VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17.03.2011 - 12 A 51/10 - asyl.net: M19041
https://www.asyl.net/rsdb/M19041
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr durch die Taliban wegen Sippenhaft, da der Vater des vorverfolgten Klägers als Offizier für Ahmad Schah Massoud tätig war. Keine interne Schutzmöglichkeit im Raum Kabul, da der beruflich nicht besonders qualifizierte Kläger dort weder unterstützende Familienmitglieder noch Freunde hat, so dass eine Existenzmöglichkeit für ihn dort nicht angenommen werden kann.

2. Die Bewertung des Vorbringens des Klägers als unglaubhaft dürfte das BAMF nicht verfahrensfehlerfrei gewonnen haben, da nicht dieselbe Person die Anhörung durchgeführt und die Entscheidung getroffen hat. Zwar lässt sich aus dem AsylVfG nicht zwingend herleiten, dass Anhörer und Entscheider identisch zu sein haben. Etwas anderes ist jedoch dann anzunehmen, wenn die Trennung im konkreten Fall zu einem Rechtsfehler führen könnte, etwa wenn die persönliche Anhörung grundsätzlich für die Beweiswürdigung von entscheidungserheblicher Bedeutung ist und die Entscheidung ganz wesentlich auf einer Glaubwürdigkeitsprüfung beruht. In diesen Fällen erscheint eine verfahrensrechtliche Trennung von Anhörung und Entscheidung weder sachgerecht noch möglich.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Sicherheitslage, interner Schutz, Kabul, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Existenzgrundlage, Glaubhaftmachung, Anhörung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Einzelentscheider, Sippenhaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, AsylVfG § 5 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG zur Seite steht. [...]

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Heimatland aus Furcht vor unmittelbar bevorstehenden Verfolgungsmaßnahmen der Taliban - einem nichtstaatlichen Akteur im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG, gegen dessen Verfolgung der afghanische Staat in den von den Taliban beherrschten Gebieten nicht in der Lage ist, Schutz zu bieten - verlassen hat. Er hat in der mündlichen Verhandlung am 17. März 2011 seinen Vortrag im Rahmen der Anhörung vertieft, wonach die Taliban die Eltern und seinen Bruder deshalb getötet haben, weil sein Vater zuletzt als Offizier für Ahmad Schah Massoud tätig war. Weiter hat er glaubhaft dazu vorgetragen, dass er nur deshalb kein Opfer der Taliban geworden ist, weil er sich zurzeit des Überfalls auf seine Familie bei seinem Onkel in der Provinz Thagau aufgehalten habe. Schließlich hat er auch in widerspruchsfreier Weise dargelegt, dass er selbst anschließend Opfer eines Anschlages der Taliban gewesen ist, als er zusammen mit seinem Cousin auf dem Weg in die Stadt war, um Besorgungen zu machen. Insoweit sind Widersprüche zu seinem Vortrag bei der Anhörung vor dem Bundesamt nicht aufgetreten, auf das Gericht machte der Kläger vielmehr einen glaubwürdigen Eindruck. Gerichtsbekannt ist, dass der - bei einem Anschlag vor mehreren Jahren - getötete Ahmad Schah Massoud, tadschikischer Volkszugehöriger, als einer der Köpfe der sog. Nordallianz gegen die Taliban gekämpft hat und somit in Gegnerschaft zu diesen stand. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus glaubhaft, dass der Kläger als Angehöriger eines - im höheren Rang stehenden - Anhängers des Ahmad Schah Massoud auch in den Blick der Taliban geraten ist und aufgrund einer ihm unterstellten politischen Überzeugung auch vor seiner Ausreise Repressalien bzw. sogar Anschlägen der Taliban ausgesetzt war. Damit liegt eine Anknüpfung der dem Kläger vor seiner Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung an asylerhebliche Merkmale vor.

Da der Kläger individuell verfolgt worden ist und sein Heimatland kurz darauf verlassen hat, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute. Nach dieser Bestimmung ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Eine Vorverfolgung kann nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - juris). Mit anderen Worten greift im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch dann, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage bestand (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.2009 - 10 C 24.08 -, juris).

Vorliegend sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wäre. Dabei legt das Gericht die folgende Auskunftslage zugrunde: [...]

