Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für afghanische Familie mit zwei Kleinkindern, weil sie selbst in Kabul ihr Existenzminimum nicht sichern könnten.
1. Der Familienvater wäre als gesundheitlich stark beeinträchtigter Mann nicht imstande, durch Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Ehefrau dürfte auf Grund der streng patriarchalischen Sozialnormen in Afghanistan als Frau ohne Erlaubnis nicht einmal das Haus verlassen, geschweige denn durch Arbeit zum Familienunterhalt beitragen; davon abgesehen, wäre sie wegen der Betreuung der Kleinkinder hierzu auch nicht in der Lage. Unterstützung durch die Großfamilie wäre vorliegend nicht möglich.
2. Die Rückkehrprogramme REAG/GARP bieten keinen Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung und sie stehen zudem unter dem Vorbehalt der Verfügbarkeit entsprechender Haushaltsmittel. Die Zusage einer finanziellen Unterstützung müsste, wenn sie rechtserheblich sein soll, rechtlich und tatsächlich geeignet sein, eine extreme Gefahr zu verhindern. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Kläger Hilfen aus den Programmen bekämen, würden diese nicht zur Sicherung des Existenzminimums ausreichen.
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2. Die Klage ist jedoch hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründet, weil ihnen als Familie mit zwei Kleinkindern im Falle einer Rückkehr nach Kabul eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben selbst in Kabul droht. [...]
Eine solche extreme allgemeine Gefahrenlage ergibt sich für die Kläger in Kabul - ein anderer Abschiebeort scheidet derzeit ohnehin aus (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.7.2010, S. 36) - nach Auswertung der vorliegenden, beigezogenen und bewerteten Auskünfte (vgl. dazu ausführlich z.B. VG Augsburg vom 28.02.2011 Az. Au 6 K 09.30054, juris).
Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich aus der Auskunftslage eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im Falle einer Rückführung nach Kabul jedenfalls für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund besonderer ethnischer oder religiöser Merkmale (wie z. B. Hazara und Hindu) zusätzlicher Diskriminierung unterliegen. Für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, die mit den Verhältnissen im Raum Kabul vertraut sind oder dort über familiäre oder soziale Netzwerke verfügen, ist zumindest die Möglichkeit gegeben, sich eine neue Existenz aufzubauen (so auch Sächs. OVG v. 23.8.2006, Az. A 1 B 58/06, juris, RdNr. 30; VG Schleswig-Holstein v. 15.3.2007, Az. 12 A 158/05, Urteilsabdruck S. 10, 18 f., beide zur Zumutbarkeit einer Tagelöhnertätigkeit im Baugewerbe). Selbst unter Berücksichtigung der besonderen Schwierigkeiten gerade beim Start in einer vom Krieg geprägten Stadt und der besonderen ethnischen und politischen Situation Kabuls ist dennoch für solche Rückkehrer nicht generell eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG anzunehmen (VGH vom 3.2.2011 Az. 13a B 10.30394).
