VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2011 - A 3 K 2433/09 - asyl.net: M18945
https://www.asyl.net/rsdb/M18945
Leitsatz:

Die Minderheit der Shabak unterliegt im Irak derzeit keiner Gruppenverfolgung.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylverfahren, Irak, Asylanerkennung, sichere Drittstaaten, Norwegen, Schweiz, Ausschlussgrund, Flüchtlingsanerkennung, Glaubhaftmachung, Gruppenverfolgung, Shabak, Verfolgungsdichte, nichtstaatliche Verfolgung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Gefährdungsdichte, gefahrerhöhende Umstände, Niniwe, subsidiärer Schutz,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 6 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. e
Auszüge:

[...]

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu den Shabak berufen. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine Gruppenverfolgung der Shabak im Irak zu verneinen. Für die Feststellung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Gruppierungen fehlt es den Verfolgungsmaßnahmen gegen die Shabak an der erforderlichen Verfolgungsdichte.

Die Zahl der Shabak liegt Schätzungen zufolge zwischen 100.000 und 200.000 Personen [...].

Auf der Grundlage dieser in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel kann in quantitativer Hinsicht nicht auf eine Verfolgungsdichte, die ohne Weiteres für jeden einzelnen Shabak die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entstehen lässt, geschlossen werden. Die bekannt gewordene Zahl der Übergriffe in den vergangenen Jahren ist - ungeachtet der anzunehmenden Dunkelziffer - gemessen an der Gesamtzahl der im Irak lebenden Shabak nicht geeignet, eine Verfolgung der Shabak als Gruppe zu belegen. Dies gilt selbst dann, wenn man in Anbetracht der Unklarheit über die Gruppengröße der Shabak eine zahlenmäßig niedrige Gruppengröße der unterschiedlich groß geschätzten Gruppe von nur 100.000 Personen zugrunde legen würde und weiter davon ausginge, dass alle berichteten Maßnahmen gegen die Shabak in Bezug auf die Verfolgungshandlung und in Bezug auf die Verknüpfung zwischen Handlung und Grund verfolgungsrelevant im Sinne der Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a und Abs. 1 Buchstabe b, Art. 9 Abs. 2 Buchstabe a und Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 QRL wären, was kaum der Fall sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei einer deutlich größeren Gruppe eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel im Ansatz als hinreichend angesehen, um eine Gruppenverfolgung zu bejahen (BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123). Selbst bei der Annahme einer hinreichenden Verfolgungsdichte von nur einem Zehntel, was bei der hier zu betrachtenden deutlich kleineren Gruppe eher angemessen sein dürfte, würde sich eine hinreichende Verfolgungsdichte aufgrund des vorliegenden Tatsachenmaterials nicht konkret belegen lassen, auch wenn man nur die Verfolgungsschläge zwischen den Jahren 2003 und 2009 in den Blick nähme und dabei außer Acht ließe, dass die Dichte verfolgungsrelevanter Maßnahmen gegen die Shabak und die Anzahl der Gewalttätigkeiten im Irak allgemein in den Jahren 2008 und 2009 gegenüber den Vorjahren erheblich zurückgegangen ist. Damit liegt die tatsächlich festgestellte Verfolgungsdichte - selbst unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer - weit unter der kritischen Verfolgungsdichte, bei deren Vorliegen eine Gruppenverfolgung zu bejahen wäre.

Die von den dargestellten Verfolgungsschlägen betroffenen Shabak lassen sich auch nicht unter einem anderen Merkmal als der Glaubenszugehörigkeit als - eventuell - kleinere Gruppe zusammenfassen bzw. abgrenzen.

Zutreffend ist das Bundesamt davon ausgegangen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG nicht gegeben sind. So besteht weder die konkrete Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (§ 60 Abs. 2 AufenthG) noch liegen Anhaltspunkte für Ermittlungen gegen den Kläger wegen einer mit der Todesstrafe bedrohten Straftat und die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 AufenthG) vor.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Insbesondere liegt in seiner Person keine spezifische individuelle Betroffenheit aufgrund persönlicher Gefahr erhöhender Umstände vor, die vor dem Hintergrund der im Zentralirak herrschenden defizitären Sicherheitslage zur Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führen könnten. [...]

Da der Kläger nach eigenen Angaben aus dem Dorf ... in der Nähe von Mosul stammt, ist bei der Frage, ob ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist, primär auf die Situation in der Provinz Niniwe abzustellen. Das Gericht kann vorliegend jedoch offen lassen, ob dort zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. c) QRL vorliegt, denn in jedem Fall ist in der Provinz Niniwe das besonders hohe Niveau allgemeiner Gefahren im Rahmen des bewaffneten Konflikts nicht erreicht, um die Annahme zu rechtfertigen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer Bedrohung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgesetzt zu sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine erhebliche individuelle Gefahr in diesem Sinne nur dann angenommen werden, wenn die im Irak drohenden allgemeinen Gefahren eine derart hohe Dichte bzw. einen derart hohen Grad aufweisen, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.07.2009, a.a.O.) Zur Beurteilung der Frage, ob in einer allgemeinen Gefahrenlage jede einzelne Zivilperson in dem betreffenden Gebiet individuell erheblich bzw. ernsthaft bedroht ist, sind neben qualitativen auch quantitative Kriterien heranzuziehen. Nur so lässt sich das Ausmaß der Gefahrendichte klären. Dementsprechend haben zur Feststellung der Gefahrendichte im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. des Art. 15 Buchst. c) QRL ähnliche Kriterien Bedeutung wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung. Um diese Gefahrendichte festzustellen, muss die Anzahl der Übergriffe und die Zahl der Opfer in der Zivilbevölkerung in Beziehung zur Einwohnerzahl des betroffenen Gebiets gesetzt werden (vgl. zur Erforderlichkeit der Relationsbetrachtung im Rahmen der Prüfung der Gruppenverfolgung BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris). Für diese Feststellung ist die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123). Bei unübersichtlicher Tatsachenlage - wie der vorliegenden - und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf ein Tatsachengericht auch aus einer Vielzahl ihm vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vornehmen.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ergibt sich, dass die maßgebliche Größenordnung für die Annahme einer hinreichenden Gefahrendichte in Niniwe nicht gegeben ist. Hierbei geht das Gericht aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, für Niniwe im Jahr 2010 von 505 toten Zivilisten bei 363 Vorfällen aus und gelangt so zu einer Größenordnung von 18 Toten je 100.000 Einwohnern. Dies entspricht einer zivilen Opferzahl von 0,018 % (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge "Irak - Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte", Juni 2011, S. 14 ff.). Auf dieser Grundlage ist nicht davon auszugehen, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass es bei gewaltsamen Anschlägen in der Regel nicht nur Tote, sondern auch Verletzte gibt. Auch unter Berücksichtigung der bloßen Verletzungsgefahr ist unter Einbeziehung der genannten Anschlagszahl nicht von einer hinreichenden Gefahrendichte auszugehen.

Weiterhin ist beim Kläger nicht von einer individuellen spezifischen Betroffenheit aufgrund persönlicher Gefahr erhöhender Umstände auszugehen. Wie bereits dargelegt, lassen sich dem Vortrag des Klägers zu den Ereignissen im Irak, die zu seiner Ausreise geführt haben sollen, keine individuellen Gefahrenmomente entnehmen. Der Kläger ist auch nicht deshalb individuell spezifisch betroffen, weil er zur Minderheit der Shabak gehört. [...]