Zwischen dem Verfassungsanspruch und der Verfassungswirklichkeit klafft bisher eine große Lücke. Nach Auffassung des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 28.10.2009 kann weiterhin nicht von einem funktionierenden Justizwesen gesprochen werden. In den Gerichten werde eher auf Gewohnheitsrecht und Vorschriften des islamischen Rechts als auf gültige Gesetze Bezug genommen (Lagebericht vom 28.10.2009). Es fehle sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch bei den Gerichten an einer hinreichenden Ausstattung mit Sachmitteln und geeignetem Personal. Im Justiz- und Verwaltungsbereich sei Korruption ein großes Problem. Zwar wird - unter maßgeblicher Führung Italiens - mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft das Gerichtswesen und das Gefängniswesen aufgebaut. Gleichwohl wird nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes die Schaffung eines funktionierenden Verwaltungs- und Gerichtssystems noch Jahre dauern. [...]

Zur Verfolgungsgefährdung einzelner Personen oder Gruppen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure führt das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 28.10.2009 aus, grundsätzlich seien die Machtstrukturen vielschichtig und verwoben, politische Rivalitäten beruhten oftmals auf ethnischen Konflikten und eine Abgrenzung zwischen staatlichen Strukturen und Opposition sei ebenso schwierig wie eine Unterscheidung staatlicher und nichtstaatlicher Akteure. Es gebe Hinweise, dass einzelne Regierungsmitglieder und einflussreiche Parlamentsabgeordnete die Verfolgung und auch Tötung politischer Gegner billigten, wenngleich auch von gezielter und zentral gesteuerter Verfolgung nicht die Rede sein könne. Private Racheakte gegen hochrangige ehemalige Repräsentanten des kommunistischen Systems könnten nicht ausgeschlossen werden, zum Teil auch durch Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter, die als Mudjaheddin gegen das DVPA-Regime gekämpft hatten. Ehemalige Kommunisten könnten sich in Kabul gefahrlos aufhalten, wenn sie über schützende Netzwerke und Kontakte, auch zu Regierungsvertretern, verfügten. Die Zentralregierung verfüge nicht über die notwendigen Machtmittel, um Bürger in Fällen privater Verfolgung in ausreichendem Maße zu schützen. [...]

Die grundsätzliche Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes wird auch durch andere auskunftsgebende Stellen gestützt. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe teilte in ihren Updates Afghanistan vom 03. Februar 2006 und 11. Dezember 2006 mit, die Zentralregierung habe außerhalb Kabuls in den 34 Provinzen wenig sichtbaren Einfluss und kaum Legitimität. Es herrsche ein Klima der Straffreiheit für einflussreiche Personen. Es werde befürchtet, dass ehemalige Kriegsherren ihre Mehrheit im Parlament dazu nutzen, eine allgemeine Amnestie für Kriegsverbrechen zu verabschieden. Staatliche Institutionen seien von umfangreicher Korruption geprägt, die Anerkennung und der Schutz von Individualrechten stark eingeschränkt. Im Kabinett Karzai und im neuen Parlament säßen nicht nur Taliban-Vertreter und Alt-Kommunisten, sondern auch Kriegsherren. Lokale Kriegsherren und Milizen verfügten weiterhin über Waffen, welche landesweit zur Einschüchterung und Beherrschung der Zivilbevölkerung eingesetzt würden. Die Entwaffnung der Milizen sei nicht landesweit umgesetzt worden. Obwohl in Städten wie Kabul ein eingeschränktes Justizsystem, eine einsatzwillige Polizei sowie die ISAF-Präsenz Schutz bieten können, bemesse sich der real verfügbare Schutz von Einzelpersonen (die u.a. von Kriegsherren wegen ihrer früheren Zugehörigkeit zur Hizb-e-lslami oder People's Democratic Party of Afghanistan (PDPA) bedroht oder verfolgt werden können) an deren einflussreichen Verbindungen in die Verwaltung, dem Einfluss des familiären Netzwerks, an familienübergreifenden Kontakten sowie an Kontakten innerhalb bestimmter Gemeinschaften. Der Justizsektor sei von Islamisten geprägt; der Zugang zu Gerichten begrenzt. Korruption im Justizsystem sei verbreitet. Lokale Milizen und gewöhnliche Kriminelle gingen oft straffrei aus. Insgesamt habe es auch bis 2009 kaum Fortschritte im Justizsystem gegeben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Update v. 11.08.2009). Kriegsherren und Anführer von Fraktionen, die Anfang der 90er Jahre für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, säßen heute offiziell in der afghanischen Regierung oder bekleideten hochrangige Posten in der Polizei, im Militär oder Geheimdienst bis hin zur Beratertätigkeit für Präsident Karzai. [...]

