VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 16.06.2011 - 8 A 2011/10.A - asyl.net: M19045
https://www.asyl.net/rsdb/M19045
Leitsatz:

1. In Kabul findet derzeit wohl kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG statt, jedenfalls würde für den Kläger daraus keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt resultieren, zumal ihm als nicht vorverfolgt ausgereistem Flüchtling die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zugute kommt.

2. Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da der psychisch kranke Kläger (PTBS, schwere Depression, Gefahr der Retraumatisierung) dringend der weiteren Behandlung bedarf. Diese könnte er in Afghanistan, auch in Kabul, aus infrastrukturellen Gründen und aufgrund eines fehlenden Sozialversicherungssystems nicht erlangen, zumindest aber nicht finanzieren.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Glaubwürdigkeit, Sachverständigengutachten, Vorverfolgung, Zwangsrekrutierung, Taliban, Kabul, Verfolgungsgefahr, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Abschiebungsverbot, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Logar, Sicherheitslage, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gefährdungsdichte, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Retraumatisierung, medizinische Versorgung, Medikamente, extreme Gefahrenlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist jedoch nur insoweit begründet, als sich der Kläger auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG beruft; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil ist davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan nicht mit politischer Verfolgung, Folter bzw. sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung rechnen muss, so dass weder seine Anerkennung als Konventionsflüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG noch die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG in Betracht kommt. [...]

Auch die Voraussetzungen für ein - eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 S. 1 ausschließendes und deshalb vorrangig zu prüfendes (BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 -, NVwZ 2010, 249 = juris Rn. 9 ff.) - subsidiäres Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG, wonach - in Umsetzung des subsidiären Schutzes nach Art. 15 c QRL - von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist, sind im Falle des Klägers in Bezug auf Afghanistan nicht gegeben.

Ob in seiner Heimatregion, der Provinz Logar, derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen der afghanischen Regierungsarmee/ISAF/NATO einerseits und den Taliban und anderen oppositionellen Kräften andererseits herrscht, kann dahinstehen. Da der Kläger im Fall einer Abschiebung voraussichtlich in Kabul ankommen würde, wo er zuletzt gewohnt hat und seine Familie jetzt lebt, ist die Rückkehrprognose für die afghanische Hauptstadt aufzustellen. Dort herrscht aber trotz der in der Berufungsschrift geschilderten Übergriffe kein bewaffneter Konflikt von solcher Dichte, dass darauf § 60 Abs 7 S. 2 AufenthG angewandt werden könnte (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 - BVerwGE 134,188 = juris Rn.14, 17; Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = juris Rn. 20 ff.).

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 - (BVerwG 131,198 = juris Rn. 18 ff.) Merkmale dieses "europarechtlichen" Abschiebungsverbots unter Heranziehung der Qualifikationsrichtlinie näher präzisiert. [...]

Mit seinem Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, a.a.O.), mit dem ein Urteil des erkennenden Senats im Fall eines aus der - südlich von Kabul und der ursprünglichen Heimatprovinz des Klägers (Logar) gelegenen - Provinz Paktia stammenden und ebenfalls vor drohender Zwangsrekrutierung durch Taliban geflohenen Afghanen aufgehoben und die Sache an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen worden ist, hat das Bundesverwaltungsgericht die Anforderungen an die Feststellungsdichte für die Annahme einer "erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben ... infolge willkürlicher Gewalt" nochmals präzisiert und erheblich erweitert:

"... Das Berufungsgericht hat zwar das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Herkunftsgebiet des Klägers zutreffend bejaht (aa). Seine Auffassung, dass der Kläger im Rahmen dieses Konflikts einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt wäre, ist aber mit den rechtlichen Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht in vollem Umfang vereinbar. Insbesondere reichen die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht für die Annahme aus, dass dem Kläger wegen eines vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden ernsthaften Schadens die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zugute kommt (bb). Außerdem fehlt es auch an ausreichenden Feststellungen dazu, dass die Situation in der Herkunftsregion des Klägers durch einen so hohen Grad willkürlicher Gewalt gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre oder zumindest der Kläger als Zivilperson aufgrund gefahrerhöhender persönlicher Umstände in dieser Weise individuell bedroht wäre ..."

