VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 07.12.2010 - 22 K 4240/09 - asyl.net: M18894
https://www.asyl.net/rsdb/M18894
Leitsatz:

Kein Aufenthaltsrecht mehr in Deutschland für türkischen Staatsangehörigen, der mehr als 30 Jahre in Deutschland lebte, da er freiwillig in die Türkei ausgereist ist. Die Aufenthaltsrechte nach ARB 1/80 sind wegen der 18-monatigen Abwesenheit vom Bundesgebiet erloschen; kein Recht auf Wiederkehr nach § 37 AufenthG, da der entsprechende Antrag vor Vollendung des 21. Lebensjahres zu stellen ist; kein Aufenthaltsrecht aus Art. 8 EMRK (siehe OVG NRW, Beschluss vom 30.3.2010, 18 B 111/10, M18337).

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, türkische Staatsangehörige, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Familienangehörige, Erlöschen, freiwillige Ausreise, selbständige Erwerbstätigkeit, Stillhalteklausel, faktischer Inländer, Verwurzelung, Verhältnismäßigkeit, Zumutbarkeit, Achtung des Privatlebens,
Normen: AufenthG § 4 Abs. 5 S. 2, AufenthG § 71 Abs. 2, ARB 1/80 Art. 7 S. 1, ARB 1/80 Art. 14, ZP Art. 59, RL 2004/38/EG Art. 16 Abs. 4, RL 2004/38/EG Art. 20 Abs. 3, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 21, ZP Art. 41 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Die streitgegenständliche Ablehnung des Antrages des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist rechtmäßig.

Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob der Beklagte nach der freiwilligen Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet für den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch passivlegitimiert ist. Gemäß § 71 Abs. 2 AufenthG dürfte allein die vom Auswärtigen Amt ermächtigte Auslandsvertretung für eine Entscheidung über das Recht des derzeit in der Türkei lebenden Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet sachlich zuständig sein. Auf eine eventuell erforderliche Änderung des Klagegegners hinsichtlich des Verpflichtungsbegehrens hat das Gericht jedoch nicht hingewirkt, da ein Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder auf Neubescheidung seines Antrages nicht besteht.

Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis: Dies gilt sowohl für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG auf Grund eines Aufenthaltsrechts aus dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei (a.) als auch für eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der selbständigen Erwerbstätigkeit nach § 21 AufenthG (b.), eine Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG (c.) und eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (d.).

a. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist einem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei aufenthaltsberechtigten Ausländer, auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Dem Kläger steht ein solches Aufenthaltsrecht jedoch nicht zu.

Das Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, das der Kläger während seines Aufenthalts im Bundesgebiet nach seiner Einreise im Wege des Familiennachzugs zu seinen türkischen Eltern im August 1971 erworben haben dürfte, ist wieder erloschen.

Dieses Aufenthaltsrecht wurde zwar nicht dadurch beendet, dass der Kläger in der Folgezeit über längere Zeiträume keine Beschäftigung ausübte bzw. zeitweise selbständig erwerbstätig war. Denn das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besteht unabhängig von einer Beschäftigung (vgl. EuGH, Urteil vom 16.3.2000, Rs C-329/97 – "Ergat" –, InfAuslR 2000, 217 [220]; Urteil vom 11.11.2004, Rs C-467/02 – "Cetinkaya" –, NVwZ 2005, 198 [199]; vgl. zur Unschädlichkeit einer selbständigen Erwerbstätigkeit: BVerwG, Urteil vom 9. August 2007 – 1 C 47.06 , InfAuslR 2007, 431).

Das Aufenthaltsrecht des Klägers aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ist jedoch durch dessen Abwesenheit vom Bundesgebiet in der Zeit ab etwa Juli 2007 bis zum 5. Februar 2009 erloschen. Ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erlischt nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nur dann, wenn es entweder gemäß Art. 14 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt wurde oder der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (vgl. EuGH, Urteil vom 16.3.2000, Rs C-329/97 – "Ergat" –, InfAuslR 2000, 217 [220]; Urteil vom 11.11.2004, Rs C-467/02 – "Cetinkaya" –, NVwZ 2005, 198 [199]; Urteil vom 7.7.2005, Rs C373/03 "Aydinli" –, DVBl 2005, 1256 [1257]; Urteil vom 16.2.2006, Rs C-502/04 – "Torun" –, NVwZ 2006, 556 [557]; Urteil vom 18.7.2007, Rs C-325/05 – "Derin" –, InfAuslR 2007, 326 [328]; Urteil vom 25.9.2008, Rs C-453/07 – "Er" –, InfAuslR 2008, 423; Urteil vom 18.12.2008, Rs C-337/07 "Altun" , NVwZ 2009, 235 [238]; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6/08 , juris).