Ein Gewaltmonopol für die Regierung Karzai bejaht das Deutsche Orient-Institut in seiner Auskunft vom 23.09.2004 an das Sächsische Oberverwaltungsgericht lediglich - mit Einschränkungen - für den Großraum Kabul mit dem Hinweis, dass sich die Macht des Präsidenten vor allen Dingen auf die ISAF stütze, ohne deren Kräfte der Präsident nicht einmal in der Hauptstadt des Landes in der Lage sei, Entscheidungen durchzusetzen. Seine Macht beruhe im Wesentlichen auf dem Schutz, den die ISAF und die vielen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen böten, die in Kabul arbeiteten und die durch ihre Präsenz sowie die zum Teil auch privat eingekauften Sicherheitskräfte ein gewisses Sicherheitspotential schüfen. Zur Verfolgungswahrscheinlichkeit für zurückkehrende ehemalige Kommunisten, die früher eine herausgehobene Position innegehabt hätten, führt das Deutsche Orient-Institut aus, dass die Wahrscheinlichkeit der Realisierung des Verfolgungsrisikos sehr schwer einzuschätzen sei. Eine solche Verfolgung könne aber auch dann drohen, wenn die offizielle Politik eine solche Verfolgung eigentlich nicht vorsehe. Dies resultiere aus der inneren Uneinigkeit der in der Regierung Karzai versammelten Kräfte. Die hieraus resultierende Uneinheitlichkeit der Entscheidungen und Maßnahmen auf der individuellen Ebene stelle einen nicht unbeachtliches Gefährdungsfaktor dar, da es in Afghanistan natürlich nach wie vor, auch innerhalb der Regierung, Kommunistenhasser gebe.

Aus der Auskunftslage schließt das Gericht, dass für unverfolgt ausgereiste afghanische Staatsangehörige, die sich selbst keiner Menschenrechtsverletzung schuldig gemacht haben, im Großraum Kabul keine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung durch die Regierung Karzai besteht, dass aber umgekehrt die Regierung Karzai keinen ausreichenden Schutz in den Fällen bietet, in denen Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch Parteien oder Organisationen droht, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Ziff. c) AufenthG.

Für den Kläger gilt als Maßstab der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ergänzend Folgendes:

Dass in einer ländlichen Region, in der die - wie vom Kläger glaubhaft dargelegt - jedenfalls nachts Macht ausübenden Taliban auch im Falle einer Rückkehr des Klägers selbst nach mehreren Jahren der Abwesenheit ihn seinem für Ahmad Schah Massoud maßgeblich tätigen Vater zuordnen können und deshalb noch Anlass erneuter Bedrohung oder sogar Tötungsgefahr durch die Taliban besteht, ist keineswegs fernliegend. Der Vortrag des Klägers, dass die Taliban nicht nur in seiner Heimatregion, sondern auch in seinem Heimatdorf weiter präsent sind und auch nach ihm gefragt haben, deckt sich mit der Auskunftslage.

Eine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen seines Heimatlandes steht dem Kläger nicht zur Verfügung. Für diese Einschätzung im vorliegenden Fall ist noch nicht einmal entscheidend, dass die Prüfung einer anderweitigen internen Schutzmöglichkeit bei Vorverfolgung des Kläger derselben Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG unterliegt wie die Feststellung einer begründeten Verfolgungsfurcht für den Fall einer Rückkehr. Die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie enthaltene Beweiserleichterung in Form einer widerlegbaren Vermutung soll erkennbar beweisrechtlich diejenigen privilegieren, die in ihrem Heimatland tatsächlich bereits persönlich Verfolgung erfahren haben, weil sie diese entweder selbst erlitten haben oder von ihr unmittelbar bedroht waren (Urteil vom 19. Januar 2009 - BVerwG 10 C 52.07 - a.a.O.; Urt. v. 05.05.2009 - 10 C 21.08 -, NVwZ 2009, 1308). Der Kläger hat auch unabhängig von dieser Beweiserleichterung erkennbar keine Möglichkeit, in einem anderen Teil seines Heimatlandes einschließlich des Großraumes Kabul Zuflucht zu suchen und dort zu überleben. Im Hinblick hierauf ist folgende Auskunftslage zugrunde zu legen, die nach der Rechtsprechung der Kammer im Einzelfall auch Grundlage für die Zuerkennung eines - im vorliegenden Verfahren wegen des Erfolges des Hauptantrages nicht zu prüfenden - Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sein kann:

Die allgemeine Sicherheitslage ist weiterhin prekär und verschlechtert sich stetig. [...]

