den Schutz der Bundesrepublik liegt in den Reisen aus familiären Gründen (Krankheit bzw. Tod der Schwiegermutter) nicht. Zudem hat die Klägerin angegeben, dass sie vor den Reisen jeweils die Ausländerbehörde gefragt hat, ob eine solche Reise möglich wäre, was ihr gegenüber bejaht wurde.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Abschiebungsverbot, Rückkehr, Schutzunterstellung, Pakistan, MQM,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützt. In § 73 Abs. 1 AsylVfG ist der Widerruf der Asylanerkennung bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geregelt, § 73 Abs. 3 regelt den Widerruf der zunächst zuerkannten humanitären Abschiebungshindernisse im Sinne des § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG.

Der Widerruf einer Asylanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nur möglich, wenn durch eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Anerkennungsvoraussetzungen weggefallen sind. Dies gilt auch, wenn die Anerkennung oder die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG von Anfang rechtswidrig gewesen sein sollte. Nach den Vorschriften des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG seien die Asyl- oder Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zusprechenden Entscheidungen und gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG seien die Zuerkennung von humanitären Abschiebungshindernissen unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, also insbesondere dann, wenn die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr bestehe. Dies sei nur dann der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich entscheidungserheblich geändert hätten. Ändere sich hingegen im nachhinein lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, so rechtfertige dies den Widerruf nicht, selbst wenn die andere Beurteilung auf erst nachträglich bekannt gewordenen oder neu erstellten Erkenntnissen beruhe. Das § 73 AsylVfG den Widerruf nur bei einer Änderung der Sachlage, nicht aber bei der bloßen Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung vorschreibe, lege schon der Wortlaut der Vorschrift nahe, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht mehr vorliege. Es sei vor allem ein Widerruf gegeben, wenn in dem Verfolgerland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten sei, so dass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten sei. § 73 AsylVfG wolle die Pflicht zum Widerruf für die Fälle festschreiben, in denen sich die Sachlage - insbesondere im Verfolgerstaat - so geändert habe, dass nun keine politische Verfolgung mehr zu befürchten sei (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.09.2002 - Az.: 9 C 12.00, NVwZ 2001, Seite 335 ff.). So auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.06.2011 - zitiert nach der Frankfurter Rundschau vom 03.06.2011 -, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, die Anerkennung als politischer Flüchtling dürfe erst zurückgenommen werden, wenn in dem Heimatland des Betroffenen die Gründe für die Flucht dauerhaft beseitigt seien. Auch müsse für ein Aberkennen des Flüchtlingsstatus für das Land eine "Prognose stabiler Verhältnisse auf absehbare Zeit" vorliegen. Das habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nachzuweisen. Entsprechendes muss gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG auch für die Zuerkennung humanitärer Abschiebungshindernisse gelten.

Die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid vom 23.09.2010 im Wesentlichen angeführt, dass durch die Aufenthalte in Pakistan die Kläger auf den Schutz der Bundesrepublik Deutschland verzichtet hätten, zumindest hätten sie damit mangelnde bzw. entfallene Verfolgungsfurcht durch diese Rückkehr dokumentiert. Zudem sei der Ehemann bzw. Vater der Kläger sein Asylbegehren rechtskräftig abgelehnt worden. Die Kläger haben im Rahmen der Anhörung am 11.11.1998 darüber hinausgehend aber auch angegeben, das ein jüngerer Bruder des Ehemanns bzw. Vaters sich der MQM angeschlossen habe, dieser sei nach seiner Verhaftung geflohen und die Polizei habe immer wieder nach dessen Aufenthalt gefragt.

Hinsichtlich der Aufenthalte in Pakistan, wobei die Kläger angegeben haben, nicht zweimal - so die Ausführungen der Beklagten -, sondern dreimal in Pakistan gewesen zu sein, gilt nach dem Vortrag der Kläger, der insoweit im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 15.06.2011 wiederholt worden ist und von dessen Glaubwürdigkeit das Gericht überzeugt ist, hat es sich bei diesen Aufenthalten in Pakistan nicht um solche Aufenthalte gehandelt, die einem Urlaub oder der Vorbereitung einer Rückkehr nach Pakistan gedient haben, die Aufenthalte waren vielmehr jeweils familiär bedingt gewesen. Die Schwiegermutter bzw. die Mutter der Klägerin war erkrankt und habe insoweit den Wunsch geäußert, das Kind bzw. die Schwiegertochter sowie die Enkelkinder noch einmal sehen zu wollen. Der dritte Aufenthalt war bedingt durch den Tod der Schwiegermutter der Klägerin zu 1. bzw. der Großmutter der Kläger zu 2. bis 4. Ein Verzicht auf den Schutz der Bundesrepublik Deutschland liegt nach Auffassung des Gerichts in diesen Reisen und Aufenthalten nicht. Zudem hat die Klägerin zu 1. angegeben, dass sie vor den Reisen jeweils die Ausländerbehörde gefragt hat, ob eine solche Reise möglich wäre, was ihr gegenüber bejaht worden ist. Ein Verzicht auf einen Schutz bzw. das Suchen des Schutzes des Heimatstaates kann in dem Verhalten der Kläger nicht gesehen werden. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich um - zumindest für die Kläger - zwingend familiäre Gründe, die den Aufenthalt erforderlich gemacht haben. Sie haben nicht an einem Ort gewohnt, sondern haben den Wohnsitz bei Bekannten und Freunden gewechselt, um zu vermeiden, dass bekannt geworden ist, dass sie sich in Pakistan aufhalten. Nach den Angaben der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 15.06.2011 war es vielmehr so, dass sie sozusagen eingesperrt gewesen sind und nur zu Besuchszwecken die jeweiligen Wohnungen verlassen haben.

