VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 25.08.2011 - 2 A 402/10 - asyl.net: M19016
https://www.asyl.net/rsdb/M19016
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung im Folgeverfahren wegen veränderter Sachlage. Anders als noch bei Ablehnung des Asylantrags im Jahre 2007 sind nunmehr auch niedrigschwellige exilpolitische Aktivitäten wie gelegentliche Veröffentlichungen auf systemkritischen Internet-Plattformen und die Teilnahme an gegen das Assad-Regime in Syrien gerichtete Demonstrationen beachtlich. Bei einer Rückkehr drohen willkürliche Verhaftung und Folter. Aufgrund seines langen Aufenthalts im Ausland und seiner exilpolitischer Aktivitäten, die er seit Jahren fortführt, ist der Kläger besonders gefährdet.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Syrien, Asylfolgeantrag, Kurden, Änderung der Sachlage, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Willkür, Inhaftierung, Folter, Exilpolitik, Nachfluchtgründe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4, AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist im Hauptantrag begründet. Dem Kläger ist auf seinen Asylfolgeantrag hin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]

Die Identität des Klägers ist geklärt, nachdem er - unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung in dem Verfahren 2 A 373/06 - seine Heiratsurkunde aus Syrien besorgt und den deutschen Behörden vorgelegt hat. Zweifel an der Echtheit der Urkunde, die von der Deutschen Botschaft in Damaskus legalisiert worden ist, hat das Gericht nicht. Sein Vortrag im Asylfolgeverfahren vor dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren bezüglich seiner politischen Aktivitäten im Bundesgebiet müssen - unter Berücksichtigung der Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - das Bundesamt veranlassen, das mit Bescheid vom 21.09.2006 abgeschlossene Asylverfahren im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufzugreifen und insoweit eine Feststellung zugunsten des Klägers zu treffen. Dabei hat sich die Sachlage nicht dadurch geändert, dass der Kläger öfter oder intensiver als früher in der Öffentlichkeit auf seine regimekritische Auffassung aufmerksam gemacht hat; die im Sinne von § 51 Abs. 1 VwVfG veränderte Sachlage besteht vielmehr darin, dass sich die politischen Verhältnisse in Syrien geändert haben mit der Folge, dass - anders als noch im Jahre 2007 - auch niedrigschwellige Aktivitäten wie gelegentliche Veröffentlichungen auf systemkritischen Internet-Plattformen und die Teilnahme an gegen das Assad-Regime in Syrien gerichteten Demonstrationen die Aufmerksamkeit syrischer Geheimdienste auf sich lenken.

Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach einer Rückkehr nach Syrien gefoltert werden. Es entspricht ständiger Auskunftslage, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden, wobei sich diese Befragung über mehrere Stunden hinziehen kann (vgl. zuletzt: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010). Insgesamt häufen sich die Angaben über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen, wobei ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennbar ist. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Syrer als auch andere Personen, wobei es während der Haftzeit häufig zu körperlichen und psychischen Misshandlungen kommt. Das Gericht nimmt Bezug auf die allgemein zugänglichen Erkenntnismittel, die das Verwaltungsgericht Stuttgart in dem Urteil vom 06.05.2011 (A 7 K 510/09) benannt und ausgewertet hat.

Die Gefährdungslage hat sich bei Rücküberstellungen nach Syrien zur Überzeugung des Gerichts infolge der dortigen aktuellen politischen Ereignisse weiter verschärft. Seit dem Ausbruch der Massenproteste in Daraa im April 2011 gehen die syrischen Sicherheitskräfte mit allen Mitteln gegen tatsächliche und vermeintliche Feinde des Regimes von Präsident Assad vor. Seit Mai 2011 ist die Lage weiter eskaliert (siehe etwa die folgenden Presseberichte: "Tage des Schreckens in Syrien", FAZ vom 08.06.2011; "Sie können uns umbringen, aber nicht stoppen", Die Welt vom 14.06.2011; "Gewalt in Syrien hält an", NZZ vom 04.07.2011; "Erst verletzt, dann gefoltert", taz vom 07.07.2011 und "In der Gewalt des syrischen Systems", taz vom 18.07.2011). Das Göttinger Tageblatt berichtet in der Ausgabe vom 31.08.2011 über eine Verlautbarung von amnesty international (www.amnesty.de), in der von 88 männlichen Toten seit Beginn der Demonstrationen im Frühjahr 2011 gesprochen wird, wobei die Leichen Verletzungen durch stumpfe Gewalt, Zeichen von Peitschenschlägen und Schnittwunden sowie Verbrennungen von Zigaretten und verstümmelte Genitalien aufgewiesen hätten.

Offenbar kämpft das Regime des Präsidenten Assad - nach wie vor - mit allen Mitteln um das politische Überleben, wobei die Folter Inhaftierter durch "Sicherheitsbehörden" ein probates Mittel darstellt, um Informationen über die Person selbst und andere Regimegegner zu erhalten. Als mutmaßliche Feinde sieht es dabei nicht nur die Personen an, die sich in Syrien selbst an politischen Demonstrationen beteiligen, sondern in gleicher Weise alle diejenigen, die nach Syrien zurückkehren, nachdem sie bereits ihre Abneigung gegenüber dem System öffentlich geäußert haben. Aufgrund seines langen Aufenthaltes im Ausland und seiner exilpolitischen Aktivitäten ist der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien in besonderem Maße der konkreten Gefahr ausgesetzt, inhaftiert, befragt und dabei gefoltert zu werden. Hat er erst einmal syrischen Boden betreten, hat er keine Möglichkeit, sich dieser Tortur zu entziehen. Mithin ist das Leben oder jedenfalls die Freiheit des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner politischen Überzeugung bedroht, wenn er nach Syrien abgeschoben wird. Diese Verfolgung wird von dem Staat selbst ausgehen, wobei eine innerstaatliche Fluchtalternative selbstredend nicht in Frage kommt.

Zwar hat der Kläger die oben bezeichneten Umstände nach unanfechtbarer Ablehnung seines Asylerstantrages selbst geschaffen; gleichwohl hindert die Bestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG das Gericht nicht daran, dem Kläger nunmehr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die gesetzliche Missbrauchsvermutung hat der Kläger widerlegt, denn er hat Nachfluchtaktivitäten nach Ablehnung des Erstantrages nicht mit Blick auf die erstrebte Flüchtlingsanerkennung entwickelt oder intensiviert (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - InfAuslR 2009, 260). Der Kläger hat seine regimekritischen Veröffentlichungen, die es auch schon vor 2007 gegeben hat, lediglich in etwa demselben Umfang fortgesetzt. Es war dem Kläger bereits vor seiner Ausreise aus Syrien ein Anliegen, sich für die Sache der von dem in Syrien herrschenden Regime unterdrückten Kurden einzusetzen. Diese Haltung hat sich im Laufe der Zeit nicht geändert [...]