VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 27.07.2011 - 5 K 2547/09 - asyl.net: M18950
https://www.asyl.net/rsdb/M18950
Leitsatz:

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Kostenersatz für Heimtransport von Erntehelfern nach Kroatien zu leisten. Die Ortspolizei war verpflichtet, die drohende Obdachlosigkeit der Erntehelfer als Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verhindern bzw. zu beseitigen, da ihnen vom Arbeitgeber die Arbeits- und Mietverhältnisse fristlos gekündigt worden waren und sie keine Mittel für Nahrung und Unterkunft hatten. Der Arbeitgeber hat durch keine bzw. geringe Lohnzahlungen die Mittellosigkeit der angeworbenen Erntehelfer selbst herbeigeführt, weshalb er als Handlungsstörer im Sinne des Polizeirechts anzusehen ist.

Schlagwörter: Kostenerstattung, Arbeitgeberhaftung, Leistungsbescheid, Gefahrenabwehr, Rückkehr, Reisekosten, Kündigung, Störer, Verhältnismäßigkeit, Ermessen, Mitverschulden,
Normen: PolG § 8 Abs. 2 S. 1, PolG § 6, PolG § 7, PolG § 68 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger wendet sich gegen einen Leistungsbescheid der beklagten Gemeinde, mit dem von ihm Kostenersatz für den Heimtransport von Erntehelfern nach Kroatien verlangt wird. [...]

Die Anfechtungsklage ist zulässig, aber nicht begründet. Der angefochtene Leistungsbescheid der beklagten Gemeinde vom 06.08.2008 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamts Bodenseekreis vom 10.09.2009 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Leistungsbescheid ist § 8 Abs. 2 Satz 1 PolG. Danach sind die in den §§ 6 und 7 PolG bezeichneten Personen zum Ersatz der Kosten verpflichtet, die der Polizei durch die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme entstehen. Kostenersatz kann jedoch nur für eine rechtmäßige unmittelbare Ausführung verlangt werden. Außerdem muss der Herangezogene kostentragungspflichtig sein (vgl. Belz/Mußmann, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl., § 8 Rdnr. 6; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., Rdnr. 911; Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl., § 8 Rdnr. 32). Im vorliegenden Fall sind diese Voraussetzungen erfüllt.

Für den Rücktransport der 33 Erntehelfer als polizeiliche Maßnahme gemäß § 1 PolG war die beklagte Gemeinde als Ortspolizeibehörde sachlich zuständig (vgl. §§ 60 Abs. 1, 66 Abs. 2, 62 Abs. 4 PolG). Deren örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 68 Abs. 1 PolG.

Die getroffene Maßnahme ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Gemäß §§ 1 und 3 PolG hat die Polizeibehörde die Aufgabe, von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird, und Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist. Sie hat zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtmäßigem Ermessen erforderlich erscheinen. Die Ortspolizeibehörde war demnach verpflichtet, die Obdachlosigkeit der Erntehelfer als Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu verhindern bzw. zu beseitigen (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 01.10.1993 - 1 B 120/93 -, InfAuslR 1994, 65), wobei sie diese Aufgabe unter Berücksichtigung aller Umstände nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfüllen hat (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.02.1993 - 1 S 279/93 -, VBlBW 1993, 304). Eine (unfreiwillige) Obdachlosigkeit liegt vor, wenn eine Person nicht über eine Unterkunft verfügt, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt und insgesamt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft entspricht (VGH Bad.- Württ., Beschluss vom 05.03.1996 - 1 S 470/96 -, NVwZ-RR 1996, 439).

