VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 10.03.2011 - M 22 K 10.30419 - asyl.net: M19036
https://www.asyl.net/rsdb/M19036
Leitsatz:

Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistans stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG darstellen, kann dahinstehen, da den aus Kabul stammenden Klägern nach Überzeugung des Gerichts keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Kabul, Sicherheitslage, erhebliche individuelle Gefahr, Gefährdungsdichte
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht nicht.

Dieses unionsrechtlich begründete Abschiebungsverbot setzt die Regelung des Art. 15 c der oben genannten EG-Qualifikationsrichtlinie um, bildet einen eigenen Verfahrens- bzw. Streitgegenstand und ist vorrangig vor dem (nationalen) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG zu prüfen; die Beschränkung des Satzes 3 des § 60 Abs. 7 AufenthG gilt in richtlinienkonformer Auslegung dabei nicht (siehe hierzu BVerwG vom 24.06.2008, Az.: 10 C 43/07; BVerwG vom 29.06.2010, Az.: 10 C 10/09; BVerwG vom 24.07.2010, Az.: 10 C 4/09).

Die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 neu in das Aufenthaltsgesetz eingefügte Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entspricht nach Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts trotz teilweise geringfügig abweichender Formulierung den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c QualfRL. Insbesondere müssen die Gefahren auch infolge willkürlicher Gewalt drohen. Dieses in Art. 15 Buchst. c QualfRL genannte Merkmal ist zwar nicht ausdrücklich in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG übernommen worden, ist aber im Rahmen des Abschiebungsverbots dennoch zu prüfen, da die Begründung zum Entwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes ausdrücklich darauf verweist, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Tatbestandsmerkmale des Art. 15 Buchst. c QualfRL umfasst und den subsidiären Schutz in Fällen willkürlicher Gewalt regelt (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, Az.: 10 C 43.07 u.a.).

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. [...]

Die Tatbestandsvoraussetzungen der "erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben" entsprechen denen einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie. Hierbei ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende - und damit allgemeine - Gefahr in der Person der Kläger so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt ausgeht, kann sich individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllen. Normalerweise hat ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt allerdings nicht eine solche Gefahrendichte, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden. Das ergibt sich unter anderem aus dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie, nach dem Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Ausgeschlossen wird eine solche Betroffenheit der gesamten Bevölkerung oder einer ganzen Bevölkerungsgruppe allerdings nicht, was schon durch die im 26. Erwägungsgrund gewählte Formulierung "normalerweise" deutlich wird. Eine allgemeine Gefahr kann sich aber insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind - etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage - können nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden. Im Übrigen gelten für die Feststellung der Gefahrendichte ähnliche Kriterien wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung. Hierfür müssen allerdings stichhaltige Gründe dargelegt werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Gefahr infolge von "willkürlicher Gewalt" drohen muss.

Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten im Sinn von Art. 1 Nr. 2 ZP II oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts die Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wären. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG vom 14.7.2009 - BVerwGE 134, 188 = NVwZ 2010, 196). Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG vom 27.4.2010 - NVwZ 2011, 51).

Die Kläger stammen aus Kabul, welches von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, internet: unama.unmissions. org) der Zentralregion Afghanistans (Provinzen Parwan, Kabul, Panjisher, Wardak, Logar und Kapisa) zugeordnet wird. UNAMA hat für diese Region 2009 280 zivile Tote bei einer Gesamteinwohnerzahl von 5,7 Millionen gezählt. Für das erste Halbjahr 2010 wurden 103 zivile Tote in der Zentralregion ermittelt (UNAMA, Afghanistan, Mid Year Report 2010, Protection of Civilians in Armed Conflict, S. 28). Eine weitere Angabe hinsichtlich der Verletzten enthalten die genannten Quellen nicht. Allerdings werden für Gesamt-Afghanistan für 2009 insgesamt rund 6.000 tote oder verletzte Zivilisten genannt (D-A-CH, Korporation Asylwesen Deutschland - Österreich - Schweiz, Sicherheitslage in Afghanistan, Juni 2010). Bei 2.412 Toten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 11.8.2010) sind damit rund 3.600 Verletzte festzustellen. Das entspricht den für das Jahr 2009 von UNAMA für Gesamt-Afghanistan ermittelten 2.412 getöteten und 3.566 verletzten Zivilisten. Für das erste Halbjahr 2010 wurden von UNAMA 1.271 Tote und 1.997 Verletzte angegeben. Damit beträgt für die Jahre 2009/2010 das Verhältnis Tote zu Tote/Verletzte rund 1:2,6. Für die Zentralregion lassen sich zusammengefasst für 2010 geschätzt rund 300 Tote und 480 Verletzte, also insgesamt rund 800 tote und verletzte Zivilisten feststellen. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in der Zentralregion im Jahre 2010 Opfer eines Anschlags zu werden, betrug damit rund 0,015 %, wobei die Zahlen des 2. Halbjahrs nur geschätzt sind.

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9. Februar 2022 war auch für 2010 ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen (S. 13). UNAMA berichtet, dass im ersten Halbjahr 2010 die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 31 % angestiegen sei. Anders als bisher mehren sich nach den Worten des Lageberichts jedoch die Anzeichen für eine Trendwende. Die Aufstandsbewegung ist erkennbar nicht länger in der Lage, Verluste zu kompensieren. Wichtiger noch, die Bevölkerung in den Aufstandsgebieten arbeitet zunehmend mit den nationalen und internationalen Sicherheitskräften zusammen (siehe Lagebericht a.a.O.).

Es ist demnach davon auszugehen, dass sich die Sicherheitslage im Jahr 2010 bei den Verletzten- und Totenzahlen nicht derart verschärft hat oder im Jahr 2011 sich derart verschärfen wird, dass bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts davon ausgegangen werden könnte, der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt habe ein so hohes Niveau erreicht, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (siehe dazu BayVGH, Urteil vom 03.02.2011, Az.: 13a B 10.30394).

Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr bei den Klägern durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. [...]