VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.08.2011 - 11 S 245/11 - asyl.net: M18948
https://www.asyl.net/rsdb/M18948
Leitsatz:

Aus der europarechtlichen Vorgabe, Entwicklungen während des Gerichtsverfahrens zugunsten des Ausländers und seines Aufenthaltsrechts zu berücksichtigen, folgt die Aufhebung einer Ausweisung "ex tunc", selbst wenn diese vor der Gerichtsentscheidung rechtmäßig gewesen sein sollte.

Berechtigten Interessen der Ausländerbehörde an der Feststellung der früheren Rechtmäßigkeit der Ausweisung kann mittels eines Feststellungsanspruchs analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO entsprochen werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Europarechtliche Vorgabe, Ausweisung, ex tunc, Ausweisung ex tunc, Rechtmäßigkeit, Rechtmäßigkeit der Ausweisung, Wiederholungsgefahr, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, besonderer Ausweisungsschutz, Familienangehörige,
Normen: AufenthG § 55 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 14, ARB 1/80 Art. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte und auch sonst zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Sein hilfsweise gestellter Antrag ist kein Hilfsantrag im Rechtssinne, weil kein weiterer Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt wird. Die zeitlich begrenzte Aufhebung der Ausweisungsverfügung ist vielmehr bereits im Berufungsantrag auf Klageabweisung als Minus enthalten. Dem Berufungsantrag des Beklagten ist jedoch auch nicht insoweit stattzugeben. Denn die Ausweisung und die damit verbundene Abschiebungsandrohung erweisen sich nach der maßgebenden Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als rechtswidrig. Eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, geht vom Kläger nicht aus (I). Die Aufhebung der angefochtenen Ausweisung lediglich mit Wirkung "ex nunc" kommt nicht in Betracht (II).

I.

Prüfungsmaßstab für die Ausweisung ist § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (1). Gemessen hieran geht vom Kläger keine Wiederholungsgefahr aus, so dass es bereits an den Tatbestandsvoraussetzungen für eine Ausweisung fehlt (2).

1. Der Kläger besitzt eine assoziationsrechtliche Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 3 ARB 1/80. Die durch seine zwölfjährige ordnungsgemäße Beschäftigung erworbene Rechtsposition ist nach dem unverschuldeten Verlust des Arbeitsplatzes im Jahr 2004 nicht erloschen. Der Kläger fand anschließend immer wieder für kürzere Zeit wechselnde Stellen. Längere Zeiten der Arbeitslosigkeit, in denen er dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stand, liegen nicht vor (vgl. zu den Kriterien für die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft bei Arbeitslosigkeit: Renner/Dienelt, AuslR, 9. Aufl., § 4 Rn. 132). Insbesondere ist die erworbene Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 3 ARB 1/80 auch nicht durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe erloschen; der Kläger genießt vielmehr weiterhin den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 14 ARB 1/80 (vgl. EuGH, Urteil vom 07.07.2005, Rs. C-383/03 <Dogan>).

Der Kläger dürfte darüber hinaus eine assoziationsrechtliche Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitzen, weil er 1991 als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers - seiner, nach eigenen Angaben bis auf Mutterschutz- und Erziehungszeiten damals langjährig als Zahnarzthelferin beschäftigten Ehefrau - eine Familiennachzugsgenehmigung erhalten hatte und die Familie seit 1991 über drei Jahre mit ordnungsgemäßem Wohnsitz im Bundesgebiet gelebt hat.

Demzufolge kann der Kläger nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Wie der Senat in seinem Urteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - (juris Rn. 50 ff. m.w.N.) ausgeführt hat, verweist dieser Maßstab - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, im Verständnis des EuGH auf ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung hierfür allein nur dann ausreichen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erkennen lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-482/01 und C-493/01 <Orfanopoulus und Oliveri>). Diese Gefährdung kann sich einerseits durchaus auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977, Rs. 30/77 <Bouchereau>). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach das abgeurteilte Verhalten bei schwerwiegenden Straftaten gewissermaßen zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Im Senatsurteil vom 04.05.2011 (a.a.O.) wurde ausgeführt, dass die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, insoweit gelte ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3), mit den vom EuGH hierzu entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar ist. Denn dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen. Maßgeblich ist mithin allein der jeweilige Einzelfall, der eine umfassende Würdigung aller wesentlichen Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59).

2. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht vom Kläger zum Zeitpunkt der Entscheidung nach dem Eindruck des Senats insbesondere aus der mündlichen Verhandlung keine Wiederholungsgefahr aus. Dies kann hier auch ohne Einholung eines fachpsychologischen Gutachtens entschieden werden. Die Feststellung einer etwaigen Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, ist zentrale Aufgabe des Tatsachengerichts. Wenn keine tat- oder täterpersönlichkeitsbezogenen Besonderheiten vorliegen, kann und muss es diese Frage aufgrund der Würdigung sämtlicher Einzelfallumstände selbst beurteilen. Eines Gutachtens bedarf es nur, wenn die Gefahrenprognose aufgrund besonderer Umstände nicht ohne spezielle Sachkunde erstellt werden kann. Demnach besteht zur Einholung eines fachpsychologischen Gutachtens, wie es der Beklagte für erforderlich hält, lediglich dann Anlass, wenn sich aus dem Prozessstoff Hinweise auf besondere Entwicklungen der Persönlichkeit des Klägers ergeben, die nur mit entsprechender Fachkunde zutreffend beurteilt werden können (BVerwG, Beschluss vom 22.10.2008 - 1 B 5.08 - juris Rn. 5; Senatsurteil vom 15.04.2011 - 11 S 189/11 - juris Rn. 80). Dafür sind vom Beklagten keine zureichenden Anhaltspunkte vorgetragen worden oder sonst ersichtlich. Aus diesem Grund wurde der diesbezüglich vom Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung (unbedingt) gestellte Beweisantrag vom Senat abgelehnt.

Auch eine allgemeinverbindliche Aussage - wie vom Verwaltungsgericht bei Zulassung der Berufung angeregt - dazu, wann vom Tatsachengericht ein Sachverständigengutachten hinsichtlich des Entfallens einer Wiederholungsgefahr eingeholt werden muss, kann nicht getroffen werden. Entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls.

Nach den Umständen des hier zu beurteilenden Einzelfalles ist der Senat zum Zeitpunkt seiner Entscheidung davon überzeugt, dass im unionsrechtlichen Sinne keine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung durch den Kläger angenommen werden kann, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Mehr als eineinhalb Jahre nach der Strafrestaussetzung zur Bewährung und unter Berücksichtigung des Verhaltens des Klägers in Freiheit sowie der recht spezifischen Umstände, die zur Straftat im Dezember 2008 geführt haben, sieht der Senat keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er erneut vergleichbare Straftaten zum Nachteil insbesondere seiner früheren Ehefrau oder seiner Kinder begehen wird.

Im Einzelnen: Die abgeurteilte Straftat des Klägers liegt bereits über zweieinhalb Jahre zurück. Der Kläger hat den erstmaligen Eindruck einer einjährigen Untersuchungs- und Strafhaft hinter sich und sich diese als Warnung dienen lassen. Seit seiner Haftentlassung am 14.12.2009 respektiert er den Wunsch der Familie, sich von ihr fernzuhalten, und beachtet insbesondere das als Bewährungsauflage verhängte (für ihn offenbar schmerzhafte) Kontaktverbot zu seinen Kindern. Er hat jedenfalls - soweit für den Senat ersichtlich - keinerlei Versuche unternommen, diese aufzusuchen oder gar zu behelligen. Die unglückliche Formulierung gegenüber der Sozialberatung, "er könne jederzeit herausfinden, wo seine ehemalige Frau wohne", sollte in diesem Zusammenhang gerade seine Rechtstreue illustrieren; sie kann jedenfalls nicht ernsthaft als "Drohung" missverstanden werden.

