VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.09.2011 - 11 S 2438/11 - asyl.net: M19052
https://www.asyl.net/rsdb/M19052
Leitsatz:

1. Ein Staatsangehöriger eines in der Liste in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 vom 15.03.2001 (EG-VisaVO) aufgeführten Drittlands, der von der Visumspflicht für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht übersteigt, befreit ist, reist unerlaubt ein, wenn er schon bei der Einreise über die Außengrenze der Europäischen Union die Absicht hat, länger als drei Monate im Geltungsbereich der Verordnung zu bleiben (hier: Kindernachzug).

2. Ist statt des beantragten vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO Eilrechtsschutz nur nach § 123 VwGO statthaft, weil der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gegenüber der Ausländerbehörde keine der Fiktionen im Sinne des § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG ausgelöst hat, so bleibt für das auf Aussetzung der Abschiebung zur Sicherung des Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtete Begehren die untere Ausländerbehörde in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 71 Abs. 5 AsylVfG auch dann passiv legitimiert, wenn die Abschiebung von der Mittelbehörde eines anderen Rechtsträgers in eigener Zuständigkeit durchgeführt wird.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visaverordnung, unerlaubte Einreise, Visumspflicht, Kindernachzug
Normen: AufenthG § 14 Abs. 1 Nr. 2, VwGO § 123, VO 539/2001 Art. 1 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die tatsächlichen Annahmen des Verwaltungsgerichts und seine Schlussfolgerung, dass die Antragsteller zu 2 und 3 unter Verstoß gegen § 6 Abs. 4 AufenthG eingereist seien, weil ihr Aufenthalt von Anfang an nicht Besuchszwecken, sondern einem Daueraufenthalt dienen sollte, werden durch das Beschwerdevorbringen nicht in Frage stellt. Auch mit Rücksicht darauf, dass Kroatien zu den im Anhang II der EG-VisaVO aufgeführten Staaten gehört, deren Staatsangehörige bei Überschreiten der Außengrenzen der EU von der Visumspflicht für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit sind (vgl. § 15 AufenthV), sind ihre Einreise und ihr weiterer Verbleib im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt aufenthaltsrechtlich legal gewesen, so dass allein der Antrag nach § 123 VwGO statthaft ist.

Nach Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumspflicht befreit sind, vom 15.03.2001 in der zum Zeitpunkt der Einreise der Antragsteller zu 1 und 2 gültigen Fassung vom 30.11.2009 (ABl. Nr. L 336 vom 18.12.2009), sind Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumspflicht nach Absatz 1 für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit. Nach dem Wortlaut der Befreiungsvorschrift könnte selbst bei der schon bei Überschreitung der EU-Außengrenze bestehenden Absicht, länger als drei Monate im Geltungsbereich der Verordnung zu verbleiben, diesen insoweit überschießenden subjektiven Vorstellungen keine Bedeutung beizumessen sein mit der Folge, dass der Aufenthalt erst bei objektiver Überschreitung der Dreimonatsgrenze illegal würde (im Sinne einer Bestimmung der Erforderlichkeit eines Visums zur Einreise in die EU nur anhand objektiver Kriterien vgl. etwa HTK-AuslR, § 14 zu Abs. 1 Nr. 2, 3/2009, Nr. 3.1; Hailbronner, AuslR, § 14 Rn 11 ff., 18 ff, Hofmann/Hoffmann, AuslR, 2008, § 14 Rn 8). Inhalt und Reichweite des Befreiungstatbestands werden jedoch nicht allein durch den Wortlaut, sondern vor allem durch den Kontext der Regelung, insbesondere die der Visa-Verordnung zugrunde liegende Normierungskompetenz bestimmt. Die Verordnung beruht auf Art. 62 Nr. 2 lit. b) Ziffer i) des zum 01.12.2009 außer Kraft getretenen Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (vgl. auch Erwägungsgrund (1) der Visa-Verordnung). Nach dieser - für die hier vorzunehmende Auslegung nach wie vor maßgeblichen - Ermächtigungsgrundlage kann der Rat die Vorschriften für Visa "für geplante Aufenthalte von bis zu drei Monaten" beschließen. Das Visum ist in Art. 2 EG-VisaVO als Genehmigung für die Einreise zum Zwecke eines Aufenthalts, der drei Monate nicht überscheitet, definiert. Dieser Wortlaut folgt aus der Begrenztheit der dem Rat hier (früher) zukommenden Regelungskompetenz, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er nur den Einreisevorgang und diesen nur für einen zeitlich begrenzten Aufenthaltszweck umfasst (vgl. HessVGH, Beschluss vom 29.09.2003 - 12 TG 2339/03 - juris Rn 15). Die bei den Antragstellern zu 2 und 3 bzw. deren Eltern bereits bei der Einreise in die Europäische Union bestehende Absicht, zum Familiennachzug - und damit auf Dauer - in das Bundesgebiet zu kommen, lässt daher die Visumsfreiheit für die Einreise entfallen; sie sind nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 und § 6 Abs. 4 AufenthG unerlaubt eingereist (GK-AufenthG, §14 Rn 10.1 ff.; Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl. 2007, S. 223; Renner/Dienelt, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 14 Rn 14; ebenso Nr. 14.1.2.1.1.7.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG, abgedr. bei Renner, a.a.O. vor Rn 1 zu § 14). [...]