Nach den in diesem Urteil präzisierten Kriterien und den vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass in Kabul derzeit wohl kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt stattfindet und jedenfalls für den Kläger daraus keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt resultieren würde, zumal ihm als nicht vorverfolgt ausgereistem Flüchtling die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zugute kommt.

Soweit der Kläger auf den Seiten 5 bis 7 der Berufungsbegründung unter Bezugnahme auf eine gutachtliche Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Danesh, die als Privatgutachten bei dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof zu Az. 8 A 554/08.A. vorgelegt worden ist, und unter Hinweis auf eine Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 11. August 2009 (Afghanistan Update) die Ansicht vertreten hat, es könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er bei Rückkehr nach Afghanistan erneut Opfer weiterer Rekrutierungsmaßnahmen bzw. von Vergeltungsaktionen der Taliban werden könne, ist zunächst zu bemerken, dass er den Prognosemaßstab für Vorverfolgte angelegt hat, während hier zu prüfen ist, ob solche Übergriffe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten wären. Die Tatsachendarstellungen in den vom Kläger zitierten und dem Senat sonst vorliegenden Quellen sind nicht ausreichend, um die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderliche Gefahrendichte zu begründen (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.98 -, a.a.O.). Nach den in der Berufungsbegründung zitierten Quellen besteht nicht mehr als eine vage Möglichkeit, dass der Kläger den Taliban in Kabul erstmals auffällt, zumal seine Familie dort offenbar in geordneten, in der mündlichen Verhandlung noch näher aufgeklärten Verhältnissen lebt, der Kläger dort - ebenso wie seine Geschwister - die Unterstützung seiner Familie finden könnte und sich angesichts seiner relativ guten Schulausbildung auch eigene wirtschaftliche Existenzmöglichkeiten erschließen könnte. Im Übrigen sprechen z.B. die Feststellungen des Auswärtigen Amts in seinem jüngsten Lagebericht Afghanistan vom 9. Februar 2011 (Seite 4) eher für eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage in Kabul in den letzten drei Jahren, wobei nicht verkannt wird, dass auch in diesem Zeitraum in Kabul Autobomben gezündet und sonstige Anschlagsversuche unternommen worden sind, wobei allerdings die Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung außerhalb afghanischer Regierungskreise eher besser geworden sein soll. Auch daraus lässt sich keine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung des Klägers persönlich herleiten.

Der Kläger geriete jedoch im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul wegen seiner behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung in eine ausweglose Lage, weil wegen der dort fehlenden Behandlungsmöglichkeiten eine ernste Gefahr für Leib und Leben bestünde, so dass ihm eine Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG zur Seite steht. Zur Schwere der Erkrankung und zu Art und Verfügbarkeit notwendiger medizinischer Leistungen in Afghanistan hat der Senat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben. Da Erkenntnisse speziell zu den Behandlungsmöglichkeiten posttraumatischer Belastungsstörungen oder schwerer Depressionen in Kabul den bislang vorliegenden Quellen nicht zu entnehmen sind, hat der Senat keine Bedenken, den glaubhaften Bekundungen der sachverständigen Zeugin zur Unerreichbarkeit einer für den Kläger notwendigen Gesprächstherapie mindestens durch Sozialtherapeuten sowie zur fehlenden Verfügbarkeit der zur Begleitung der Therapie je nach Krankheitsverlauf notwendig werdenden Medikamente in Afghanistan zu folgen. Die Zeugin hat unter Hinweis auf ihre internationalen Erfahrungen auch in Bürgerkriegsgebieten und im islamischen Umfeld ohne jeden Zweifel die Verfügbarkeit für den Kläger notwendiger Behandlungskapazitäten und Medikamente in Afghanistan ausgeschlossen. Zwar hat sie eine Suizidgefahr nicht als wahrscheinlich dargestellt, wohl aber die Wahrscheinlichkeit einer Retraumatisierung des Klägers bei Verlust seiner schützenden Umgebung durch zwangsweise Rückkehr in sein Heimatland eindeutig bestätigt. Dies genügt für die Annahme einer Extremgefahr, bei der eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG eine Gewährung subsidiären nationalen Abschiebungsschutzes gebietet, soweit nicht andere Schutzbestimmungen greifen. [...]