Gegen eine Gefährdung der Gesellschaft durch den Kläger spricht weiter der Umstand, dass er bis zur Straftat im Dezember 2008 nach Aktenlage rund 17 Jahre lang vollkommen straffrei in Deutschland gelebt hat, er insbesondere nicht durch Gewalttätigkeiten gegenüber Frau oder Kindern bzw. anderen Personen aktenkundig wurde. Zudem erfolgte die Tat, die auch als besonders krasser Hilferuf gedeutet werden kann, aus einer für ihn ganz besonderen Lebenssituation heraus, nämlich der endgültigen Trennung von seiner Frau und der damit verbundenen Verlustangst bezüglich den geliebten Kindern. Die Gesamtumstände sprechen mithin deutlich gegen die Annahme, dass sich der Kläger erneut zu einer vergleichbaren Tat hinreißen lassen wird. Hinzu kommt, dass für den Senat beim Kläger kein strukturelles Gewalt- bzw. Aggressionsproblem erkennbar ist, das vom ihm nicht zu kontrollieren ist und deshalb in erneuten Gewalttaten münden könnte. Jedenfalls sprechen hiergegen sowohl die Gefangenen-Personalakten als auch das Verhalten seit der Haftentlassung. Dass sein unauffälliges Verhalten nach der Strafhaft auch von der drohenden Ausweisung geprägt sein könnte, macht es im Rahmen der Prognoseentscheidung im vorliegenden Einzelfall nicht weniger gewichtig. Denn die Möglichkeit einer Ausweisung droht ihm auch weiterhin nach einem für ihn positivem Ausgang dieses Verfahrens, falls er sich erneut irgendetwas zu Schulden lassen kommen sollte. Sein erklärtes und menschlich verständliches Ziel, wieder - kontrolliert und überwacht - in irgendeiner Weise in Kontakt zu seinen Kindern zu kommen, spricht deshalb auch eher für eine künftige Straffreiheit, um eben dieses Ziel nicht zu gefährden.

Die Einschätzung des Senats deckt sich im Übrigen mit der des Landgerichts Stuttgart im Beschluss vom 09.12.2009 - 21 StVK 363/09 -, mit dem u.a. die Restfreiheitsstrafe des Klägers zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf (nur) zwei Jahre festgesetzt wurde. Natürlich stellt die Entscheidung eines Strafgerichts gemäß § 57 Abs. 1 StGB bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognose nur ein wesentliches Indiz dar und begründet keine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr im Sinne einer Beweiserleichterung. Voneinander abweichende Prognoseentscheidungen können gerade bei einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB u.a. wegen des unterschiedlichen zeitlichen Prognosehorizonts in Betracht kommen (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - juris Rn. 18). Hier hat sich das Strafgericht zwar zu einem relativ frühen Zeitpunkt, nämlich bereits ein Jahr nach der Tat, mit der Persönlichkeit des Klägers und seinem Verhalten auseinandergesetzt, jedoch einen Sachverhalt zugrunde gelegt, der im Wesentlichen mit dem nunmehr maßgeblichen übereinstimmt. Das Verhalten des Klägers in Freiheit bestätigt im Übrigen die getroffene Prognose des Strafgerichts, dass die Strafhaft Eindruck auf ihn gemacht und zur Einsicht geführt hat, dass sein Verhalten falsch war. Die Verhängung eines Kontaktverbots kann an dieser zutreffenden Einschätzung nichts ändern und ist insbesondere zum jetzigen Zeitpunkt für das Ausweisungsverfahren ohne ausschlaggebende Bedeutung. Aussetzungen einer Freiheitsstrafe zur Bewährung können gerade aufgrund ihres verhältnismäßig frühen Zeitpunktes nach der Straftat zur Absicherung und Stabilisierung der Lebensverhältnisse des Täters Auflagen oder Weisungen beigefügt werden (vgl. § 57 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 56 b und 56 c StGB).

Zuletzt sprechen auch die vorliegenden Stellungnahmen der den Kläger betreuenden und begleitenden sozialen Einrichtungen sowie seines Bewährungshelfers und von Frau Dr. K. gegen eine Gefährdung der Gesellschaft durch ihn. Danach hält sich der Kläger an alle Gesprächstermine, in denen er sich zudem beeindruckt von der Verurteilung und der Strafhaft zeigt und sein Verhalten als falsch einstuft. Auch der Umstand, dass er sich nach Beendigung der Maßnahmen in der Sozialsorge freiwillig um die Therapie bei einer Psychotherapeutin bemüht hat, um sein Verhalten aufzuarbeiten, zeigt, dass er seine persönliche Verantwortung erkannt hat. Weder sein Bewährungshelfer noch Frau Dr. K. sahen am 28.07.2011 irgendwelche Anhaltspunkte für fremdgefährdende Einstellungen oder Verhaltensweisen des Klägers. Demgegenüber können Gefühle von Kränkung und Wut hinsichtlich der Vergangenheit und kann insbesondere seine frühere Aussage, er sehe sich "auch als Opfer der damaligen Umstände", nicht genügen, um eine konkrete Wiederholungsgefahr anzunehmen. Entscheidend ist vielmehr, dass der Kläger seine Schuld eingesehen hat und von der Verurteilung nachhaltig beeindruckt ist und insbesondere seit seiner Haftentlassung keinerlei Absichten zeigt, sich unbefugt seiner Familie zu nähern. Nach allen Stellungnahmen bemüht er sich ernsthaft, nach vorne zu blicken und einen "tadellosen" Lebenswandel zu führen.