Die Gefahr der Obdachlosigkeit der Erntehelfer lag nach den gegebenen Umständen auf der Hand. Sie hatten jedenfalls am 06.06.2008 keine Unterkunftsmöglichkeit mehr. Denn der Kläger hatte ihnen am Morgen dieses Tages verweigert, ihre Unterkünfte weiter zu benutzen und sich auf dem Hof weiterhin aufzuhalten. Anlass hierfür war die fristlose Kündigung des Klägers vom Vortag. Der abweichenden Darstellung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vermag das Gericht keinen Glauben zu schenken. In der Klageschrift unter dem Datum des 01.10.2009 ließ er nämlich ausführen, er habe die Erntehelfer zuvor dreifach abgemahnt, nachdem sie durch die Veränderung auf ein leistungsbezogenes Entgelt ihre Tätigkeit verweigert hätten. Als auch diese Abmahnungen nicht gefruchtet hätten, habe er den Erntehelfern wegen Leistungsverweigerung fristlos gekündigt und sie aufgefordert, die Hofstelle zu verlassen bzw. ihre Heimreise anzutreten. Der aktuelle Bevollmächtigte des Klägers hat sich von diesem Vortrag nicht distanziert. Die Darstellungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sind demgegenüber völlig neu und entsprechen auch nicht ansatzweise der Aktenlage.

Nach allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen ist zunächst der Störer verpflichtet, die eingetretene Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung selbst zu beseitigen. Die Erntehelfer waren hierzu nicht in der Lage. Sie hatten nicht die Möglichkeit, die drohende Obdachlosigkeit selbst abzuwenden. Hierzu waren sie finanziell nicht in der Lage. Bis auf zwei Erntehelfer waren sie erst 10 Tage auf dem Hof des Klägers beschäftigt. Entsprechend einer Liste der Auszahlungsbeträge nach den Unterlagen des Klägers (erstellt vom Hauptzollamt U. am 18.06.2008) hatten 20 Erntehelfer nach Abzug der Kosten für die Hin- und Rückfahrt (je 50,- EUR) sowie der Unterkunft noch keinen Lohnauszahlungsanspruch erworben. Abgesehen von Ansprüchen in zwei Fällen in Höhe von 275,40 EUR und 415,50 EUR betrug der Höchstbetrag nach dieser Liste 39,60 EUR. Die finanzielle Situation der Erntehelfer war am 05. und 06.06.2008 sogar so desolat, dass sie sich nicht einmal mit Nahrungsmitteln versorgen konnten. Die Beschaffung einer auch nur vorübergehenden Unterkunft außerhalb des Hofgeländes des Klägers und erst recht der Finanzierung der Rückreise in ihre Heimat war den Erntehelfern nach den gegebenen Umständen nicht möglich. Auch unter Ausklammerung der zwei Erntehelfer, die höhere Beträge ausgezahlt erhalten haben, ändert sich im Ergebnis an den Kosten für den Rücktransport nichts. Hinzu kommt, dass die Erntehelfer auch schon aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht allein im Stande gewesen wären, ihre Rückreise zu organisieren. Der Kläger, dem dies möglich gewesen wäre, war hierzu nicht bereit. Demnach war die Polizeibehörde zum Einschreiten verpflichtet. Da die Erntehelfer am Vormittag des 06.06.2008 entsprechend der Drohung des Klägers alsbald von dessen Grundstück verwiesen werden sollten, war zur Vermeidung der Obdachlosigkeit Eile geboten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen.

Die beklagte Gemeinde hat ihr Handlungsermessen mit der kurzfristigen Organisation des Rücktransports der Erntehelfer in ihre Heimat rechtsfehlerfrei ausgeübt. Die ergriffene Maßnahme ist vor dem Hintergrund der vorhandenen prekären Situation verhältnismäßig. Eine andere, in gleicher Weise geeignete Maßnahme - wie etwa die polizeiliche Einweisung der Erntehelfer in ihre bisherigen Unterkünfte - kam zur Verhinderung der Obdachlosigkeit schon wegen der angespannten Situation zwischen den Beteiligten nicht in Betracht. Weiter bleibt zweifelhaft, ob diese Unterkünfte den Mindestanforderungen entsprachen. Darüber hinaus strebten die Erntehelfer keinen Daueraufenthalt in Deutschland an. Die Einweisung in andere Unterkünfte hätte ebenfalls eine nur vorübergehende, aufenthaltsrechtlich problematische und erheblich kostenintensivere Maßnahme gegenüber dem Rücktransport dargestellt. Die von der beklagten Gemeinde getroffene polizeiliche Maßnahme ist daher rechtmäßig. Sie war somit grundsätzlich gemäß § 8 Abs. 2 PolG berechtigt, die hierfür angefallenen Kosten geltend zu machen.

