VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 18.08.2011 - 6 B 821/11 - asyl.net: M18962
https://www.asyl.net/rsdb/M18962
Leitsatz:

Auf die nach Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers oder seines Familienangehörigen von der Ausländerbehörde nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU zu erlassende Abschiebungsandrohung ist gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz mit den sich aus § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 FreizügG/EU ergebenden Besonderheiten (Länge der Ausreisefrist, Vollzugsaussetzung im Falle der Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO) anwendbar. Für den Erlass der Abschiebungsandrohung ist folglich zweifelsfrei die hierfür nach Landesrecht bestimmte Ausländerbehörde (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG in Verbindung mit § 1 Satz 1 Nr. 1 HSOGDVO vom 12. Juni 2007 (HSOG-DVO), zuletzt geändert durch Verordnung vom 28. Januar 2011, GVBl. I S. 93, und §§ 1 und 1a der Verordnung über die Zuständigkeiten der Ausländerbehörden und zur Durchführung des Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes vom 21. Juni 2003, GVBl. I S. 260, zuletzt geändert durch Verordnung vom 7. Dezember 2009, GVBl. I S. 507) zuständig (Abgrenzung von VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14. Dezember 2010 - 11 S 1415/10 -, InfAuslR 2010, 420).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Verlust des Freizügigkeitsrechts, Freizügigkeitsrecht, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürger, Ausländerbehörde, Abschiebungsandrohung, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, Aufenthaltskarte, Freizügigkeitsgesetz, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehöriger Ehegatte, drittstaatsangehöriger Familienangehörige, Familienangehörige, Fiktionswirkung,
Normen: FreizügG/EU § 7 Abs. 1 S. 3, FreizügG/EU § 11 Abs. 2, AufenthG § 71 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 71 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 5 Abs. 2, AufenthG § 31, FreizügG/EU § 11 Abs. 2, AufenthG § 81 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers bleibt ohne Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das der Senat allein zu prüfen hat (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine von der Entscheidung der Vorinstanz abweichende rechtliche Beurteilung zu Gunsten des Antragstellers.

Die Beschwerde mit dem im Antrag allein genannten Ziel der Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist statthaft, indes nur zum Teil zulässig.

Der im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag des Antragstellers ist statthaft, soweit der Antragsteller geltend macht, durch die Entscheidung der Ausländerbehörde über seinen - inhaltlich nicht näher spezifizierten - Antrag sei zwar die Fiktionswirkung des erlaubten Aufenthalts entfallen, die erhobene Klage habe aber die Wirkung, dass die Vollziehung des Bescheides einstweilen entfalle.

Zunächst ist zu konstatieren, dass es sich bei dem Antrag des Antragstellers auf Erteilung eines Aufenthaltsrechts nicht um eine Verlängerung eines bereits bestehenden Aufenthaltstitels handelt. Der Antragsteller war nämlich nicht im Besitz eines deutschen Visums oder eines Aufenthaltstitels nach §§ 7, 9 oder 9a AufenthG, sondern hatte von der Antragsgegnerin am 12. Dezember 2007 eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU erhalten (Bl. 41 f. der Behördenakte - BA -). Der Antrag vom 5. Juli 2010 (Bl. 63 BA), auf den die Antragsgegnerin abstellt, ist hinsichtlich der Bezeichnung des Aufenthaltsgrundes völlig unbestimmt, beinhaltet aber das Begehren um ein Aufenthaltsrecht in Deutschland mit dem Hinweis auf die frühere Ehe und die Absicht, eine neue Ehe einzugehen. Zur Auslegung des Begehrens des Antragstellers ist zudem zu berücksichtigen, dass dieser Antrag im Zusammenhang mit der Anhörung nach § 28 Abs. 1 HVwVfG erfolgte, so dass die im Schreiben der Behörde vom 23. Juni 2010 angegebenen Möglichkeiten nach dem Freizügigkeitsgesetz und nach § 31 AufenthG dem Empfänger als einschlägig erscheinen mussten. Ausgehend von dem Status des Antragstellers als Familiengehöriger einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin ist deshalb zunächst auf § 3 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU abzustellen; die Voraussetzungen dieser Vorschrift hat die Antragsgegnerin auch geprüft und im Ergebnis zutreffend verneint. Eine Anwendung des Aufenthaltsgesetzes zugunsten des betroffenen Drittstaatsangehörigen erfolgt jedoch nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, so dass durch die Antragstellung einer Aufenthaltserlaubnis die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG entstehen kann. Folglich ist der Antrag auf Gewährung von Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO die statthafte Antragsart, da durch die Entscheidung der Antragsgegnerin im Bescheid vom 27. Juli 2010 die Fiktionswirkung endete.

