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VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 21.07.2011 - RO 9 K 11.30082 - asyl.net: M19039
https://www.asyl.net/rsdb/M19039
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für gesunden volljährigen Mann wegen der Versorgungslage in Afghanistan. Selbst wenn er nicht von Verwandten unterstützt werden kann, ist kein Grund dafür ersichtlich, dass er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft sichern könnte. Selbst wenn er in der freien Wirtschaft keine Arbeit findet, kann er ohne Probleme eine Tätigkeit im Staatsdienst finden. Nach der vom Gericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12.4.2010 im Verfahren RN 9 K 09.30149 benötigen die Sicherheitskräfte in Afghanistan Personal, es bestehe sogar ein akuter Mangel an Soldaten. Es ist dem Kläger als afghanischem Staatsangehörigen auch zuzumuten, sich seinen Lebensunterhalt z.B. als Soldat zu verdienen und dadurch seinen Beitrag zur Beseitigung der gegenwärtigen Lage in Afghanistan zu leisten. Die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft zur Verbesserung der Lage in Afghanistan werden nur dann erfolgreich sein, wenn die afghanische Bevölkerung selbst am Aufbau und an den Bemühungen um die Sicherheit des Landes teilnimmt und nicht lediglich Ausländer für sich arbeiten lässt.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

d. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn für ihn dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das Vorliegen einer Gefahr beurteilt sich nach dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert. Die Gefahr muss nicht vom Staat ausgehen und sie muss diesem auch nicht zugerechnet werden können. Die Gefahr muss landesweit bestehen und der Ausländer darf sich der Gefahr nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen können (vgl. BVerwG vom 17. Oktober 1995, Az. 9 C 9.95).

Konkrete Gefahren sind im Fall des Klägers nicht gegeben. Dem Kläger ist es nicht gelungen, das Gericht davon zu überzeugen, dass er einer Gefährdung ausgesetzt ist. [...]

Zur Lage der Bevölkerung in Afghanistan liegen Erkenntnisse vor, welche im Einzelfall unter Umständen durchaus auf eine lebensbedrohliche Gefährdung der Existenz aufgrund der allgemeinen Versorgungslage schließen lassen. Der Zustand der medizinischen Infrastruktur sei mangelhaft und diese schlecht in Stand gehalten. Es fehle an geschultem und ausgebildetem Personal und an medizinischen Beständen. Die medizinische Versorgung reiche nicht, um die medizinischen Grundbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung zu befriedigen (UNHCR vom 10. November 2009, S. 14).

In weiten Landesteilen bestehe keine medizinische Versorgung. Sie sei, insbesondere die stationäre Behandlungsmöglichkeit, völlig unzureichend und in etlichen Landesteilen, vor allem auf dem Lande, und nachts nahezu nicht existent bzw. nicht nutzbar. Lediglich in den großen Städten seien Apotheken vorhanden, die ein nutzbares Angebot an Medikamenten bevorraten. Eine gekühlte Lagerung von Medikamenten sei nicht gewährleistet. Medizinische Hilfe sei kaum erreichbar, allenfalls ambulant über Tag und bei Fehlen von Straßen- und Ausgangssperren. Notfälle könnten nachts vielfach keinerlei medizinische Hilfe erwarten (Auswärtiges Amt, Reisewarnung für Afghanistan vom 23.10.2009; sachlich unverändert auch Reisewarnungen vom 8. April 2010 und vom 17. Juni 2010).

Das Auswärtige Amt bestätigt für das Jahr 2009 eine deutlich bessere Erntebilanz als für das Dürrejahr 2008, was zu einer signifikanten Verbesserung der Gesamtversorgungslage geführt habe. 2010 sei die Ernte zwar etwas niedriger ausgefallen als im Vorjahr, jedoch immer noch deutlich über dem langjährigen Mittel. Gleichwohl sei die Versorgung in den ländlichen Gebieten sehr schwierig. In den Städten sei die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen nach wie vor schwierig. Staatliche soziale Sicherungssysteme seien praktisch nicht existent. Die soziale Absicherung erfolge traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten, stießen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet oder in einen solchen zurückkehren, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlten. Die medizinische Versorgung sei immer noch unzureichend. Für Rückkehrer sei die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheitsversorgung etc., häufig nur eingeschränkt möglich. Dies gelte insbesondere für Rückkehrer ohne Startkapital (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09. Februar 2011).

Über ein Drittel der Bevölkerung würde in Armut leben. Die Arbeitslosenquote in Afghanistan betrage rund 40 Prozent. Es herrsche Wohnungsknappheit. Nur rund 22 Prozent der Afghanen hätten Zugang zu sauberem Trinkwasser. In weiten Teilen Afghanistans herrsche Lebensmittelknappheit. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sei chronisch schlecht ernährt. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend und teilweise nahezu nicht existent. Für rückkehrende Personen sei ein starkes Familien-, Sozial- oder Stammesnetz von grundlegender Bedeutung. Ohne dieses könnten Personen in der heutigen Zeit nicht überleben (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 11. August 2010, Die aktuelle Sicherheitslage).