Die schlechte Sicherheitslage sowie die verbreitete Korruption bremsen auch die wirtschaftliche Entwicklung. [...]

Seit Ende 2001 ist die Zahl der Einwohner Kabuls von 900.000 auf mehr als 4 Mio. angestiegen; vielen Stadtgebieten droht der Kollaps. Der enorme Bevölkerungszuwachs hat zu einem akuten Mangel an Wohnraum und der Bildung großer Slum-Viertel geführt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH; Panhölzl aaO; Dr. Danesch, erg. Gutachten v. 24.08.2007). [...]

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die nicht wohlhabende Bevölkerung wird als unzureichend bezeichnet [...].

Die medizinische Versorgung sei in Afghanistan aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals völlig unzureichend [...].

Statt sozialer Sicherungssysteme sind weiterhin Familien und Gemeinschaftsstrukturen des Herkunftsortes für die Absicherung der Rückkehrer zuständig, da der Zugang zur Grundversorgung stark von funktionierenden Sozialnetzen abhängig ist (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007; Panhölzl aaO). Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen deshalb auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in größeren Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 17.03.2007; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Eine Rückkehr in andere Gebiete als die der ursprünglichen Heimat kann Afghanen vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellen - sowohl wirtschaftlich als auch die Sicherheitslage betreffend (Panhölzl aaO; UNHCR, Auskunft v. 30.11.2009 an BayVGH). Andererseits bringen Afghanen, die im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes in der Mehrzahl einen besseren finanziellen Rückhalt, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit, was ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil verschaffe (AA, Lagebericht vom 17.03.2007; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Die Probleme, mit denen sich die Rückkehrer konfrontiert sehen, sollen sich nach Einschätzung des UNHCR nicht von denen anderer Afghanen unterscheiden, aber viel prononcierter sein. Insbesondere die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Rechte wie Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheit, Versorgung etc. ist mit Problemen behaftet. Die Regierung ist bemüht, den ankommenden Rückkehrern mit der Zuweisung von Land bzw. der Unterbringung in festen Häusern eine Startmöglichkeit zu bieten. Da es allerdings oftmals an einer Langzeitstrategie fehlt, müssen die in den Wintermonaten untergebrachten Rückkehrer zum Sommer wieder in Zeltlager zurückkehren, die nicht als echte Flüchtlingslager angesehen werden können, sondern vielmehr informelle Siedlungen darstellen (AA, Lagebericht vom 17.03.2007). Wichtigste Einnahmequelle für 45 % der Rückkehrer in Städten ist die Arbeit als Tagelöhner, während 12 % als "kleine" Selbständige tätig sind und 11 % über keine regelmäßige Einkommensquelle verfügen (Panhölzl aaO). Als Haupthindernis für eine langfristige Integration wird der Mangel an wirtschaftlichen und sozialen Rechten gesehen. Zusätzlich werden Rückkehrer häufiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen, von Diebstahl, Raubüberfällen oder Entführungen (SFH, Afghanistan- update v. 11.12.2006; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). [...]

Wegen der übereinstimmend geschilderten katastrophalen Versorgungslage, insbesondere im Hinblick auf Unterkunft, Lebensmittel und medizinische Versorgung, in Verbindung mit der prekären Sicherheitslage kann für nicht freiwillig zurückkehrende Afghanen je nach den Umständen des Einzelfalles eine Existenzmöglichkeit in Kabul zu verneinen sein. [...]

Daraus folgt bezogen auf den Kläger, der glaubhaft angegeben hat, in Kabul weder über unterstützende Familienmitglieder noch über Freunde zu verfügen, dass eine Existenzmöglichkeit für ihn dort nicht angenommen werden kann. Eine qualifizierte Schul- oder Berufsausbildung, die ihn in die Lage versetzen würde, dort Zugang zu etwa vorhandenen qualifizierten Arbeitsmöglichkeiten zu erhalten, hat der Kläger nicht; er hat vor seiner Ausreise lediglich in der familiären Landwirtschaft oder im Lebensmittelgeschäft seines Onkels gearbeitet und auch in Deutschland keine weiteren Qualifikationen erworben. Hinzu kommt, dass er aufgrund seiner längeren Abwesenheit im Falle einer Rückkehr selbst nach Kabul auffallen würde und größere Schwierigkeiten hätte, sich im dortigen Überlebenskampf zu behaupten, als die Vielzahl dort integrierter männlicher Arbeitskräfte, die mit den mittlerweile in Kabul vorherrschenden Bedingungen und gesellschaftlichen wie ökonomischen Strukturen vertraut sind.

