VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 22.07.2011 - 3 A 6111/08 - asyl.net: M18994
https://www.asyl.net/rsdb/M18994
Leitsatz:

Eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG ist nicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unwirksam, wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung nicht positiv festgestellt werden konnte.

Es handelt sich dann jedoch um einen atypischen Fall mit der Folge, dass die Behörde eine Ermessensentscheidung über die Inanspruchnahme treffen muss. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Kostenübernahmeerklärung, Lebensunterhalt, Einreise, Besuchsvisum, finanzielle Leistungsfähigkeit
Normen: AufenthG § 68
Auszüge:

[...]

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 68 Abs.1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Danach hat derjenige, der sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch wenn sie auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen.

Die Klägerin hat am 08.03.2007 eine solche Erklärung abgegeben, um ihrer Mutter die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Diese Erklärung, bei der es sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung handelt, ist schriftlich und damit in der Form des § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt worden. Die Verpflichtungserklärung ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt.

Die Beklagte konnte die Klägerin aus dieser Verpflichtungserklärung auch in Anspruch nehmen, denn die Verpflichtungserklärung ist auch im Übrigen wirksam. Entgegen der Auffassung der Klägerin steht dem nicht entgegen, dass ihre finanzielle Leistungsfähigkeit im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung nicht hat festgestellt werden können. Dies führt nach Auffassung der Kammer nicht zur Unwirksamkeit der Verpflichtungserklärung wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. [...]

Der klare Wortlaut des § 68 AufenthG lässt nach Auffassung der Kammer eine solche Relativierung bereits auf der Ebene der Verpflichtung nicht zu. Wer eine Verpflichtung nach § 68 AufenthG eingegangen ist, hat - wenn die Ausländerbehörde im Hinblick auf diese Verpflichtungserklärung den Regelversagungsgrund als ausgeräumt angesehen und ein Visum erteilt hat - die für den Lebensunterhalt des Ausländers aufgewendeten öffentlichen Mittel zu erstatten, wenn der Ausländer deshalb in das Bundesgebiet hat einreisen können und die in § 68 Abs. 1 AufenthG benannten öffentlichen Mittel in Anspruch genommen hat. Der Umstand, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht festgestellt werden konnte, hat nicht per se die Unwirksamkeit der Verpflichtung zur Folge. Vielmehr liegt in diesem Fall eine bewusste Risikoentscheidung vor. Dies ist erst bei der im Rahmen der Heranziehung in einem solchen Fall zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (vgl. dazu auch Funke-Kaiser, GK Aufenthaltsgesetz, § 68 Rdnr. 15). [...]

Der Inanspruchnahme der Klägerin steht auch nicht entgegen, dass ihrer Mutter eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG erteilt worden war, nachdem sie einen Asylfolgeantrag gestellt hatte. Eine Aufenthaltsgestattung lässt die Verpflichtung nach § 68 AufenthG nicht entfallen. Die Verpflichtung aus der Erklärung endet, wenn sie - wie hier - nicht ausdrücklich befristet ist, nach Maßgabe der Auslegung im Einzelfall mit dem Ende des vorgesehenen Aufenthalts oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies aufenthaltsrechtlich anerkannt worden ist (BVerwG, Urt. vom 24.11.1998 - a.a.O., - Rdnr. 34; s. dazu auch VG Hannover, Urt. vom 20.11.2001 - 3 A 3320/01 -, NVwZ-RR 2002, 443 f.). Hier ist der ursprüngliche Aufenthaltszweck nicht durch einen anderen ersetzt worden. Die Mutter der Klägerin ist nicht als Asylberechtigte anerkannt worden. Ihr war lediglich eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz erteilt worden. Dabei handelt es sich nicht um einen Aufenthaltstitel im Sinne des Aufenthaltsgesetzes (vgl. dazu Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12.11.2008 - L 11 B 845/08 AY ER -, juris). [...]

Ein Ermessensfehler liegt auch nicht darin, dass die Beklagte die Klägerin zur Erstattung der für ihre Mutter aufgewendeten öffentlichen Mittel herangezogen hat, obwohl sie im Zeitpunkt der Inanspruchnahme Leistungen nach dem SGB II bezog. Die aktuelle Mittellosigkeit musste die Beklagte nicht zum Anlass nehmen, bereits von der Geltendmachung ihres Erstattungsanspruchs nach § 68 Abs.1 AufenthG abzusehen. Damit steht allerdings noch nicht fest, ob es der Beklagten letztlich gelingen wird, ihren Ersatzanspruch zu realisieren. Dies ist aber eine Frage der Vollstreckung, die von der grundsätzlichen Geltendmachung des Anspruchs zu trennen ist.

Die Beklagte hat bei ihrer Ermessensentscheidung auch den in diesem Rahmen zu berücksichtigenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Auffassung der Kammer nicht verletzt. Sie hat die Klägerin zunächst lediglich für die im Zeitraum vom 01.11.2007 bis 31.10.2008 aufgewendeten Leistungen und auch lediglich zu den Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz herangezogen. Darüber hinaus hat sie die Zahlung bis auf Widerruf ausgesetzt, solange die Klägerin Leistungen nach dem SGB II erhält. Damit hat die Beklagte dem Interesse der Klägerin an einer maßvollen Heranziehung hinreichend Rechnung getragen und auch ihre wirtschaftliche Situation berücksichtigt. Erst wenn die Klägerin aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausscheidet - was angesichts des Umstandes, dass die Klägerin über eine Berufsausbildung als Kosmetikerin verfügt, jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint - wird die Beklagte wegen der Erstattung der von ihr für ihre Mutter aufgewendeten öffentlichen Mittel erneut an die Klägerin herantreten. Bis dahin hat der angefochtene Bescheid für die Klägerin lediglich Titelfunktion ohne konkrete Auswirkungen auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse. [...]