Vorliegend greift der zuletzt genannte Erlöschensgrund ein. Die Voraussetzungen des Erlöschens sind nach dem Ziel und Zweck des Art. 7 ARB 1/80 zu bestimmen. Für die aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleiteten Rechte gilt, dass sie sich nach ihrer Entstehung aus der Abhängigkeit von der beschäftigungsbezogenen Rechtsstellung des Stammberechtigten lösen und der allgemeinen Integration der Familienangehörigen im Mitgliedstaat zu dienen bestimmt sind (BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6/08 , m.w.N., juris; BayVGH, Beschluss vom 15. Oktober 2009 19 Cs 09.2194 , juris).

Zudem wirken auf die richterrechtliche Ausformung der assoziationsrechtlichen Stellung und ihrer Verlustgründe die für Unionsbürger geltenden Regelungen als Orientierungsrahmen ein (BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6/08 , m.w.N., juris; BayVGH, Beschluss vom 15. Oktober 2009 19 Cs 09.2194 , juris).

Auf türkische Staatsangehörige, die über den Rechtsstatus des ARB 1/80 verfügen, sind die Rechte von Unionsbürgern "soweit wie möglich" zu übertragen (vgl. EuGH, Urteil vom 10.2.2000, Rs C- 340/97 – "Nazli" –, NVwZ 2000, 1029 [1031] m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 3.8.2004 – 1 C 29/02 –, NVwZ 2005, 224 [225]; BayVGH, Beschluss vom 15. Oktober 2009 19 Cs 09.2194 , juris). Der Vergleich der Rechtsstellung von Familienangehörigen von türkischen Arbeitnehmern auf der einen und Unionsbürgern auf der anderen Seite ist im Wege einer Gesamtbetrachtung durchzuführen. Hierbei ist auch das in Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen (BGBl. 1972 II S. 385) ZP geregelte Besserstellungsverbot zu beachten. Danach darf der Türkei (hier den türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen) im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander einräumen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6/08 , juris).

Bei einem Unionsbürger oder seinen Familienangehörigen, die ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben, führt gemäß Art. 16 Abs. 4, 20 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat nur dann zu einem Verlust des Aufenthaltsrechtes, wenn diese zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitet.

Für eine Gleichstellung eines nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 Aufenthaltsberechtigten mit einem Daueraufenthaltsberechtigten im Sinne des Art. 16 Abs. 4 der Unionsbürgerlichtlinie im Falle einer Abwesenheit u.a. wegen Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2010 – 12 B 26.09 , juris Rdn. 38.

Diese Zweijahresfrist dürfte angesichts des Besserstellungsverbotes nach Art. 59 ZP allerdings nur als Höchstgrenze unschädlicher Abwesenheiten auf Berechtigte nach Art. 7 Satz 1 ARB übertragbar sein, allzumal Art. 16 Abs. 4, 20 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie Abwesenheiten ohne Differenzierung nach den Gründen erfassen, während zum Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechtes nur solche Abwesenheiten führen, die "ohne berechtigten Grund" erfolgten.

Ausgehend von Ziel und Zweck des Art. 7 Satz 1 ARB ist innerhalb des aufgezeigten Orientierungsrahmens maßgeblich darauf abzustellen, ob die Abwesenheit des Betroffenen vom Bundesgebiet geeignet war, seine Integration in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend in Frage zu stellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6/08 , m.w.N., juris; BayVGH, Beschluss vom 15. Oktober 2009 19 Cs 09.2194 , juris). Gemessen an diesem Maßstab ist das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Klägers aus Art. 7 ARB 1/80 erloschen. Seine Abwesenheit vom Bundesgebiet über eine Zeitspanne von etwa 18 Monaten (Juli 2007 bis Februar 2009) war geeignet, seine Integration in Deutschland grundlegend in Frage zu stellen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (vgl. Beschlüsse vom 8. März 2006 – 18 B 130/06 –, InfAuslR 2006, 312 m.w.N. und vom 30. März 2010 - 18 B 111/10 -) geht der maßgebliche Integrationszusammenhang regelmäßig bereits dann verloren, wenn der Betreffende sechs Monate lang ohne berechtigte Gründe vom Bundesgebiet abwesend ist. Berechtigte Gründe für ein Verlassen des Bundesgebietes oder für die Dauer des Aufenthaltes in der Türkei zwischen etwa Juli 2007 und Februar 2009 hat der Kläger nicht dargelegt und sind auch im Übrigen nicht ersichtlich. Ferner ist der Richtwert von sechs Monaten um ein Mehrfaches überschritten. Umstände, die im vorliegenden Einzelfall die Dauer der Abwesenheit gleichwohl noch als unerheblich erscheinen lassen könnten, sind nicht erkennbar. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass der Kläger seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft in die Türkei verlagert und zugleich seine in Deutschland bis dahin bestehenden familiären, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen nur noch aus der Distanz aufrecht erhielt, soweit sie nicht ganz abbrachen. [...]