c. Dem nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend gemachten Begehren der Antragsteller zu 2 und 3, sie einstweilen bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens bzw. eines sich anschließenden Klageverfahrens nicht abzuschieben, steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin für die Aussetzung der Abschiebung nicht originär zuständig ist, sondern diese in die Kompetenz des Landes fällt (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Nr. 1 AAZuVO). Auch wenn die Abschiebung von dem Regierungspräsidium in eigener Zuständigkeit und nicht im Wege der Amtshilfe (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 2 LVwVfG) vollstreckt wird, ändert das aber im Grundsatz nichts daran, dass in der vorliegenden Konstellation die einstweilige Anordnung der Sicherung des bei der unteren Ausländerbehörde geführten Verfahrens dient (vgl. hierzu auch Renner/Dienelt, AuslR, a.a.O., § 81 Rn 43 ff.; Quaas/Zuck, a.a.O., § 4 Rn 405) und diese in der Verantwortung steht. Insoweit ist die Ausgangslage eine andere als bei der unter Berufung auf Duldungsgründe nach § 60a AufenthG begehrten Aussetzung der Abschiebung und der Sicherung dieses Verfahrens zur Erteilung einer Duldung mittels eines Antrags nach § 123 VwGO, der sich nur gegen das Land Baden-Württemberg als dem Rechtsträger des hierfür zuständigen Regierungspräsidiums richten kann. Mit dem vorliegenden Eilantrag soll die weitere Anwesenheit der Antragsteller zu 2 und 3 für die Dauer des Verfahrens in der Hauptsache gesichert werden. Vor diesem Hintergrund ist diese aus der Verwaltungskompetenz fließende Verantwortung der unteren Ausländerbehörde konsequent fortzuführen und hier - modifiziert - das Sicherungsverfahren ihr gegenüber durchzuführen mit der Folge, dass eine Auswechslung auf Seiten des Antragsgegners nicht erforderlich ist. Für eine solche Sicherung ohne Beteiligtenwechsel sprechen auch pragmatische Gesichtspunkte. In den Fällen, in denen die Frage des Eintritts der Rechtsfolgen des § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG nicht ohne weiteres zu beantworten oder umstritten ist, entspricht es der Praxis der Verwaltungsgerichte, das Rechtsschutzbegehren selbst bei von Anfang an anwaltlich vertretenen Antragstellern inhaltlich sowohl nach § 80 Abs. 5 VwGO als auch nach § 123 VwGO zu prüfen. Würde man in jedem Fall, in dem die untere Ausländerbehörde nicht das Land Baden-Württemberg ist, eine Umstellung oder Erweiterung des Antrags auf das Land verlangen, würde hierdurch der gerichtliche Eilrechtsschutz unnötig verkompliziert, - zumal das Regierungspräsidium aufgrund des Verfahrensstands häufig mit dem dem ablehnenden Verwaltungsakt zugrunde liegenden Fall noch nicht vertraut sein kann.

Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, eine "Anleihe" beim Asylfolgeverfahren zu machen und den Rechtsgedanken des § 71 Abs. 5 AsylVfG aufzugreifen. Es ist in Rechtsprechung und Literatur weitgehend anerkannt, dass im Falle einer negativen formlosen Mitteilung des Bundesamts an die in eigener Zuständigkeit vollstreckende Ausländerbehörde, dass kein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird, der vorläufige Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO gegenüber dem Bundesamt zu suchen ist mit dem Antragsziel, dem Bundesamt aufzugeben, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig aufgrund der negativen Mitteilung nicht vollstreckt werden darf; entsprechendes gilt, wenn das Bundesamt bereits den Bescheid selbst übersandt hat, mit dem die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt worden ist (vgl. hierzu GK-AsylVfG, § 71 Rn 315 f.). Lediglich in zugespitzten Situationen, in denen effektiver Rechtsschutz gegenüber der unteren Ausländerbehörde nicht mehr zu erlangen ist, ist der Antrag ausnahmsweise wegen Art. 19 Abs. 4 GG gegenüber der abschiebenden Behörde statthaft.

Ausgehend hiervon legt der Senat den mit Schriftsatz vom 06.09.2011 formulierten Antrag, der Antragsgegnerin einstweilen zu untersagen, die Antragsteller zu 2 und 3 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens bzw. eines anschließenden Klageverfahrens abzuschieben, sachdienlich dahin aus, dass die Antragsteller zu 2 und 3 gegenüber der unteren Ausländerbehörde beantragen, dem Regierungspräsidium mitzuteilen, dass vorläufig eine Abschiebung auf der Grundlage der Verfügungen vom 18.04.2011 nicht durchgeführt werden darf. Soweit der Senat in der Vergangenheit in Fällen, in denen nach abgelehnter Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis mangels Eintritts einer der Fiktionswirkungen des § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG Rechtsschutz nur nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft und Rechtsträger der unteren Ausländerbehörde nicht das Land Baden-Württemberg gewesen ist, eine fehlende Passivlegitimation der Antragsgegnerin hinsichtlich einer begehrten Aussetzung der Abschiebung angenommen hat, hält er hieran nicht fest. [...]