Im Fall der Kläger ergibt sich daraus eine extreme Gefahrenlage im Sinne von §60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der Kläger zu 1 wäre bereits als gesundheitlich stark beeinträchtigter Mann nicht imstande, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es kann insoweit dahingestellt bleiben, ob aufgrund des Gutachtens von exilio tatsächlich von einer posttraumatischen Belastungsstörung des Klägers auszugehen ist. Eine weitere Aufklärung war deshalb auch nicht erforderlich. Jedenfalls steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aufgrund seiner Erlebnisse in Afghanistan erhebliche psychische Probleme hat. Es ist anzunehmen, dass diese in Afghanistan nicht behandelt werden können und ein hohes Risiko für eine Verschlechterung bei einer Rückkehr besteht. Auch wenn dies vielleicht für sich allein betrachtet noch nicht ausreichen mag, um eine Abschiebung zu verhindern, ist dies jedoch ein Punkt, der im Zusammenspiel mit der weiteren Situation des Klägers dazu führen wird, dass er in Afghanistan keine Arbeit finden wird und sein Existenzminimum, geschweige denn das für seine Familie, nicht wird sichern können (vgl. auch VG Regensburg vom 5.12.2008 Az. RN 5 K 07.30199;VG Würzburg vom 26.7.2007 Az. W 6 K 06.30006; VG Meiningen vom 21.1,2010 Az. 8 K 20125/09 Me). Zurzeit nimmt er auch noch Medikamente, die ein Neurologe ihm verschrieben hat. Er war nach eigenen, glaubhaften Angaben nicht auf der Schule und hat keinen Beruf erlernt, und nur als Bäcker bzw. in der Landwirtschaft gearbeitet. Er hat sich des Weiteren noch nie in Kabul aufgehalten, genau wie seine Ehefrau. Sie sind somit mit den örtlichen Gegebenheiten Kabuls nicht vertraut. Des Weiteren haben beide Kläger keine Verwandtschaft in Kabul. Ohne Unterstützung wird es ihm angesichts der wirtschaftlichen Lage in Kabul nicht möglich sein, eine Arbeit zu finden, seine Familie zu ernähren und zumindest das Existenzminimum zu sichern. Sie haben nach den glaubhaften Angaben der Kläger auch keine finanziellen Rücklagen. Nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung mussten sie ihr Haus verkaufen, um die Ausreise zu organisieren. Dies erscheint im Hinblick auf die hohen Kosten für die Schleusung glaubhaft. Anhaltspunkte für eigenes Vermögen liegen demnach nicht vor.
Des Weiteren würde der Kläger nicht alleine zurückkehren, sondern wegen des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern. Daher sind für die Prüfung von Rückkehrhindernissen alle vier Personen gemeinsam in den Blick zu nehmen, ihre einzelne und isolierte Rückkehr ist weder realistisch noch von Rechts wegen von ihnen zu fordern. Selbst wenn der Kläger für sich selbst einen ausreichenden Lebensunterhalt sichern könnte, ist für ihn aufgrund seiner familiären Verhältnisse mit zwei Kleinkindern im konkreten Einzelfall eine "unproblematische" Eingliederung in die Lebensverhältnisse in Kabul ausgeschlossen, so dass die Bejahung eines Abschiebungsverbotes aufgrund einer extremen Gefahrenlage geboten ist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan geht es nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers, vielmehr ist im Blick zu behalten, dass die gesamte Familie von den ausreichenden Lebensmöglichkeiten des Klägers abhängig ist.
Ohne familiäre Unterstützung ist jedoch dem Kläger in Kabul die Sicherung der Existenz seiner Familie nicht möglich. Seine Ehefrau hat zwar ab und zu den Nachbarinnen "die Haare gemacht"; dies reicht aber zu Sicherung des Lebensunterhaltes nicht aus. Hinzu kommt, dass Frauen in Afghanistan zwar grundsätzlich arbeiten dürfen, aber die Frauen traditionell von der Familie oder der Verwandtschaft unter Druck gesetzt würden, so dass sie keine Möglichkeiten hätten, etwas zu arbeiten, wie auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung geschildert hat. Davon geht das Gericht ebenfalls aus. Auf Grund der streng patriarchalischen Sozialnormen in Afghanistan darf eine Frau ohne Erlaubnis nicht einmal das Haus verlassen, geschweige denn durch Arbeit zum Familienunterhalt beitragen. Davon abgesehen, wäre sie wegen der Betreuung ihrer Kleinkinder dazu überhaupt nicht in der Lage. Damit wäre der Kläger jedenfalls der alleinige Ernährer der Familie in Kabul.
Sie können auch nicht auf Unterstützung durch die (Groß-)Familie zurückgreifen. Die Eltern des Klägers sind bereits verstorben, zwei Brüder leben illegal im Iran und haben selbst kein Geld. Auf Unterstützung der Schwestern kann ebenfalls nicht zurückgegriffen werden. Eine lebt ebenfalls im Iran, die andere zwar in Afghanistan. Diese ist aber verheiratet und deren Mann wird die Kläger nicht unterstützen können. Der in Herat lebende Bruder hat selbst psychische Problem und kann sogar seinen eigenen Sohn nicht zur Schule schicken, weil er ihn daheim benötigt, um die Familie ernähren zu können.
