OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.08.2011 - 11 S 49.11 - asyl.net: M18934
https://www.asyl.net/rsdb/M18934
Leitsatz:

Zu den gebotenen Vorkehrungen bzw. zur Zulässigkeit einer Abschiebung bei Suizidgefahr.

Schlagwörter: inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Abschiebungshindernis, vorläufiger Rechtsschutz, Reisefähigkeit, Suizidgefahr, Türkei, rechtliche Unmöglichkeit, Abschiebung,
Normen: VwGO § 123, AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Unabhängig von diesen Darlegungsmängeln weist der Senat allerdings vorsorglich darauf hin, dass sich die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung – wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung – ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten lässt; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (vgl. OVG Sachsen Anhalt, Beschluss vom 20. Juni 2011, – 2 M 38/11 –, bei juris, Rz. 5; OVG NW, Beschluss vom 09.05.2007 – 19 B 352/07 –, NVwZ-RR 2008, 284 sowie bei juris, dort Rz. 7). Zum Inhalt der gebotenen Vorkehrungen verweist der Senat auf die nachfolgend auszugsweise wiedergegebenen Ausführungen des OVG Sachsen-Anhalt in dem bereits zitierten Beschluss vom 20. Juni 2011, denen er sich aufgrund summarischer Prüfung anschließt:

"Die Ausländerbehörde ist von Amts wegen verpflichtet, aus dem Gesundheitszustand des Ausländers folgende Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten, und hat gegebenenfalls durch ein vorübergehendes Absehen von der Abschiebung oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, Beschl. v. 16.04.2002 – 2 BvR 553/02 –, Juris; Beschl. v. 26.02.1998 – 2 BvR 185/98 –, InfAuslR 1998, 241). Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 24.02.2010 – 2 M 2/10 –, Juris) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und so lange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des "Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 – Juris). Es ist ferner darauf zu achten, dass sich die krankheitsbedingte Suizidgefahr nicht in dem Zeitraum zwischen der Ankündigung und der Durchführung der Abschiebung realisiert (vgl. OVG NW, Beschl. v. 15.10.2010 – 18 A 2088/10 –, Juris). Das von der Ausländerbehörde in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehört der Zeitraum des Aufsuchens und Abholens in der Wohnung, des Verbringens zum Abschiebeort sowie die Zeit der Abschiebehaft (VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 –, InfAuslR 2008, 213 [214]). Auch den Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur endgültigen Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats darf die Ausländerbehörde nicht außer Acht lassen (VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008, a.a.O.). Die ihr obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, endet nicht immer schon mit der Ankunft des Ausländers im Zielstaat, sondern kann zeitlich bis zum Übergang in eine Versorgung und Betreuung im Zielstaat fortdauern, wenn dem Ausländer unmittelbar nach seiner Ankunft im Zielstaat eine Gesundheitsgefährdung droht, etwa weil er einer Betreuung oder medizinischen Behandlung bedarf. In derartigen Situationen ist sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Heimatland zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer wie bei der allgemeinen medizinischen Versorgung auch in diesem Zusammenhang regelmäßig auf den allgemein üblichen Standard der Möglichkeiten in seinem Heimatland zu verweisen ist (vgl. Beschl. d. Senats v. 08.09.2010 – 2 M 91/10 –, Juris; OVG NW, Beschl. v. 27.07.2006 – 18 B 586/06 –, EZAR-NF 51 Nr. 12, m. w. Nachw.). …"

Es ist weder von der Antragstellerin geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich, dass der Antragsgegner diese Anforderungen missachten und eine ernsthafte Selbstgefährdung der Antragstellerin in Kauf nehmen würde. Der Umstand, dass er zunächst die aktuelle Reisefähigkeit der Antragstellerin abklären und sich die abschließende Entscheidung über das Vorliegen eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses vorbehalten will, zeigt, dass er mit der Problematik einer Suizidgefahr verantwortlich umgeht. Mittlerweile hat der Antragsgegner konkretisierend vorgetragen, dass er die Antragstellerin für den 5. September 2011 zu einer fachärztlichen Untersuchung durch den polizeiärztlichen Dienst geladen habe. Je nach Ausgang dieser Untersuchung beabsichtigt er nach einem abgestuften System Sicherungsmaßnahmen gegen eine abschiebungsbedingte Selbstgefährdung der Antragstellerin zu treffen. Lägen Anhaltspunkte für eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung im Rahmen der Abschiebung vor, verfahre er bei Abschiebungen in die Türkei regelmäßig dergestalt, dass der Ausländer durch einen Arzt begleitet werde, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei über die geplante Ankunft des Ausländers in der Türkei informiert werde und Botschaftsmitarbeiter den Ausländer in der Türkei in Empfang nehmen und ihn der zuvor organisierten und erforderlichen medizinischen Versorgung zuführen würden oder dass die Botschaft sich direkt mit den türkischen Behörden in Verbindung setze, die dann die Organisation der medizinischen notwendigen Hilfe/Versorgung einschließlich einer gegebenenfalls erforderlichen Unterbringung organisieren und den türkischen Staatsangehörigen in Empfang nehmen würde. Ferner hat der Antragsgegner ausgeführt, dass der Sachverhalt neu zu beurteilen wäre, falls die ärztliche Untersuchung ergebe, dass derzeit einer akuten Selbsttötungsgefahr gerade nicht durch entsprechende behördliche Begleitmaßnahmen begegnet werden könne.

Es ist der Antragstellerin zuzumuten, das Ergebnis der polizeiärztlichen Untersuchung abzuwarten und für den Fall, dass die Abschiebung ihres Erachtens ohne ausreichende Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden solle, erneut bei dem Verwaltungsgericht um Eilrechtsschutz nachzusuchen. [...]