Das Erleben der Kinder, d.h. der Kläger zu 2. bis 4. ist durch eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie jeweils unter dem 01.11.2010 dahingehend berichtet worden, das die Mitteilung der beabsichtigten Einleitung eines Widerrufsverfahrens im Mai 2010 zu einer ständigen Angst vor einer plötzlichen Abschiebung geführt habe. Die Klägerin zu 2. habe Schlafstörungen und werde nachts oft wach. Der Besuch in Pakistan sei als Alptraum erlebt worden. Aus Ängsten, dass die Familie auffallen könne oder sich sonst irgendwie öffentlich machen würde, seien sie mehr oder weniger die ganze Zeit "eingesperrt" gewesen. Die Verwandten hätten in großer Sorge gelebt, dass ihre "Tarnung" auffliegen könne. Bei dem Besuch in Pakistan im April 2009, der anlässlich der Beerdigung der Großmutter erfolgt sei, hätten sie bürgerkriegsähnliche Zustände erlebt, die zu großer Angst geführt hätten. Die Klägerin zu 2. sei sichtlich belastet und unglücklich, trotzdem sei sie um Beherrschung bemüht und unterdrücke die aufsteigenden Tränen. Es bestünden erhebliche Ängste und Schlafstörungen, Hypersensitivität und Konzentrationsstörungen. Hinsichtlich des Klägers zu 3. ist ausgeführt, dass durch die Geschehnisse bei dem Besuch in Pakistan 2009 es zu erheblichen Alpträumen gekommen wäre, die sich gebessert hätten, als sie wieder nach Deutschland gekommen seien. Trotzdem habe er immer wieder Konzentrationsprobleme in der Schule gehabt und unter diversen Ängsten gelitten. Nach Erhalt des Schreibens der Beklagten vom März 2010 hätte er Angst gehabt, wieder nach Pakistan gehen zu müssen und die bürgerkriegsähnlichen Zustände erneut zu erleben. Der Kläger zu 3. habe von erheblichen Ängsten, Sorgen und Konzentrationsstörungen berichtet und wirke sehr belastet, er sei jedoch um Haltung bemüht. Er sehe Deutschland als seine Heimat an und fühle sich als Deutscher. Diese Sicherheit habe ihm bisher geholfen, die dramatischen und traumatisierenden Erlebnisse bei Familienbesuchen in Pakistan gut zu verarbeiten. Die Möglichkeit ausgewiesen zu werden bedeute für ihn eine existenzielle Bedrohung, die ihn in seinen seelischen Grundfesten erschüttere und zu erheblichen psychischen Leidensdruck geführt habe und die schule Belastbarkeit herabgesetzt habe.

Hinsichtlich der Klägerin zu 4. ist ausgeführt, dass sie sich sehr häufig Sorgen mache, wie es überhaupt weitergehen solle und unter der Traurigkeit leide. Der Aufenthalt in Pakistan im Frühjahr 2009 habe zu einer existenziellen Verunsicherung der Klägerin zu 4. geführt. Umso dramatischer sei für das Kind die Aussicht möglicherweise ihre Heimat Deutschland zu verlieren und in ein Land gehen zu müssen, dessen Sprache sie nicht spreche, in dem sie sich nicht heimisch fühle, dessen Kultur- und Lebensgewohnheit ihr fremd seien und mit dem sie nur Angst und Schrecken verbinde. Bei Abschiebung der Kinder müsse die Entwicklung einer schwerwiegenden psychischen Störung befürchtet werden.

Aus diesem fachärztlichen Befundberichten ergibt sich nicht nur eine hohe Verängstigung und Traumatisierung durch die Einleitung eines Widerrufsverfahrens, sondern massive Verängstigung und Traumatisierung durch die Erlebnisse in Pakistan selbst. Bei dieser Situation wäre zumindest bei dem Klägern zu 2. bis 4. an das Vorliegen eines humanitären Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu denken. Aus den wiedergegebenen Schilderungen der Kläger zu 2. bis 4. ergibt sich darüber hinaus auch, dass die Aufenthalte in Pakistan kein Verzicht auf den Schutz der Bundesrepublik Deutschland ist und das Aufsuchen eines Schutzes in Pakistan dargestellt hat. Die Aufenthalte in Pakistan waren vielmehr durch die Aufenthalte der Eltern bedingt und hatten einen familiären Hintergrund.

Dass sich die Bedrohungssituation im Zusammenhang mit der Partei MQM in Pakistan nicht "aufgelöst" hat, ergibt sich auch durch die verschiedenen Presseartikel, die der Prozessbevollmächtigte der Kläger vorgelegt hat, so zum Beispiel - dpa 19.10.2010 -, dass das Gründungsmitglied dieser Partei im Exil in der britischen Hauptstadt ermordet worden ist. [..]