Die traditionell erweiterten Familien- und Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft würden weiterhin den vorwiegenden Schutz- und Bewältigungsmechanismus bilden. Afghanen seien auf diese Strukturen und Verbindungen zum Zweck der Sicherheit und des wirtschaftlichen Überlebens, einschließlich des Zugangs zur Unterkunft und eines angemessenen Niveaus des Lebensunterhalts angewiesen. Der von Familien und Stämmen gewährte Schutz sei auf jene Gebiete begrenzt, in denen familiäre oder gemeinschaftliche Verbindungen tatsächlich bestünden, insbesondere am Herkunftsort oder dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts. Die Rückkehr an Orte, die weder den Herkunfts- noch einen ehemaligen Wohnort darstellen, könne afghanische Staatsangehörige unüberwindbaren Schwierigkeiten aussetzen, insbesondere in Bezug auf den Erhalt oder den Wiederaufbau der Existenzgrundlage. Es sei deswegen unwahrscheinlich, dass Afghanen nach einer Neuansiedlung in einem Gebiet, einschließlich der städtischen Gebiete, in dem kein völliger Schutz durch die Familie, Gemeinschaft oder den Stamm bestehe, ein relativ normales Leben ohne unangemessene Härte führen könnten. Besonderen Schwierigkeiten könnten im Fall der Rückkehr folgende Personen ausgesetzt sein: Unbegleitete Frauen; weibliche Haushaltsvorstände; unbegleitete Kinder; unbegleitete ältere Personen; Opfer mit schwerwiegendem Trauma, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt; physisch oder psychisch behinderte Menschen sowie Personen, die (sowohl kurzfristig als auch langfristig, insbesondere Frauen) medizinische Hilfe benötigen (UNHCR vom 10. November 2009, S. 12, 15).

In verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG erscheint es daher angezeigt, ein Abschiebungsverbot aufgrund der schlechten Versorgungslage in Afghanistan dann festzustellen, wenn die Rückkehr einer Person in den Schutz einer Familie bzw. eines Stammes oder die Sicherung des Lebensunterhaltes aus eigenen Kräften ausgeschlossen erscheint sowie wenn diese Person zu einer der vom UNHCR benannten Personengruppen gehört.

e. Dies ist bei dem Kläger nicht der Fall. Er ist ein gesunder volljähriger junger Mann, bei dem selbst dann, wenn er nicht von Verwandten unterstützt werden würde, kein Grund dafür ersichtlich ist, dass er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft sichern könnte. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger selbst dann, wenn es ihm nicht gelingen sollte, nach seiner Rückkehr in Afghanistan in der sog. freien Wirtschaft Arbeit zu finden, wohl ohne Probleme eine Tätigkeit im Staatsdienst finden kann. Der vom Gericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12. April 2010 im Verfahren RN 9 K 09.30149 ist zu entnehmen, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan Personal benötigen, es bestehe sogar ein akuter Mangel an Soldaten. Auch aus dem Ausland zurückkehrende Afghanen können bei den Sicherheitskräften arbeiten. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger die Einstellungsvoraussetzungen nicht erfüllen könnte. Durch eine Tätigkeit bei den afghanischen Sicherheitskräften kann der Kläger seinen Lebensunterhalt sichern. Auch die medizinische Versorgung ist gesichert. Es finden sich keine Anhaltspunkte für eine negative Einstellung des Klägers gegenüber dem Staat Afghanistan oder für eine negative Einstellung des Staates Afghanistan gegenüber dem Kläger. Es ist dem Kläger in seiner Eigenschaft als afghanischem Staatsangehörigen auch zuzumuten, sich seinen Lebensunterhalt z.B. als Soldat zu verdienen und dadurch seinen Beitrag zur Beseitigung der gegenwärtigen Lage in Afghanistan zu leisten. Die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft zur Verbesserung der Lage in Afghanistan werden nur dann erfolgreich sein, wenn die afghanische Bevölkerung sich selbst am Aufbau und an den Bemühungen um die Sicherheit des Landes teilnimmt und nicht lediglich Ausländer für sich arbeiten lässt. Gegen eine mögliche Tätigkeit des Klägers bei den afghanischen Sicherheitskräften kann auch nicht mit Erfolg eingewendet werden, dass er dann einer besonderen Gefährdung ausgesetzt wäre und sich daraus ein Abschiebungsverbot ergeben würde. Aus der Situation der Bevölkerung im Allgemeinen und der Sicherheitskräfte im speziellen ließe sich keine den Kläger konkret treffende Gefährdung ableiten. [...]