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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 13.09.2011 - 5398570-438 - asyl.net: M19014
https://www.asyl.net/rsdb/M19014
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen angespannter medizinischer Versorgungslage im Nordirak, eingeschränkter Erwerbsfähigkeit und fehlenden familiären Rückhalts aufgrund langjährigen Auslandsaufenthalts (seit 1997).

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Irak, Nordirak, armenische Christen, Herzerkrankung, Diabetes mellitus, Nierenerkrankung, Depression, medizinische Versorgung, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die für die Folgeanträge angegebene Begründung führt zu einer für die Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Irak auszugehen ist. [...]

Bezugnehmend auf o.g. Kriterien ist im vorliegenden Fall von einer erheblich konkreten Gefahr auszugehen.

Die Antragsteller zu 1) und 2) leiden gemäß den vorliegenden Attesten an verschiedenen Krankheiten.

Beim Antragsteller zu 1) liegt u.a. eine fortgeschrittene stenosierende koronare Herzerkrankung vor. Auf Grund der Schwere der Erkrankung besteht die Notwendigkeit von regelmäßigen kardiologischen und angiologischen Kontrollen.

Aktuelle medikamentöse Therapie: Einnahme von b-Blockern, Thrombozytenaggregationshemmern und Nitraten.

Die Antragstellerin zu 2) leidet u.a. an einem fortgeschrittenen Diabetes mellitus mit Nieren- und Augenschädigung und an einer Depression. Als dauerhafte Medikation benötigt sie eine lebenslange Therapie mit Metformin 850 und Galvus 50.

Irak verfügt über kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Nur Personen, die für besondere Unternehmen und Organisationen arbeiten, haben Anspruch auf Deckung durch eine Krankenversicherung. Das Gesundheitssystem umfasst einen öffentlichen und einen privaten Sektor (vgl. International Organization for Migration (IOM), Informationen zu Rückkehr und Reintegration in das Herkunftsland - IRRICO II, Republik Irak, Stand: 05. November 2009, irrico.belgium.iom.int/images/stories/documents/iraq%20de-rev.pdf).

Das U.S.-Verteidigungsministerium führt in seinem Bericht von Juni 2010 aus, dass es im Gesundheitswesen zwar Verbesserungen gab, aber große Teile der Bevölkerung noch immer keinen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung haben (vgl. U.S. Department of Defense, June 2010: Measuring Stability and Security in Iraq - Report to the Congress. www.defense.gov).

In der KRG-Region sind nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) die Behandlungsmöglichkeiten und deren Qualität uneinheitlich. Tendenziell verschlechtern sich die Aussichten auf eine adäquate medizinische Behandlung bei zunehmender Schwere der Erkrankung, bei geringen finanziellen Mitteln des Erkrankten und mit größerer Distanz zu den Provinzhauptstädten (vgl. Looser, Marco. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Irak: Die soziökonomische Situation im Nordirak, Themenpapier, Mai 2010, Bern, 7. Juni 2010. S. 6). Nach den Erkenntnissen des Danish Immigration Service liegen die Hauptprobleme bei der medizinischen Versorgung in der KRG-Region einmal darin, dass die öffentlichen Krankenhäuser überfüllt sind und andererseits generell in der mangelhaften Versorgung mit Medikamenten sowie deren schlechter Qualität (vgl. Danish Immigration Service, Landinfo, Security and Human Rights Issues in Kurdistan Region of Iraq (KRI), and South/Central Iraq (S/C Iraq), Report from the Danish Immigration Service's (DIS), the Danish Refugee Council's (DRC) and Landinfo's joint fact finding mission to Erbil and Sulaymaniyah, KRI, and Amman, Jordan, 6 to 23 March 2009. S. 77 ff., www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/5EAE4A3C-B13E-4D7F-99D6-8F62EA3B2888/0/Iraqreport09FINAL.pdf).

Es ist daher davon auszugehen, dass bei der gegenwärtig sehr angespannten medizinischen Versorgungssituation im Irak (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 28.11.2010, Az.: 508-516.80/3 IRQ) eine hinreichende Versorgung der Antragsteller mit Medikamenten und Behandlungen nicht zu erwarten ist, so dass ihnen bei Rückkehr in den Irak gegenwärtig und auf absehbare Zukunft eine gravierende Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation drohen würde bzw. sogar Lebensgefahr bestehen würde.

Im vorliegenden Fall kann es im Übrigen dahingestellt bleiben, ob die den Antragstellern im Irak zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente ausreichen, um die drohende erhebliche Gesundheitsverschlechterung abzuwenden.

Vielmehr ist in ihrem Falle unter Berücksichtigung der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit und der bestehenden Multimorbidität zu erwarten, dass sie nach Rückkehr in den Herkunftsstaat bereits erhebliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Alltagsprobleme hätte. Erschwerend kommt hinzu, dass sie auf Grund des langjährigen Auslandsaufenthaltes (Ausreise 1997) kaum noch auf einen familiären Rückhalt zurückgreifen können.

Daher ist davon auszugehen, dass es ihnen nicht gelingt, sich ein zum Leben notwendiges wirtschaftliches Existenzminimum zu verschaffen und darüber hinaus die Vielzahl der Medikamente und notwendigen Behandlungsmaßnahmen selbst zu finanzieren.

Von dem nicht erreichbaren Existenzminimum betroffen sind auch die minderjährigen Kinder (Antragsteller zu 3) und 4)).

Somit ist festzustellen, dass ihnen nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht. [...]