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VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 20.06.2011 - 7 A 72/09 - asyl.net: M19062
https://www.asyl.net/rsdb/M19062
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (HIV-Infektion im Stadium CDC A3, Bilharziose, Neoblase). Nach den vorliegenden Erkenntnissen spricht alles dafür, dass sich die medizinische Versorgung nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im November 2010 verschlechtert hat. In Abidjan seien Krankenhäuser und Krankenstationen überfüllt. Die Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Material ist äußerst gering. In Côte d' Ivoire sind sämtliche Süßwassergewässer bilharzioseverseucht. Der Kläger würde eine Privatbehandlung nicht finanzieren können; das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt in der Elfenbeinküste bei umgerechnet 61 Euro pro Monat, die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze von 1,25 US Dollar pro Tag.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Côte d' Ivoire, HIV/AIDS, Stadium CDC A3, Bilharziose, Neoblasenoperation, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger wäre im Falle einer Abschiebung einer extrem individuellen Gefahrensituation ausgesetzt, weshalb ein Absehen von der Abschiebung verfassungsrechtlich zwingend geboten erscheint. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erheblich ist eine Gefahr für Leib oder Leben aufgrund einer bestehenden Erkrankung dann, wenn im Zielstaat eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität ist. Dies ist der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Konkret ist eine solche Gefahrenlage, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Einreise im Zielstaat eintritt, weil dort nur unzureichende Behandlungsmöglichkeiten existieren und die Gefahrenlage auch nicht durch eigenes zumutbares Verhalten ausräumbar ist.

Das Gericht kommt in Auswertung der vorgelegten ärztlichen Berichte und Atteste zu dem Ergebnis, dass der Kläger wegen der bei ihm bestehenden Erkrankungen einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, wenn er zum gegenwärtigen Zeitpunkt in sein Heimatland zurückkehren würde. Der Kläger leidet neben einer HIV-Infektion an einer chronischen Bilharziose (einer durch Saugwürmer verursachte Infektionskrankheit) und er musste, nachdem bei ihm im August 2010 eine Neoblasenoperation durchgeführt wurde, sich wegen nachträglich eingetretenen Komplikationen wiederholt stationär einer antibiotischen Therapie unterziehen. Die HIV-Infektion des Klägers befindet sich im Stadium CDC A3. Dies bedeutet, dass bei dem Kläger zwar noch keine Aids definierenden Erkrankungen vorliegen, dass aber die Anzahl der Helferzellen bereits unter 200 gesunken ist und seine Erkrankung daher nach der von der WHO vorgeschlagenen Einteilung in Laborkategorien in die Kategorie 3 einzuordnen ist (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, S. 684 f.). Es ist deshalb nachvollziehbar, dass nach dem Inhalt des ärztlichen Attestes die Fortführung und Aufrechterhaltung der antiretroviralen Therapie ärztlicherseits für zwingend erforderlich gehalten wird und sich der Gesundheitszustand des Klägers alsbald erheblich verschlechtern würde, wenn die Therapie nicht fortgesetzt würde. Nach der bestehenden Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass die notwendige Behandlung des Klägers im Heimatland voraussichtlich nicht würde erfolgen können. Zwar ist nach der Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Abidjan an das Bundesamt vom 06.03.2006 in Abidjan grundsätzlich die gleiche Behandlung von HIV-Infizierten möglich wie in Europa. Jedoch wird in der erwähnten Auskunft darauf hingewiesen, dass es (für das Jahr 2006) hin und wieder zu einem Engpass komme, der ein bis zwei Monate dauert, danach aber überwunden ist. Ferner muss davon ausgegangen werden, dass für den Kläger Behandlungen und Medikation nicht zugänglich wären, weil er die dafür erforderlichen finanziellen Mittel nicht würde aufbringen können. Nach der vorerwähnten Auskunft liegen bei Privatbehandlung die Kosten bei 41 Euro monatlich. Zwar betrügen sie in einer staatlichen Einrichtung nur 7,50 Euro dreimonatlich. Dass der Kläger eine entsprechende Behandlung in einer staatlichen Einrichtung erhalten würde, ist jedoch mehr und mehr unsicher geworden (vgl. schon VG Düsseldorf, Urt. vom 18.02.2005 - 13 K 2737/00.A -). Nach den vorliegenden Erkenntnissen spricht alles dafür, dass sich die medizinische Versorgung nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im November 2010 weiter verschlechtert hat. Nach einem Bericht von "Ärzte ohne Grenzen" vom 12.05.2011 dauert die dramatische medizinische Notlage weiterhin an. In Abidjan seien Krankenhäuser und Krankenstationen überfüllt. Die Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Material sei äußerst gering (www.aerzte-ohne-grenzen.at/hilfseinsaetze/artikel/details/cote-divoire-elfenbeinkueste). Von der Verschlechterung der medizinischen Versorgung wäre der Kläger besonders betroffen, weil er neben der HIV-Infektion an einer chronischen Bilharziose leidet und damit für ihn zusätzliche gesundheitliche Risiken bestehen. Nach der von dem Kläger vorgelegten Gefährdungseinschätzung von Dr. ... vom 13.06.2011 (Bl. 98 der Gerichtsakte) muss bei dem Kläger mit weiteren Infektionen und einer Verschlimmerung des Krankheitsbildes gerechnet werden, weil in der Elfenbeinküste sämtliche Süßgewässer bilharzioseverseucht seien.

Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger etwaige finanzielle Mittel für seine Behandlung selbst erwirtschaften könnte. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Elfenbeinküste liegt bei umgerechnet 61 Euro pro Monat (Auskunft der Bundesrepublik Deutschland in Abidjan vom 28.07.2006), die Hälfte der Bewohner lebt unter der Armutsgrenze von 1,25 US Dollar pro Tag (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Behandlung von PTSD, 14.10.2010). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger ein erwirtschaftetes Einkommen vollständig zur Deckung der Lebensunterhaltungskosten würde aufbringen müssen. Schließlich kann der Kläger auch nicht darauf verwiesen werden, dass er die für die Behandlung seiner Krankheit erforderlichen Mittel durch Unterstützung seiner Familie erlangen könnte. Nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung wohnen seine Eltern nicht mehr in Abidjan, sondern jeweils getrennt im Niger. Seine jetzt 25/26 Jahre alte Schwester wohnt ebenfalls im Niger bei ihrer Mutter. Seine Brüder sind verstorben. [...]