Auch ein vom Kläger nach seinem Vorbringen durch eine ununterbrochene Beschäftigung von August 1988 bis Oktober 1993 erworbenes Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1, dritter Spiegelstrich ARB 1/80 war bereits vor dessen Wiedereinreise im Februar 2009 erloschen.

Ein türkischer Arbeitnehmer, der das Recht aus Artikel 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 erworben hat, sein Arbeitsverhältnis vorübergehend zu unterbrechen, gehört für den Zeitraum, der angemessen ist, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 ARB 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats an. Er hat daher in diesem Staat Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiter sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, sofern er tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden (EuGH, Urteil vom 07. Juli 2005, Rs C-383/03, – "Dogan" , m.w.N., juris).

Diese Voraussetzung für den Fortbestand des Aufenthaltsrechtes aus Art. 6 ARB 1/80 war hier spätestens dadurch entfallen, dass der Kläger etwa im Juli 2007 Deutschland in der Absicht verlassen hat, seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie von nun an durch eine Erwerbstätigkeit in der Türkei sicherzustellen, sich seinem eigenen Vorbringen zufolge erst im Januar 2009 wieder um eine Beschäftigung in Deutschland bemühte und in der Zwischenzeit offensichtlich der deutschen Arbeitsverwaltung nicht zur Verfügung stand.

b. Der Kläger erfüllt ebenfalls nicht die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der selbständigen Erwerbstätigkeit nach § 21 AufenthG. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger vor seiner letzten Ausreise eine selbständige Tätigkeit im Bundesgebiet ausübte oder dies konkret bevorstand. Der Hinweis auf die Gewerbeanmeldung vom 21. Juni 2007 (Einzelhandel etc.) genügt hierfür nicht. Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger unmittelbar vor oder seit seiner letzten Einreise in die Bundesrepublik irgendwelche Anstrengungen zur (Wieder)Aufnahme dieses Geschäfts unternommen hätte. [...]

Der Kläger kann sich in Bezug auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der selbständigen Erwerbstätigkeit auch nicht mit Erfolg auf die sogenannte "Stand-Still-Klausel" in Art. 41 Abs. 1 des ZP, die am 1. Januar 1973 in Kraft getreten ist, berufen. In dieser Vertragsklausel haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Hieraus folgt, dass türkische Staatsangehörige im Anwendungsbereich dieser Norm (Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit) durch Mitgliedstaaten der EU nicht schlechter gestellt werden dürfen, als es die am 1. Januar 1973 bestehende Rechtslage vorsah (vgl. EuGH, Urteile vom 11. Mai 2000 – C-37/98 – (Savas); vom 20. September 2007 C16/05 – (Tum und Dari) und vom 19. Februar 2009 – C-228/06 – (Soysal), sämtlich bei juris).

Darüber hinaus dürfte auch eine Schlechterstellung gegenüber einer nach dem 1. Januar 1973 eingeführten, aktuell aber nicht mehr bestehenden günstigeren Regelung unzulässig sein (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010– C-300/09 – (Toprak) und – C-301/09 – (Oguz) zu Art. 13 ARB 1/80, veröffentlicht auf curia.europa.eu).

Selbst wenn der Kläger zum Zeitpunkt seiner letzten Einreise oder während seines letzten Aufenthalts im Bundesgebiet eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hätte (wofür keine Anhaltspunkte vorliegen), vermag die am 1. Januar 1973 geltende oder eine später eingeführte, günstigere Rechtslage für den Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit zu begründen. Denn weder am 1. Januar 1973 noch später bestand eine Niederlassungsfreiheit für nicht in Deutschland aufenthaltsberechtigte türkische Unternehmer.

c. Ferner hat der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG oder auf Neubescheidung seines hierauf gerichteten Antrages. Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für einen gebundenen Anspruch nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, da er den hierauf gerichteten Antrag nicht vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt hat (Nr. 3 der Vorschrift), sondern erst im Alter von 45 Jahren. Auch für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Ermessen des Beklagten ist kein Raum. Nach dieser Vorschrift kann zur Vermeidung einer besonderen Härte von den in Absatz 1 Nr. 1 und 3 bezeichneten Voraussetzungen abgewichen werden. Dass im Falle des Klägers eine besondere Härte vorliegt, ist weder vorgetragen noch im Übrigen ersichtlich.

d. Schließlich kann der Kläger nicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen oder eine Bescheidung seines hierauf gerichteten Antrages vom 26. Oktober 2009 beanspruchen. Als Anspruchsgrundlage kommt insoweit allein § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Danach kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Ein tatsächliches Ausreisehindernis liegt im Falle des Klägers nicht vor. Er hält sich derzeit in der Türkei auf.

