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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 21.06.2011 - A 6 K 3353/10 - asyl.net: M19042
https://www.asyl.net/rsdb/M19042
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage. Wenn die Kläger nach Kabul abgeschoben würden, hätte der Kläger zu 1. dort keinerlei Netzwerk und auch keinen Beruf, um der Familie beim Überleben helfen zu können. Der Kläger hat auch keine finanziellen Mittel mehr für eine Existenzsicherung.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Schiiten, Hesbe Wadat, Wahlen, Karsai, Wahlpropaganda, medizinische Versorgung, allgemeine Gefahr, Sicherheitslage, Herat, Kabul, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.08.2010 ist jedoch insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, als das Bundesamt verneint hat, dass bei ihnen ein (nationales) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.

Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das ist bei den Klägern aufgrund der in Afghanistan derzeit noch immer bestehenden katastrophalen Versorgungslage der Fall. [...]

Zwar dürfte im Hinblick auf die Gefährdung durch Minen zumindest in den Städten, die von Minen weitaus besser geräumt sind als ländliche Gebiete, die Gefahrenlage nicht mehr extrem sein. Entsprechendes dürfte für die Sicherheitslage gelten, die zwar auch im Raum Kabul immer noch fragil, wegen der Anwesenheit der ISAF-Truppen aber vergleichsweise zufriedenstellend ist. Damit kann auch insoweit nicht von einer landesweiten extremen Gefahrenlage ausgegangen werden (vgl. die bisherige Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteil vom 15.06.2010 - A 6 K 932/10).

Jedoch liegen hinsichtlich der Versorgungslage unter Berücksichtigung der bei den Klägern festzustellenden Besonderheiten die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts vor, denn sie gehören zu der Gruppe der afghanischen Staatsangehörigen, die in ihrer Heimatregion nicht leben können, aber auch in Kabul ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie und Bekannte sind und dort weder über Grundbesitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügen. Für diese Personengruppe besteht aufgrund der derzeit katastrophalen Versorgungslage bei einer Abschiebung nach Kabul eine extreme Gefahrensituation im dargelegten Sinne (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.05.2009 a.a.O.; Hessischer VGH, Urteil vom 26.11.2009 - 8 A 1862/07.A -, juris und OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.05.2008 - 6 A 10749/07 -, AuAS 2008, 188; VG Augsburg, Urteil vom 28.02.2011 - Au 6 K 09.30120 - , juris; Schleswig- Holsteinisches VG, Urteil vom 17.02.2011 - 12 A 53/10 -, juris; VG Meinigen, Urteil vom 16.09.2010 - 8 K 20031/10 Me -, juris; a.A.: Bay. VGH, Urteil vom 03.02.2011 - 13a B 10.30394 -, juris). Der Kläger zu 1 hat glaubhaft angegeben, er könne mit seiner Familie in der Region Herat nicht mehr leben, weil er dort vom "verrückten Sultan" (Sultan Devana) wegen seiner Religion und wegen Wahlpropaganda Gefahren für Leib und Leben zu erwarten hätte. Ob dies politische Verfolgung darstellen würde, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Er hat in der mündlichen Verhandlung nochmals ausführlich und ohne Widerspruch zu vorigem Vorbringen erklärt, weshalb ihm dieser Mann nach dem Leben trachte und dass dieser ohne zu zögern töte. Er habe auch Angst um seine Frau und die anderen Familienmitglieder gehabt. Neben dem guten, seriösen Eindruck, den er auf das Gericht machte, spricht für seine Glaubwürdigkeit auch der Umstand, dass es nicht plausibel wäre, weshalb ein Geschäftsmann alles aufgeben würde, um mit Familie, Mutter und Schwester in eine ungewisse Zukunft zu fliehen.

Gegen seine Glaubwürdigkeit spricht auch nicht, dass seine Frau, Mutter und Schwester nichts über die Wahlpropaganda wussten, die er betrieb. Sie sagten übereinstimmend und einleuchtend, dass den Frauen bei ihnen so etwas nicht erzählt werde und dass die Frauen ohnehin nur zu Hause blieben. Sie bekamen aber immerhin die Spannungen im Dorf mit und hatten daher selbst Angst.

