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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 19.05.2011 - V ZB 15/11 - asyl.net: M18953
https://www.asyl.net/rsdb/M18953
Leitsatz:

Die gesetzliche Vermutung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kommt erst zum Tragen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Betroffene auch ab diesem Zeitpunkt seine geänderte Anschrift nicht mitteilt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausreisefrist, Anschrift, geänderte Anschrift, Untertauchen, Aufenthaltsort, Aufenthaltswechsel, Anzeigepflicht, Entziehungsabsicht, Ausreisepflicht,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

a) Das Amtsgericht und das Beschwerdegericht haben zu Unrecht das Vorliegen des Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG bejaht.

aa) Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11). Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts lief die Ausreisefrist der Betroffenen am 15. Dezember 2010 ab. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Betroffene aufgrund einer vorläufigen Inhaftierung nach ihrer Rücküberstellung aus der Schweiz bereits in öffentlichem Gewahrsam. Damit war sie für die Ausländerbehörde erreichbar, so dass eine Pflicht der Betroffenen zur Anzeige ihres Aufenthalts nicht bestand.

Soweit das Amtsgericht und das Beschwerdegericht daran anknüpfen, dass die Betroffene vor Ablauf der Ausreisefrist ihren Aufenthaltswechsel nicht angezeigt habe, vermag dies den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht zu begründen. Maßgeblich für die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird, ist der Umstand, dass der Betroffene nach Ablauf der Ausreisefrist für die Durchführung der Abschiebung nicht zur Verfügung steht, weil er die Ausländerbehörde nicht über seinen Aufenthaltsort unterrichtet hat (vgl. OLG München, OLGR 2007, 144, 145, juris Rn. 12; OLG Hamm, OLGR 2002, 332, juris Rn. 14). Wird dem Betroffenen eine Frist zur Ausreise gewährt, muss er vor Ablauf der Frist mit Abschiebungsmaßnahmen nicht rechnen. Daher begründet eine vor Ablauf der Ausreisefrist unterlassene Mitteilung eines Aufenthaltswechsels nicht die Vermutung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, der Betroffene werde für eine Abschiebung nicht zur Verfügung stehen. Die gesetzliche Vermutung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kommt vielmehr erst dann zum Tragen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Betroffene nun seine geänderte Anschrift nicht mitteilt; denn ab diesem Zeitpunkt muss er sich auf Abschiebungsmaßnahmen einstellen und seine Erreichbarkeit für eine Abschiebung gewährleisten. Geschieht dies nicht, ist allein aufgrund der Nichtanzeige seines Aufenthalts die Vermutung gerechtfertigt, dass er sich dem Zugriff der Ausländerbehörde entziehen will.

bb) Im Übrigen lässt sich weder den Feststellungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts noch den von der Behörde eingereichten Unterlagen entnehmen, dass die Ausländerbehörde die Betroffene über die Folgen einer unterlassenen Mitteilung über den Aufenthalt hingewiesen hat. Angesichts der in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG normierten einschneidenden Folgen einer unterlassenen Anzeige des Wohnortwechsels muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11, vgl. auch OLG Celle, InfAuslR 2004, 118; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rn. 44).

b) Die Feststellungen tragen auch nicht eine Haftanordnung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG.

Nach dieser Vorschrift ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Dies setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen des Ausländers voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahe legen, dass der Ausländer beabsichtigt, unterzutauchen oder die Abschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, Rn. 15, juris). Aus der Ausreise der Betroffenen in die Schweiz lässt sich nicht ohne Weiteres die Schlussfolgerung ziehen, dass sie sich einer Abschiebung entziehen wollte. Zwar hat die Betroffene, die aufgrund des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Schweizerischen Bundesrat über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (BGBl. 1996 II S. 945) wieder in das Bundesgebiet rücküberstellt wurde, rückschauend betrachtet ihre Ausreisepflicht nicht erfüllt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 62. Aktual. Februar 2009, § 57 AufenthG Rn. 16). Dies allein rechtfertigt jedoch nicht die Annahme einer Entziehungsabsicht. Weitere Umstände, die den Schluss rechtfertigen, die Betroffene sei allein mit dem Ziel des Untertauchens in die Schweiz ausgereist und nicht, um ihrer Ausreisepflicht nachzukommen, haben weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht festgestellt. [...]