Schließlich merkt das Gericht im Hinblick auf die vom Bundesamt für die Ablehnung von Abschiebungsverboten in den Mittelpunkt gestellte Unglaubhaftigkeit des Vortrages des Klägers noch das Folgende an:

Dass sich der Kläger nicht auf Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen kann, schließt das Bundesamt im Wesentlichen daraus, sein Vortrag sei widersprüchlich, unsubstantiiert, vage, detailarm und deshalb unglaubhaft. Das Bundesamt dürfte diese Einschätzung der Einlassungen des Klägers jedoch nicht verfahrensfehlerfrei gewonnen haben. Denn die Person, die die Anhörung am 03. Dezember 2009 durchgeführt hat, ist nicht identisch mit der Person, die die angefochtene Entscheidung getroffen hat. Zwar lässt sich aus dem AsylVfG nicht zwingend ableiten, dass Anhörer und Entscheider identisch zu sein haben (vgl. VG Dresden, Urt. v. 14. Juli 2003, Az: 14 A 3163/99. A - juris; VG Frankfurt/ M., Beschl. v. 12.März 2001, Az: 9 G 699/01.AO (2) - juris; VG Schleswig, Urteil vom 26.Juni 2006 - 1 A 8/06 -). Denn das AsylVfG schreibt nicht vor, dass Anhörung und Entscheidung von ein und derselben Person getroffen werden müssen. Aus den maßgeblichen Normen des AsylVfG (§§ 25 u. 31 AsylVfG) ergibt sich nicht, dass allein der Umstand, dass der zur Entscheidung Berufene den jeweiligen Asylbewerber nicht persönlich angehört hat, dazu führt, dass eine Entscheidung über den Asylantrag nicht rechtmäßig getroffen werden könnte. Etwas anderes ist jedoch dann anzunehmen, wenn die Trennung im konkreten Fall tatsächlich zu einem Rechtsfehler geführt haben könnte. Dies ist der Fall, wenn die persönliche Anhörung des Asylsuchenden grundsätzlich für die Beweiswürdigung von entscheidungserheblicher Bedeutung ist und die Entscheidung über ein Asylbegehren ganz wesentlich auf einer Glaubwürdigkeitsprüfung beruht und somit grundsätzlich eine verfahrensrechtliche Trennung von Anhörung und Entscheidung weder sachgerecht noch möglich erscheint (Beschluss des VG Frankfurt/Oder vom 23.März 2000 - 4 L 167/00 -, AuAS 2000, 126 ).

Das Gericht verkennt nicht, dass die Einzelentscheider des Bundesamtes nach der entsprechenden Änderung des § 5 Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung zum 1. Januar 2005 nicht mehr weisungsungebunden zu entscheiden haben. Dadurch sind Entscheidungen gegen die eigene Überzeugung nicht ausgeschlossen. Gerade aber die aus § 5 Abs. 2 AsylVfG folgende Weisungsgebundenheit der Entscheider im Verhältnis zum Leiter des Bundesamtes macht es umgekehrt erforderlich, dass die humanitär ausgerichtete Rechtsentscheidung über die Gewährung von Asyl oder Flüchtlingsschutz, die von der Natur der Sache her auf einer subjektiven Einschätzung der vorgebrachten Tatsachen und Umstände beruht, im Übrigen ohne Einflussnahme von Außen erfolgt. Dies dürfte es jedenfalls dann ausschließen, die Entscheidung von einer anderen Person treffen zu lassen als derjenigen, die die Anhörung durchgeführt hat, wenn die Entscheidung - wie hier - maßgeblich von der Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Asylbewerbers getragen wird (vgl. zum Ganzen: VG Göttingen, Beschluss vom 18. Februar 2010 - 2 B 301/10 sowie Marx, AsylVfG, 7. Auflage, § 5 Rn. 30). [...]