Die Kläger könnten mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch nicht in Kabul überleben. Sie sind mittellos, und der Kläger zu 1 ist nicht besonders gesund. Zudem wären die Kläger zu 3 und 4 zu versorgen. Sie haben in Kabul keinerlei Netzwerk, das ihnen helfen würde.

Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09.02.2011). Mehr als 50 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Ein Großteil der afghanischen Bevölkerung hat keine Arbeit oder ist stark unterbeschäftigt, was bedeutet, dass viele Familien ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 11.08.2009 a.a.O.). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 09.02.2011 über die Lage in Afghanistan ist in den Städten die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen nach wie vor schwierig. Auch die medizinische Versorgung sei - trotz mancher Verbesserungen - aufgrund fehlender Medikamente, Geräte, Ärztinnen und Ärzten sowie mangels gut qualifizierten Assistenzpersonals immer noch unzureichend. Afghanistan gehöre weiterhin zu den Ländern mit den weltweit höchsten Kinder- und Müttersterblichkeitsraten in der Welt. Nach Angaben von UNICEF liege die durchschnittliche Lebenserwartung bei lediglich 44 Jahren. Auch in Kabul, wo es mehr Krankenhäuser als im übrigen Land gebe, sei für die Bevölkerung noch keine hinreichende medizinische Versorgung gewährleistet Diese Einschätzung der völlig unzureichenden medizinischen Versorgung wird auch von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in der Stellungnahme vom 11.08.2009 geteilt.

Hinsichtlich der Grundversorgung führt das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 09.02.2011 aus, dass die verbreitete Armut in Afghanistan landesweit nach wie vor vielfach zu Mangelernährung führe, obwohl die Ernte 2010 deutlich über dem langjährigen Mittel liege. Im Lagebericht vom 28.10.2009 teilte das Auswärtige Amt mit, dass aufgrund günstiger Witterungsbedingungen mit weit überdurchschnittlichen Niederschlägen die Ernteaussichten für das Jahr 2009 deutlich besser seien als im Dürrejahr 2008. Von den verbesserten Rahmenbedingungen würden grundsätzlich auch die Rückkehrer profitieren. Gleichwohl bleibe die Lage der Menschen in den ländlichen Gebieten, insbesondere des zentralen Hochlandes problematisch. Eine ähnliche Einschätzung findet sich im Lagebericht vom 09.02.2011. Schließlich seien staatliche soziale Sicherungssysteme wie Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung praktisch nicht existent. Die soziale Absicherung liege traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Stammesverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren würden, würden auf größere Schwierigkeiten stoßen als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehren würden, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen würden. Von den "Zurückgebliebenen" würden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Dr. Mostafa Danesch hat in seiner Stellungnahme an den Hess. VGH vom 07.10.2010 ausgeführt, die Lebensverhältnisse in Afghanistan seien inzwischen so dramatisch, dass ein alleinstehender Rückkehrer keinerlei Aussicht hätte, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Das einzige "soziale Netz" in Afghanistan seien die Großfamilie und/oder der Freundeskreis. Über beides verfügen die Kläger in Kabul nicht, und in Herat wären sie vom "verrückten Sultan" bedroht. Ähnlich prekär wie Dr. Danesch schildert Amnesty International die Versorgungslage in der Stellungnahme vom 20.12.2010 an den Hess. VGH.

Die Kläger erfüllen die Voraussetzungen der vom Auswärtigen Amt und den anderen Gutachtern geschilderten Rückkehrrisiken, wie oben dargelegt wurde. Das Gericht ist wie ausgeführt davon überzeugt, dass der Kläger zu 1, wenn die Kläger nach Kabul abgeschoben würden, dort keinerlei Netzwerk und auch keinen Beruf haben würde, die der Familie beim Überleben helfen könnten. Da die Kläger selbst auch keine finanziellen Mittel mehr für eine Existenzsicherung haben, droht ihnen bei einer Abschiebung nach Kabul eine extreme Gefahr, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 7 S. 1 AufenthG begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.08.2010 war mithin aufzuheben, soweit er der Feststellung des Abschiebungsverbotes entgegensteht. [...]