Es ist beim Kläger aber auch kein rechtliches Ausreisehindernis gegeben unter dem Gesichtspunkt des von ihm geltend gemachten Schutzes seines Privatlebens nach Art. 8 EMRK. Das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen im Land des Aufenthalts, die für das Leben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007 – 2 BvR 304/07 -, www.bverfg.de = InfAuslR 2007, 275 ff. = NVwZ 2007, 946 ff., m.w.N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Januar 2008 - 18 B 1252/07 -, juris, und vom 7. Februar 2006 - 18 E 1534/05 -, NVwZ-RR 2006, 576).

Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährt jedoch nicht das Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Privat- und Familienleben aufzubauen (OVG NRW, Beschluss vom 30. Januar 2008, a.a.O., unter Bezugnahme auf EGMR (III. Sektion), Entscheidung vom 7. Oktober 2004 - 33743/03 - (Dragan), NVwZ 2005, 1043 (1045)).

Die Vorschrift des Art. 8 Abs. 1 EMRK darf auch nicht so ausgelegt werden, als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen oder vermittle diesem ein Aufenthaltsrecht allein deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat (OVG NRW, Beschluss vom 30. Januar 2008, a.a.O., unter Bezugnahme auf EGMR (III. Sektion), Entscheidungen vom 16. September 2004 - 11103/03 - (Ghiban), NVwZ 2005, 1046 und vom 7. Oktober 2004 - 33743/03 - (Dragan), NVwZ 2005, 1043 (1045)).

Entscheidend ist vielmehr, ob der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt (EGMR, Entscheidung vom 16. Juni 2005, 60654/00 (Sisojeva I), InfAuslR 2005, 349) aufgrund derer er in seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist, weshalb ihm bei einem Verlassen des Aufnahmestaates eine Entwurzelung droht. Dem ist regelmäßig gegenüber zu stellen, inwieweit ein Ausländer noch im Land seiner Staatsangehörigkeit verwurzelt ist. Überwiegt diese Verwurzelung - z. B. bei langjährigem Aufenthalt im Heimatstaat und relativ kurzer Aufenthaltsdauer in Deutschland -, so ist regelmäßig bereits der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet.

Bei Eröffnung des Schutzbereichs ist im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. In diesem Zusammenhang ist seine Rechtsposition gegenüber dem Recht der Bundesrepublik auf Einwanderungskontrolle - insbesondere der Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen - in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist (OVG NRW, Beschluss vom 30. Januar 2008, a.a.O. unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 - (Baghli), InfAuslR 2000, 53 und Entscheidung vom 16. September 2004 - 11103/03 -(Ghiban), NVwZ 2004, 1046).

Insoweit ist zum Einen in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Dabei sind als Gesichtspunkte seine wirtschaftliche und soziale Integration, sein rechtlicher Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, seine Kenntnisse der deutschen Sprache und seine persönliche Befähigung von Bedeutung. Auf der anderen Seite ist - erneut - zu fragen, inwieweit der Ausländer - wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland - von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Januar 2008, a.a.O., und vom 7. Februar 2006, a.a.O.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24. Februar 2006 – 7 B 10020/06.OVG , Asylmagazin 2006. 28).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist der in der Versagung eines Aufenthaltstitels liegende Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Einzelfall nicht unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Das Gericht schließt sich den Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 30. März 2010 – 18 B 111/10 – an, mit denen das Oberverwaltungsgericht das Vorliegen eines rechtlichen Abschiebungshindernisses nach Art. 8 EMRK verneint hat:

"Es unterliegt keinen Zweifeln, dass der Antragsteller, der 1971 im Alter von sieben Jahren erstmals ins Bundesgebiet eingereist ist und hier weit mehr als 30 Jahre gelebt hat, über intensive Bindungen nach Deutschland verfügt. Neben dem bereits erwähnten Cousin leben hier weitere Verwandte, insbesondere seine Eltern und zwei Brüder. Dennoch ist dem Antragsteller eine Rückkehr in die Türkei zumutbar. Er hat die ersten sieben Jahre seines Lebens im Land seiner Staatsangehörigkeit verbracht und dort einen wesentlichen Teil seiner Sozialisation erfahren. Er spricht die Landessprache. Zudem leben dort seine Ehefrau und seine Kinder, so dass er auch in der Türkei über enge persönliche Bindungen verfügt. Der Antragsteller ist in jüngster Zeit zweimal in der Absicht in die Türkei gezogen, für sich und seine Familie dort eine neue Existenz aufzubauen. Dies macht deutlich, dass er selbst ein Leben dort als nicht unzumutbar empfindet."

Der Kläger ist diesen Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts im weiteren Klageverfahren auch nicht entgegengetreten. [...]