Der Antragsteller hat erstinstanzlich einen solchen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage auch gestellt. Im Beschwerdeverfahren macht er indes geltend, die aufschiebende Wirkung der Klage bestehe originär und begehrt - nach dem Wortlaut des Antrags - die Feststellung dieser Rechtslage.

Der auf die Feststellung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs gerichtete Antrag ist in analoger Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO zwar grundsätzlich statthaft. Für ein derartiges Begehren besteht jedenfalls dann das erforderliche Feststellungsinteresse, wenn die Behörde von der sofortigen Vollziehbarkeit ihrer Entscheidung ausgeht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80, Rdnr. 136, 181 m.w.N.). So ist es hier. Die Antragsgegnerin bestreitet explizit, dass der Klage vom 11. August 2010 aufschiebende Wirkung zukomme. Indes kann im vorliegenden Verfahren unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen des Antragstellers und von Art. 19 Abs. 4 GG zu seinen Gunsten festgestellt werden, dass er auch in der Sache eine Entscheidung begehrt, um sein Verbleiben in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern. Deshalb erachtet der Senat das Beschwerdebegehren des Antragstellers auf umfassenden Rechtsschutz gerichtet, wobei § 80 Abs. 5 VwGO weitergehenden Rechtsschutz gewährleisten kann als die Feststellung, dass die aufschiebende Wirkung der Klage besteht oder nicht besteht.

Dem Rechtsmittel des Antragstellers liegt, wie sich aus dem oben wiedergegebenen Beschwerdeantrag herleiten lässt, inhaltlich die Vorstellung zu Grunde, dass der von ihm gegen die Verfügung der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin vom 27. Juli 2010 erhobenen Klage auch hinsichtlich der dort unter Nr. 3., 4. und 5. getroffenen Entscheidungen aufschiebende Wirkung zukomme, die durch eine gerichtliche Eilentscheidung festgestellt werden könne.

Hinsichtlich des Begehrens zur Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Nr. 3 des Bescheides vom 27. Juli 2010 enthaltene Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG fehlt es dem Antragsteller jedoch am Rechtsschutzbedürfnis für die Durchführung eines Beschwerdeverfahrens. Er räumt in der Begründungsschrift nämlich ein, dass ihm ein solcher Anspruch aus § 31 AufenthG nicht zusteht. Dass sich der Antragsteller nunmehr eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf einer anderen möglichen Grundlage berühmt - hier des § 28 AufenthG -, verhilft dem Begehren des Antragstellers nicht zum Erfolg. Im Rahmen des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung von Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nämlich Streitgegenstand allein, ob Eilrechtsschutz bezüglich des Erlöschens der Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG bezogen auf das Recht zum Aufenthalt besteht. Der Wechsel des Aufenthaltszwecks im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist jedoch nicht statthaft, da dem ein neuer Antrag bei der Ausländerbehörde vorausgehen muss (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 27.03.1996 - 13 TG 475/96 -, ESVGH 46, 238; Beschluss vom 05.02.2004 - 9 TG 2664/03 -, InfAuslR 2004, 185). Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bezüglich eines neu geltend gemachten Anspruchsgrundes ist in keinem Fall möglich.

Die Beschwerde ist indes - unabhängig davon, dass sie bezüglich der Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits unzulässig ist - in allen Teilen unbegründet.

Anders als bei den in der angefochtenen Verfügung enthaltenen weiteren Regelungen unter Nr. 1. und 2., mit denen der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt und die dem Antragsteller ausgestellte Aufenthaltskarte widerrufen wird, kommt dem Antragsteller bezüglich der im Beschwerdeverfahren allein noch streitgegenständlichen Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung eine aufschiebende Wirkung der Klage, von der das Verwaltungsgericht in Bezug auf die nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU ergangenen Entscheidungen ausgegangen ist, nicht zu Gute.

Hinsichtlich der auf Aufenthaltsrecht gestützten Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen des Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen eines eigenständigen Aufenthaltsrechts nach § 31 AufenthG folgt der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Klage, wie im erstinstanzlichen Beschluss zutreffend ausgeführt wird, aus § 84 Abs.1 Nr. 1 AufenthG. Hinsichtlich der gegen den Antragsteller ergangenen Abschiebungsandrohung kann die Klage deshalb keine aufschiebende Wirkung entfalten, weil diese bei Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 16 HessAGVwGO ausgeschlossen ist.