Ob ein Störer gemäß § 8 Abs. 2 PolG zum Kostenersatz herangezogen wird, steht - entgegen dem Wortlaut der Vorschrift - im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Es entspricht allerdings dem Zweck der Ermächtigung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in der Regel die entstandenen Kosten vom Störer zu erheben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.09.1990 - 1 S 2805/98 -, NJW 1991, 1698 sowie auch Hess. VGH, Urteil vom 30.05.1994 - 11 OE 1684/92 -, NVwZ-RR 1995, 29). Eine atypische Situation lag hier nicht vor, so dass vom Regelfall des Kostenersatzes durch den Störer auszugehen ist.

Die Kostentragungspflicht trifft somit grundsätzlich den für den Gefahrenzustand Verantwortlichen. Anknüpfungspunkt für die Verhaltens- und für die Zustandshaftung nach §§ 6 und 7 PolG ist die Verursachung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bzw. eine Störung derselben. Hierbei reicht jedoch nicht jede Verursachung im naturwissenschaftlich-logischen Sinne aus, vielmehr ist die Störerhaftung zu begrenzen auf die nach Sinn und Zweck der Haftung in wertender Betrachtung zu ermittelnden polizeirechtlich relevanten Ursachen entsprechend der Theorie der unmittelbaren Verursachung. Hiernach kommt es darauf an, ob das Verhalten einer Person oder der Zustand einer Sache die polizeiliche Gefahrenschwelle überschritten hat, so dass dadurch die - verschuldensunabhängige - polizeirechtliche Störerhaftung gerechtfertigt erscheint (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 26.08.1993 - 9 K 582/93 -, VBlBW 1994, 212).

Der Kläger ist als Handlungsstörer anzusehen. Er hat durch seine fristlose Kündigung der Arbeits- und Mietverhältnisse die drohende Obdachlosigkeit herbeigeführt. Auf eine etwaiges Mitverschulden der Erntehelfer hierbei kommt es nicht an, denn die Störerhaftung ist nach der oben dargelegten Theorie der unmittelbaren Verursachung verschuldensunabhängig. Ursache für die drohende Obdachlosigkeit ist im vorliegenden Fall jedenfalls auch das Verhalten des Klägers. Der Kläger hat mit seinem Verhalten ferner die polizeiliche Gefahrengrenze überschritten. Zum einen hat er durch keine oder geringe Lohnzahlungen die Mittellosigkeit der Erntehelfer selbst herbeigeführt. Die finanzielle Situation dieser Personen war ihm angesichts der fehlenden Nahrungsmittel und deren Angewiesensein auf Vorschusszahlungen bekannt. Zum anderen hat er nicht ansatzweise den Versuch unternommen, eine Eskalation der Situation zu verhindern. Die von der beklagten Gemeinde getroffene Störerauswahl ist daher ermessenfehlerfrei erfolgt. Zwar sind im vorliegenden Fall sowohl der Kläger als auch die Erntehelfer Verhaltensstörer im Sinne von § 6 PolG. Die Ursache für den erforderlich gewordenen Personenrücktransport hat aber in maßgebender Weise der Kläger gesetzt. Er hat die Erntehelfer angeworben, dann die Arbeits- und Mietverhältnisse kurzfristig fristlos gekündigt und im Übrigen auch, soweit schon möglich, einen Anteil von 50,- EUR aus dem Lohnanspruch für die Rückreise einbehalten. Schließlich bestehenden gegen die Höhe der Kostenerstattung entsprechend der Rechnung des Busunternehmens keine Bedenken. [...]