Auch die Rückkehrprogramme REAG/GARP ändern daran nichts. Diese stehen grundsätzlich nur freiwillig Ausreisenden zur Verfügung. Mit dem vorliegenden Bescheid wird aber die zwangsweise Abschiebung angedroht, so dass Rückkehrhilfen nicht in Betracht kommen. Selbst wenn man es den Schutzsuchenden grundsätzlich zumuten wollte, freiwillig zurückzukehren und entsprechende Programme in Anspruch zu nehmen (BVerwG vom 21.02.2006, Az. 1 B 107/05; BayVGH vom 17.04.2008, Az. 11 B 08.30038), kann dies bei der Prognoseentscheidung keine Rolle spielen. Die Zusage einer finanziellen Unterstützung müsste, wenn sie rechtserheblich sein soll, rechtlich und tatsächlich geeignet sein, eine extreme Gefahr zu verhindern. Bei den Programmen kann bereits nicht von einer rechtlich bindenden "Zusage" gesprochen werden. Zum einen besteht auf die Hilfe kein Rechtsanspruch, zum andern stehen sie unter dem Vorbehalt der Verfügbarkeit entsprechender Haushaltsmittel. Deshalb können sie dieser Entscheidung auch nicht zugrunde gelegt werden, da sich sonst die Frage stellen würde, was mit den Klägern passiert, wenn beispielsweise plötzlich die Haushaltsmittel gesperrt würden. Aber auch wenn man davon ausginge, dass die Kläger die Hilfe bekämen, betrügen diese nach Auskunft der Beklagten nur 1875 €. Nach den Feststellungen des VG Karlsruhe (Urteil vom 06.02.2008, a.a.O.) beträgt der monatliche Lebensbedarf in Kabul 100 €. Wenn man auch im Falle der Kläger, wie im dem Urteil des VG Karlsruhe zugrundeliegenden Fall, davon ausgeht, dass der Kläger ungefähr zwei Jahre benötigen würde, um sich in Kabul als Ortsunkundiger, der auf keine sozialen Strukturen zurückgreifen kann, eine Lebensgrundlage schaffen zu können, benötigt er dazu ein Startkapital von 2.400 € für sich alleine, ohne Berücksichtigung des Bedarfs seiner Ehefrau und seines Kindes. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Zeitraum von einem Jahr ausreichend sein müsste, würde die Starthilfe den Bedarf der ganzen Familie nicht decken können. Der VGH Mannheim (Urteil vom 16.06.2009, vgl. BVerwG vom 29.06.2010, Az. 10 B 33/09) geht sogar davon aus, dass ein Rückkehrer (ohne Familie) für ein Jahr Aufenthalt in Kabul ohne Arbeit etwa 5000 € benötigt. Die Feststellung, dass der durchschnittliche Tageslohn ca. 1 oder 2 US-Dollar betrage, sagt dagegen nichts darüber aus, ob dieses Einkommen auch für die Sicherung des Existenzminimums tatsächlich ausreichend ist.
Unabhängig von der finanziellen Situation kommt aber entscheidend dazu, dass die bedrohliche Gesundheits- und Versorgungslage in Afghanistan mit höchster Kindersterblichkeit und vielfach ungesichertem Zugang selbst zu sauberem Trinkwasser für den Sohn und das Kleinkind, Klägerin im Parallelverfahren, eine extreme Gefahr darstellt.
Daher ist der Familie eine Rückkehr nach Kabul nicht möglich. Nach umfassender Würdigung aller vorgenannten Umstände des Einzelfalles der Kläger droht ihnen dort eine existenzielle Lebensgefahr (vgl. zur Situation einer Familie im Einzelfall auch VGH vom 13.05.2011 Az. 13a ZB 10.30344 und zur Rückkehrgefahr für eine Familie nach Herat: Bescheid des Bundesamtes vom 26.2.2011 Az. 5390696-423 in Asylnet.de). Somit haben die Kläger einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Die Klage ist insoweit begründet. [...]