Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsverheiratung, "Ehrenmord".
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Die Klägerin hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung ist aufzuheben. [...]
Der Klägerin droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift im Irak. Sie hat eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu erwarten, und zwar im gesamten Staatsgebiet, ohne dass der Staat oder staatsähnliche bzw. internationale Organisationen sie davor schützen könnten.
Auf Grund des Ergebnisses der Befragung der Klägerin, der Würdigung ihrer Angaben gegenüber dem Bundesamt, der Befragung ihres Ehemanns als Zeugen und der vorgelegten Lichtbilder legt das Gericht seiner Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde: Der Bruder der Klägerin, der den Lebensunterhalt der Familie durch seine Tätigkeit als Polizist sichert, hatte für die Klägerin eine andere Lebensplanung vorgesehen, als sie diese gewählt hat. Er wollte die Klägerin mit seinem Vorgesetzten verheiraten, um selbst die Schwester des Vorgesetzen heiraten zu können. Als sie sich seinen Planungen widersetzte, begann der Bruder, sie unter Druck zu setzen. Sie begründete ihren Widerspruch zunächst mit dem Umstand, sie sei bereits mit dem Zeugen ... verlobt. Dieses Argument brachte den Bruder nicht davon ab, seine für die Klägerin vorgesehene Lebensplanung weiter zu verfolgen und weiterhin Druck auf sie auszuüben. Hinzu trat, dass es der Klägerin unmöglich erschien, sich den Plänen des Bruders zu fügen, denn sie hatte mit dem Zeugen ... bereits Geschlechtsverkehr gehabt und war deshalb keine Jungfrau mehr. Im September 2009 hat sie den Zeugen ... in dessen Abwesenheit geheiratet und sich aus Angst vor ihrem Bruder bis zu ihrer Ausreise nicht mehr in ihrem Heimatort aufgehalten, zumal die Eltern, der Vater ist gelähmt und im Übrigen auf die finanzielle Unterstützung durch den Sohn angewiesen, die Klägerin nicht vor Übergriffen durch den Bruder hätten schützen können. Nach ihrer Ausreise, nämlich im Januar 2010, hat der Bruder die ältere Schwester durch einen Brandanschlag schwer verletzt, nachdem ihm mitgeteilt worden war, die Schwester hätte die Klägerin unterstützt und ihr geholfen.
Das Gericht geht von dem dargestellten Sachverhalt als gesichert aus. Die Klägerin hat gleichbleibend und ohne Widersprüche über ihr Verfolgungsschicksal berichtet. Sie hat alle an sie gerichteten Fragen bestimmt und in dem erkennbaren Bemühen um erschöpfende Auskunft beantwortet. Insbesondere hat die Art und Weise der Schilderungen erkennen lassen, dass sie über tatsächlich Erlebtes berichtet hat. Kleinere Unstimmigkeiten haben sich lediglich in den Bekundungen des Zeugen ergeben. Insofern mögen diese nicht durchgängig an der Wahrheit orientiert gewesen sein. Das Gericht hat aber mit Blick auf den Eindruck, den die Klägerin hinterlassen hat, keinen Anlass, die Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens und ihre Glaubwürdigkeit in irgendeiner Form in Frage zu stellen.
Bei der von der Klägerin beschriebenen Bedrohung durch den Bruder handelt es sich um geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. 60 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4 c AufenthG. Ein typischer Fall der geschlechtsspezifischen Verfolgung ist die Entrechtung von Frauen, sei es durch sexuelle oder sonstige Gewalt, "Ehrenmorde", Zwangsverheiratung, fortlaufende Diskriminierung in der Öffentlichkeit und in der Familie, aber auch die Praxis, Frauen, die sich den herrschenden repressiven Vorschriften über die Bekleidung und das Auftreten in der Öffentlichkeit verweigern, zu misshandeln oder ihnen noch Schlimmeres anzutun. All dies geschieht im Irak immer noch laufend (vgl. hierzu VG Stuttgart, Urteile vom 18. Januar 2011 - A 6 K 518/10 - und vom 26. Juni 2007 - A 6 K 394/07 -, jeweils juris).
Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 28. November 2010, Seite 20, diesbezüglich aus: "Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Hussein-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. ... Die prekäre Sicherheitslage und wachsende fundamentalistische Tendenzen in Teilen der irakischen Gesellschaft haben negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Laut einer glaubhaften Studie der britischen Hilfeorganisation "Oxfam" geben 12 % der darin befragten Frauen an, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein; laut einer WHO-Statistik gaben 21 % aller Frauen an, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein, 14 % davon während der Schwangerschaften. Weitere 33 % geben an, psychischer Misshandlung ausgesetzt zu sein. Aus Gesprächen und Berichteten anderer NRO lässt sich schließen, dass die Dunkelziffer höher liegen könnte. Staatliche Schutzmechanismen für die Opfer sind nicht in ausreichendem Maß vorhanden.
Viele Anzeichen stützen die Aussagen des UNHCR und irakischen NROs, denen zufolge so genannte "Ehrenmorde" in der Praxis noch immer weitgehend straffrei bleiben und verbreitet sind. In einigen Provinzen des Irak kommt es auch zu Steinigungen von Frauen durch die Dorfgemeinschaft bzw. Verwandte. Allein in der Region Kurdistan-Irak wurden in der zweiten Jahreshälfte 2009 228 Fälle offiziell registriert. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein. ... "
Mit Blick darauf sowie die durch das Gericht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Bruder die Klägerin verfolgte und versuchte, ihrer habhaft zu werden, um sie gewaltsam seiner für sie gedachten Lebensplanung zuzuführen, oder gar nach ihrem Leben trachtete, erführe er oder hätte erfahren, dass sie vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Sie wäre auch schutzlos, da staatliche Schutzmechanismen nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind und die übrigen Familienmitglieder nicht in der Lage wären, sie zu schützen, zumal die Familie finanziell abhängig vom Bruder der Klägerin ist.
Es bestand keine inländische Fluchtalternative für die Klägerin. Die Gefahr lag nahe, dass der Bruder die Klägerin auch in anderen Landesteilen aufgegriffen hätte, in denen sie sich ohnehin nur schwerlich ein Existenzminimum hätte sichern können.
Auch im Falle ihrer Rückkehr in den Irak ist sie vor einer Verfolgung durch den Bruder nicht hinreichend sicher. Der Bruder wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Falle der Rückkehr der Klägerin in den Irak nicht dafür zurückschrecken, sie weiterhin zu unterdrücken, zu misshandeln oder nach ihrem Leben zu trachten, obwohl sie mit dem Zeugen verheiratet und seit April 2011 Mutter ist. Dies belegt der Übergriff auf die verheiratete Schwester nach der Ausreise der Klägerin, der in Wahrheit als Maßnahme der Vergeltung gegen die Klägerin gerichtet war. [...]