Durch das vorgelegte Sachverständigengutachten hat der Kläger glaubhaft gemacht, dass er als Spätfolge der frühkindlichen Erlebnisse anlässlich der Ermordung seines Vaters eine in Deutschland erstmals diagnostizierte und behandelte schwere psychische Erkrankung davongetragen hat, die nach der Zeugenaussage der Verfasserin des Gutachtens zumindest wesentliche Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgewiesen hat und dringend der weiteren Behandlung bedarf, die der Kläger in Afghanistan, auch in Kabul, aus infrastrukturellen Gründen und aufgrund eines fehlenden Sozialversicherungssystems nicht erlangen, zumindest aber nicht finanzieren könnte.

Zur Situation der medizinischen Versorgung in Afghanistan hat der Senat in seinem Urteil vom 7. Februar 2008 - 8 UE 1913/06.A - (juris, Rn. 29) Folgendes ausgeführt:

"Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Nahrungsmitteln in Afghanistan, insbesondere in Kabul, müssen nach Einschätzung von amnesty international (Stellungnahme vom 17. Januar 2007) für die nicht wohlhabende Bevölkerung als unzureichend bezeichnet werden. Viele Menschen litten unter Mangel- und Unterernährung. Als Folge dieser desolaten Verhältnisse seien Infektionskrankheiten, Tuberkulose etc. weitverbreitet. Eine Behandlung sei in der Regel nicht möglich, weil die Gesundheitsversorgung in Afghanistan unzulänglich sei. Während auf dem Land oft überhaupt keine Versorgung gegeben sei, sei es in Kabul, wo einige Krankenhäuser vorhanden seien, meist nur über Beziehungen oder gegen Bestechung möglich, auch tatsächlich behandelt zu werden. Diese Situation erkläre die geringe Lebenserwartung und eine der weltweit höchsten Kindersterblichkeitsraten. Ein erhebliches Problem sei die große Arbeitslosigkeit, vor allem in Kabul. Rückkehrer konkurrierten hier mit der übrigen Bevölkerung um die wenigen Arbeitsplätze. Oft bleibe nur eine gelegentliche Tätigkeit als Tagelöhner, doch auch hier sei der Markt hart umkämpft. Angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage im Land könne die Versorgung der bedürftigen Bevölkerung nicht durch Angebote von internationalen Hilfsorganisationen aufgefangen werden. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Organisationen ihre Aktivitäten aufgrund von Sicherheitsbedenken immer stärker einschränken müssten und die Bereitschaft zu einem weiteren Engagement daher stetig abnehme. Diese Einschätzung werde vom UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) geteilt."

Diese kritische Einschätzung der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung wird durch jüngere Quellen bestätigt. So beklagt das Auswärtige Amt im jüngsten Lagebericht Afghanistan vom 9. Februar 2011 eine unzureichende medizinische Versorgung "aufgrund ungenügender Verfügbarkeit von Medikamenten, Geräten, Ärztinnen und Ärzten sowie mangels gut qualifizierten Assistenzpersonals" (Abschnitt 1.2, S. 29 unten) und das Fehlen sozialer Sicherungssysteme, insbesondere einer Krankenversicherung (a.a.O., S. 29 Mitte).

Unter diesen Umständen fügt sich die klare Aussage der vernommenen sachverständigen Zeugin, dass der Kläger in Kabul die für ihn wahrscheinlich dauerhaft notwendige psychiatrische Gesprächstherapie und eine etwa erforderliche medikamentöse Behandlung seines Leidens nicht erhalten könnte, in die allgemeine Erkenntnislage schlüssig ein. Dass eine alternativ mögliche sozialtherapeutische Behandlung in Kabul möglich wäre, sieht der Senat schon aufgrund des zitierten Lageberichts des Auswärtigen Amts als ausgeschlossen an. [...]