II.

Die von dem Beklagten (hilfsweise) begehrte Aufhebung der Ausweisung lediglich mit Wirkung "ex nunc" - primär um ein Wiederaufleben der Niederlassungserlaubnis des Klägers zu verhindern - scheidet aus. Wenn überhaupt, müsste eine solche Aufhebung dogmatisch wohl ohnehin nicht wie beantragt "ab der Entscheidung des Gerichts über die Klage" erfolgen, sondern vielmehr ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörde im Rahmen ihrer Verpflichtung zur fortlaufenden Überprüfung der Ausweisung die Aufhebung hätte verfügen können und müssen, hier mithin zu dem Zeitpunkt, in dem die Wiederholungsgefahr weggefallen ist (vgl. BVerwG vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - juris Rn. 22/25). Eine Aufhebung auch ab diesem Zeitpunkt kommt jedoch nicht in Betracht. Hiergegen sprechen nicht nur die überzeugende Meinung der Literatur (1.) und die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie rein praktische Argumente (2.), sondern vor allem europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben des materiellen Rechts (3.). Im Übrigen fordern auch weder das Rechtsstaatsprinzip noch Art. 3 Abs. 1 GG die begehrte Aufhebung "ex nunc"; die verwaltungsrechtlichen Grundsätze bei Dauerverwaltungsakten finden insoweit keine Anwendung (4.).

1. Die Verwaltungsgerichtsordnung selbst enthält ebenso wie zur Frage, zu welchem Zeitpunkt die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts zu beurteilen ist, auch zu der Frage, in welchem Umfang er im Falle seiner Rechtswidrigkeit aufzuheben ist, keine verbindliche Regelung. In § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO heißt es lediglich, der Verwaltungsakt sei aufzuheben, "soweit" er sich als rechtswidrig erweist; dies lässt die Aufhebung "ex tunc" oder "ex nunc" zu. Auch aus § 84 Abs. 2 AufenthG lässt sich keine klare Entscheidung dieser Frage entnehmen. Zwar trifft es zu, dass nach Satz 1 der Norm die Wirksamkeit der Ausweisung vom Suspensiveffekt nicht berührt werden soll und es in Satz 3 der Norm heißt, dass eine "Unterbrechung der Rechtmäßigkeit" bei Aufhebung des Verwaltungsakts nicht eintritt, was die Annahme, dass der Titel zunächst erlöschen soll, zulässt. Diese Annahme wäre jedoch eine Überinterpretation. Nach der überzeugenden herrschenden Meinung ist diese Regelung vielmehr so zu verstehen, dass die alte Rechtsstellung wieder auflebt, und zwar in vollem Umfange, d.h. z.B. auch bezüglich des Aufenthaltstitels (vgl. die "ex-tunc"-Kommentierungen zu § 84 bei Renner/ Dienelt, AuslR, 9. Aufl., Rn. 4; Hailbronner, AuslR, 49. Akt., Rn. 60; Armbruster, HTK-AuslR, 02/2011 Nr. 5; Storr u.a./Albrecht, ZuwG, 2. Aufl., Rn. 20 sowie die AVV-AufenthG Nr. 84.2.3). Auch aus der Gesetzesbegründung zu § 72 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990 (BT-Drs. 11/6321, 81) kann nichts Gegenteiliges hergeleitet werden, zumal es damals noch auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ankam. Der wortgleiche § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG - in Kenntnis der Rechtsprechung zum neuen Zeitpunkt (BVerwG, Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 - und vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -; vgl. auch Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 -) vom Gesetzgeber verabschiedet - spricht allenfalls dafür, dass der Gesetzgeber ein Aufleben der gesamten Rechtsstellung "ex tunc" wollte. Der Vorschrift lässt sich kein Anhaltspunkt entnehmen, insbesondere folgt ein solcher entgegen der erneut in der mündlichen Verhandlung vom Beklagten vertretenen Ansicht nicht aus der Verwendung des Wortes "Rechtmäßigkeit", dass der Gesetzgeber einen weiteren Tatbestand der unmittelbaren, nicht titelgebundenen Legalisierung des Aufenthalts (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) habe einführen wollen, zumal dann auch völlig unklar wäre, wann diese Legalität enden würde bzw. auf welche Weise diese beendet werden könnte.