Dass die Abschiebungsandrohung in der angefochtenen Verfügung vom 27. Juli 2010 im vorgenannten Sinne als Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung den sich aus § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO und der vorgenannten landesrechtlichen Ausführungsvorschrift normierten Rechtswirkungen und nicht etwa abweichenden freizügigkeitsrechtlichen Regelungen oder Grundsätzen unterliegt, hat das Verwaltungsgericht zutreffend aus der Bestimmung in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU hergeleitet. Danach findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung, wenn die Ausländerbehörde - wie im vorliegenden Fall - das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat, sofern das FreizügG/EU keine besonderen Regelungen enthält. Besondere Regelungen im vorgenannten Sinne enthält das FreizügG/EU bezüglich der als Folge der Verlustfeststellung und/oder der Widerrufsentscheidung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU zu erlassenden Abschiebungsandrohung in § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU nur in Bezug auf die Länge der Ausreisefrist und der Vollzugsaussetzung im Falle der Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO. Folglich finden entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers auf die Abschiebungsandrohung im Übrigen mangels spezieller abweichender Regelungen im FreizügG/EU nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die Vorschriften und Grundsätze des (allgemeinen) Aufenthaltsrechts Anwendung. Folglich ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU ergehende Abschiebungsandrohung in gleicher Weise ausgeschlossen wie bei einer als Folge einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung erlassenen Abschiebungsandrohung. Die Rechtsfolgen nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU treten dabei schon mit dem Ergehen der Entscheidung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU ein; die Feststellung der Ausländerbehörde über das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU muss also nicht unanfechtbar sein (vgl. Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., Rdnr. 10 zu § 11 FreizügG/EU).

Dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage kann nicht entsprochen werden, denn die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin hat den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis offensichtlich zu Recht abgelehnt und auch die von ihr erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung stellen sich als offensichtlich rechtmäßig dar. Mit Rücksicht hierauf kann dem Interesse des Antragstellers, vorerst von einer Vollstreckung der Verfügung verschont zu bleiben, kein Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer umgehenden Vollziehung eingeräumt werden.

Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage eines eigenständigen Aufenthaltsrechts nach § 31 AufenthG steht dem Antragsteller wie dargestellt nicht zu und die hierauf bezogene Ablehnungsentscheidung der Ausländerbehörde ist daher zu Recht ergangen.

Die in der angefochtenen Verfügung enthaltene Abschiebungsandrohung erweist sich auch mit Blick auf die mit der Beschwerde geltend gemachten rechtlichen Bedenken als offensichtlich rechtmäßig. Entgegen der Ansicht des Antragstellers war die Antragsgegnerin für den Erlass der Abschiebungsandrohung zuständig.

Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für den Erlass der Abschiebungsandrohung folgt, weil das FreizügG/EU keine spezifischen Zuständigkeitsbestimmungen enthält, sondern lediglich bestimmt, dass die Entscheidung über Erteilung wie den Widerruf bzw. die Rücknahme der Aufenthaltskarte sowie die daran anknüpfenden Maßnahmen gemäß § 7 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 FreizügG/EU "die Ausländerbehörde" trifft, aus § 71 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG in Verbindung mit § 1 Satz 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung und zur Durchführung des Hessischen Freiwilligen-Polizeidienst-Gesetzes vom 12. Juni 2007 (HSOG-DVO), zuletzt geändert durch Verordnung vom 28. Januar 2011 (GVBl. I S. 93) und §§ 1 und 1a der Verordnung über die Zuständigkeiten der Ausländerbehörden und zur Durchführung des Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes vom 21. Juni 2003 (GVBl. I S. 260), zuletzt geändert durch Verordnung vom 7. Dezember 2009 (GVBl. I S. 507). § 1 Satz 1 Nr. 1 HSOG-DVO weist die Zuständigkeit u.a. für das "Ausländerwesen" den allgemeinen Ordnungsbehörden (§ 85 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 4 HSOG, § 4 Abs. 2 HGO, § 4 Abs. 2 HKO) zu. Nach den oben genannten Regelungen der Verordnung vom 21. Juni 2003 ist für die Aufgaben der Ausländerbehörde die Kreisordnungsbehörde zuständig, in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern - wie bei der Antragsgegnerin - ist diese als örtliche Ordnungsbehörde zuständig. [...]