2. Eine ausdrückliche Entscheidung der Frage, zu welchem Zeitpunkt die Aufhebung einer sich in der nunmehr maßgeblichen letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20) als rechtswidrig darstellenden Ausweisung zu erfolgen hat, hat das Bundesverwaltungsgericht - soweit ersichtlich - bislang nicht getroffen. Dass auch das Bundesverwaltungsgericht jedoch von einer Aufhebung "ex tunc" ausgeht, ergibt sich hinreichend aus dem Urteil vom 03.08.2004 (- 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297). Dort wird bei einer Aufhebung der Ausweisungsverfügung durch die Ausländerbehörde aufgrund veränderter Umstände die - vollständige - Erledigung des Rechtsstreits angenommen. Die Berücksichtigung einer ursprünglichen Rechtmäßigkeit soll allein bei der Kostenentscheidung erfolgen (vgl. juris Rn. 30: "Bei der Entscheidung über die Kosten des für erledigt erklärten Verfahrens ist ggf. die ursprüngliche Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Ausweisung maßgeblich zu berücksichtigen."). Dieser Standpunkt muss auch aus dem pragmatischen Grund richtig sein, dass das Gericht den genauen Stichtag etwa des Wegfalls der Wiederholungsgefahr regelmäßig gar nicht seriös ermitteln könnte. Wie vorliegender Fall illustriert, wird der Wegfall der Wiederholungsgefahr oftmals ein Prozess sein, der gewissermaßen "im Kopfe" des Ausgewiesenen stattfindet und sich nicht unbedingt äußerlich manifestiert. Möglich dürfte allenfalls die Feststellung sein, jedenfalls zu einem bestimmten Zeitpunkt (insbesondere bei Bescheiderlass oder Abschiebung) habe k/eine Wiederholungsgefahr vorgelegen und sei die Ausweisung rechtswidrig/mäßig gewesen. Um der Ausländerbehörde keine unbilligen Verfahrenskosten oder einen Amtshaftungsprozess zuzumuten, könnte ihr diesbezüglich eventuell mittels eines Feststellungsausspruchs analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geholfen werden (so Kraft, ZAR 2009, 41 46>), der gegebenenfalls auch im Wege der Widerklage oder Anschlussberufung durchsetzbar ist. Einen solchen Feststellungsantrag hat der Beklagte im vorliegenden Fall nicht gestellt. Sein "Hilfsantrag" ist auch nicht sachdienlich dahingehend auszulegen, weil es dem Beklagten mit diesem Antrag primär darum geht, das Wiederaufleben der Niederlassungserlaubnis zu verhindern, um den Kläger gegebenenfalls abschieben zu können, ganz abgesehen davon, dass in den Fällen, in denen wie hier noch keine Aufenthaltsbeendigung durchgeführt wurde, nicht ersichtlich ist, dass dem Beklagten ein besonderes Feststellungsinteresse zur Seite stehen könnte.

3. Für die "ex tunc"-Aufhebung streiten vor allem europa- und auch verfassungsrechtliche Vorgaben. Wie das Bundesverwaltungsgericht ausführte (vgl. Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20), war maßgebender Gesichtspunkt zur Verschiebung des Zeitpunktes im Ausweisungsrecht im Rahmen der Gesamtschau insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei seiner Art. 8 EMRK-Prüfung regelmäßig auf die Situation abstellt, in der die Ausweisung rechtskräftig wurde. Haben sich mithin nach Erlass der Ausweisungsverfügung für den Ausländer positive Entwicklungen ergeben, sollen diese nach Europarecht berücksichtigt werden, damit der Ausländer sein Aufenthaltsrecht nicht verliert. Dieses Ergebnis würde (jedenfalls ohne juristische Kunstgriffe) verfehlt, wenn die Ausweisung nur "ex nunc" aufgehoben würde, weil der Aufenthaltstitel dann gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG verloren bliebe. Bei der "ex nunc"-Lösung bliebe (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) der Ausländer also - will man nicht über § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG insoweit einen "titellos-rechtmäßigen Aufenthalt" konstruieren - trotz Aufhebung der Ausweisung ausreisepflichtig, sein Aufenthalt wäre rechtswidrig und je nach Lesart würde vielleicht sogar die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG der Neuerteilung eines Aufenthaltstitels entgegenstehen. Verfügte er über keine z.B. familiären Anknüpfungspunkte, könnte er damit möglicherweise überhaupt keinen Aufenthaltstitel mehr erwerben und müsste das Land auf Dauer verlassen, obwohl seine Ausweisung als rechtswidrig aufgehoben wurde. Das Wiederaufleben des Aufenthaltstitels könnte im Übrigen selbst bei assoziationsberechtigten Türken Bedeutung erlangen, etwa bei langjähriger Arbeitslosigkeit oder wenn der Ausländer mithilfe einer Niederlassungserlaubnis zwischenzeitlich selbständig erwerbstätig ist (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Das vom Beklagten mit der "ex nunc"-Auslegung erwünschte Ergebnis, dass der Ausländer trotz Aufhebung der Ausweisung insbesondere mangels Wiederholungsgefahr das Bundesgebiet gegebenenfalls verlassen muss, wäre ebenso unvereinbar mit der Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-482/01 und C-493/01 <Orfanopoulos und Oliveri> Rn. 81 f.) als auch mit der des Bundesverfassungsgerichts zu Ausweisungen (vgl. Beschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300), die ebenfalls das Abstellen auf eine möglichst aktuelle, nicht bereits überholte Tatsachengrundlage fordern, gerade um dem Ausländer sein Aufenthaltsrecht insbesondere nach Wegfall der Wiederholungsgefahr zu erhalten.

4. Die Aufhebung der Ausweisung "ex tunc" verstößt entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip oder Art. 3 Abs. 1 GG. Natürlich kann es von der Dauer des Gerichtsverfahrens abhängen, ob eine Ausweisung rechtmäßig wird. Dies ist jedoch notwendige Folge des Verschiebens des maßgeblichen Zeitpunkts auf die mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Gerichts. Da der Richter einen Fall kaum jemals taktisch terminieren dürfte, sondern sich dabei insbesondere von seinen Arbeitskapazitäten leiten lässt, bedeutet dies keine "Willkür". Im Übrigen besteht hier kein wesentlicher Unterschied zu einer Situation, in der das behördliche Ausweisungsverfahren längere Zeit in Anspruch nimmt. Bezüglich des Vorbringens zu Art. 3 Abs. 1 GG ist schon fraglich, ob überhaupt vergleichbare Sachverhalte gegeben sind. Der Ausländer, von dem zur Zeit der mündlichen Verhandlung oder gerichtlichen Entscheidung insbesondere keine gegenwärtige Gefahr für die Gesellschaft (mehr) ausgeht, ist nicht ohne weiteres mit demjenigen vergleichbar, bei dem dies (noch) der Fall ist. Jedenfalls aber wäre eine etwaige Ungleichbehandlung dadurch sachlich gerechtfertigt, dass europa- und verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Berücksichtigung nachträglicher Änderungen zwingen und die Festlegung eines bestimmten Zeitpunkts zur endgültigen Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung aus Gründen der Rechtssicherheit notwendig ist. Aus alledem ergibt sich schließlich, dass die vom Beklagten zitierten verwaltungsrechtlichen Grundsätze zu Dauerverwaltungsakten im Ausweisungsrecht keine Anwendung finden können. Da die Ausweisung keine Bündelung von Einzelverfügungen darstellt und sich die für den Ausländer belastenden Rechtsfolgen der Ausweisung auch nicht ständig neu aktualisieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.1967 - I C 43.67 - juris Rn. 14 <Gewerbeuntersagung>; Urteil vom 29.11.1979 - 3 C 103.79 - juris Rn. 78 <Depotpflicht>), liegt eine wesentlich anders geartete Rechtskonstellation vor, die einer Übertragung dieser Grundsätze insoweit entgegensteht. [...]