OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 28.06.2011 - 1 A 555/08 - asyl.net: M19070
https://www.asyl.net/rsdb/M19070
Leitsatz:

Wird einem Ausländer, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt, weil eine Rückführung in den Herkunftsstaat aus gesundheitlichen Gründen nicht in Betracht kommt, kann es mit Rücksicht auf Art. 6 Abs. 1 GG geboten sein, dem Ehegatten zur Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: eheliche Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, humanitäre Gründe, Krankheit, familiäre Beistandsgemeinschaft, vollziehbar ausreisepflichtig, Familienzusammenführung, Posttraumatische Belastungsstörung, Täuschung über Identität, Kausalität, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 29 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 24 Abs. 5 S. 3, AufenthG § 24 Abs. 5 S. 4,
Auszüge:

[...]

Die Berufung des Klägers ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. [...]

II.

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 GG. Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (Satz 1). Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist (Satz 2). Die Aufenthaltserlaubnis darf allerdings nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden liegt insbesondere vor, wenn der Ausländer falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht (Satz 3 und 4).

1. Die Ausreise des Klägers, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, ist aus rechtlichen Gründen unmöglich. Eine solche Unmöglichkeit besteht auch dann, wenn eine freiwillige Ausreise unzumutbar ist, weil höherrangiges

Recht - hier Art. 6 Abs. 1 GG - den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet erfordert.

Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG sind die Ausländerbehörden verpflichtet, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden ehelichen und familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (st. Rspr. d. BVerfG, vgl. zuletzt B. v. 17.05.2011 - 2 BvR 1367/10 - InfAuslR 2011, 286). Sofern das Aufenthaltsbegehren in diesem Fall seine Grundlage mangels Erfüllung der dort genannten speziellen Voraussetzungen nicht in den Familiennachzugsregelungen der §§ 27 ff. AufenthG findet, kann § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG als Anspruchsgrundlage in Betracht kommen (vgl. OVG Bremen, B. v. 29.10.2009 - 1 B 201/09 - n. v.; Dienelt in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 25 Rn 75; HK-AuslR / Fränkel § 25 AufenthG Rn 56).

Im vorliegenden Fall scheiden die §§ 27 ff. AufenthG als Grundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an den Kläger aus. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht am 28.06.2011 zugesichert, der Ehefrau des Klägers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, sobald diese einen türkischen Pass vorlegt. In den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG wird gemäß § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ein Familiennachzug nach den §§ 27 ff. AufenthG nicht gewährt.

Da der Ehefrau gegenwärtig eine Rückkehr in die Türkei unzumutbar ist und sie auf die Lebenshilfe des Klägers angewiesen ist, kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger deshalb allein auf der Grundlage von § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG in Betracht.

Eine Rückkehr ist der Ehefrau des Klägers derzeit nicht zumutbar, weil sie unter einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Das ergibt sich im Einzelnen aus dem vom Klinikum Bremen-Ost am 06.11.2008 erstellten amtsärztlichen Gutachten. Danach hat die Ehefrau den Gutachtern bei ihrer Untersuchung glaubhaft geschildert, vor der Ausreise aus der Türkei erheblich von den Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK-Kämpfern betroffen worden zu sein; ihr Ehemann sei seinerzeit schwer gefoltert worden. Die Gutachter, die keinen Anlass gesehen haben, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln, haben bei der Ehefrau die typischen Kriterien einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt. Eine Rückführung in die Türkei haben die Gutachter als lebensbedrohlich eingestuft. Seit Juli 2008 ist die Ehefrau in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung. Die Zusicherung der Beklagten, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, erfolgte im Hinblick auf diesen Sachverhalt.

Die Ehefrau ist auf die Lebenshilfe des Klägers angewiesen. Der fachärztlich festgestellte eingeschränkte Gesundheitszustand der Ehefrau war für den Senat in der mündlichen Verhandlung vom 28.06.2001 erkennbar. Bereits aus dem derzeitigen Gesundheitszustand ergibt sich, dass die Ehefrau auf den Beistand des Klägers angewiesen ist. Dies gilt erst recht, wenn man den Grund der Erkrankung der Ehefrau in den Blick nimmt, nämlich die gemeinsam erlittene Gewalt in der Türkei.

2. Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis stehen § 24 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG nicht entgegen. Danach scheidet die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aus, wenn der Ausländer über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht und dadurch das Ausreisehindernis selbst geschaffen hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts widerspricht es Sinn und Zweck einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, einem Ausländer, der sich den Aufenthalt in Deutschland erschlichen und durch Täuschung weiter langfristig gesichert hat, dadurch zu privilegieren, dass nach Aufdeckung der Täuschung sein Aufenthalt erneut legalisiert und ihm damit die Perspektive eines Daueraufenthalts eröffnet (BVerwG, U. v. 19.04.2011 - 1 C 3/30 - juris, Rn 19). [...]

Der Kläger hat zwar bei seiner Einreise im Juli 1988 zutreffende Angaben zu seiner Person und Staatsangehörigkeit gemacht. Er hat seinerzeit in seinem ersten Asylantrag auch Angaben gemacht, nämlich in Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK geraten zu sein, die nach den Schilderungen seiner Ehefrau bei der amtsärztlichen Untersuchung im November 2008 zuzutreffen scheinen. Er ist dann im Folgenden jedoch mit seiner Familie untergetaucht und hat im September 1988 den Kreis Borken und sodann ab Februar 1990 fortgesetzt die Beklagte über seine Person und Staatsangehörigkeit getäuscht, indem er erklärt hat, es handele sich bei ihm um einen aus dem Libanon stammenden Kurden mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Der Aufenthalt ist ihm und seiner Familie im Folgenden aufgrund dieser Angaben ermöglicht worden.

Wie diese Täuschung mit Rücksicht auf die bei der amtsärztlichen Untersuchung der Ehefrau zutage getretenen Tatsachen zu bewerten ist, mag hier auf sich beruhen. Denn unabhängig davon ist durch das Untersuchungsergebnis - in einer Art überholender Kausalität (vgl. dazu BVerwG, U. v. 19.04.2011, a. a. O., Rn 20) - in jedem Fall ein neuer Sachverhalt geschaffen worden, der für sich genommen ein Ausreisehindernis begründet.

3. Der Kläger erfüllt bis auf die Passpflicht die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG.

a) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Das ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Das erfordert - bezogen auf die jeweilige Bedarfsgemeinschaft - einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Bedarfs- und Einkommensvermittlung richten sich dabei grundsätzlich nach den Maßstäben des Sozialrechts.

Der Kläger ist nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Er verfügt über keine Einkünfte und lebt langjährig von öffentlichen Sozialleistungen. Er hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht zwar erklärt, er wolle sich im Falle der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine Beschäftigung suchen. Das Gericht nimmt ihm die Ernsthaftigkeit dieser Erklärung ab, ob sich diese Absicht angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Qualifikation des Klägers umsetzen lassen wird, erscheint jedoch fraglich. Dies gilt zumal im Hinblick auf eine Beschäftigung, die zu Einkünften führt, die den Unterhaltsbedarf der Familie decken.

Von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts ist hier aber abzusehen, weil ein Ausnahmefall gegeben ist.

Ein Ausnahmefall liegt bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geboten ist, z. B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (BVerwG, U. v. 26.08.2008 - 1 C 32/07 - BVerwGE 131, 370 381>; U. v. 16.11.2011 - 1 C 20/09 - InfAuslR 2011, 144 147>). Im Falle des Klägers ist, wie ausgeführt, die Herstellung der Familieneinheit in der Türkei nicht möglich. Die besonderen Umstände des Falles gebieten es deshalb, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen.

b) Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht weiter nicht § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen.

Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Ein Ausweisungsgrund in der Funktion eines Versagungsgrundes, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel ausschließt, ist grundsätzlich bereits dann gegeben, wenn ein Ausweisungstatbestand abstrakt erfüllt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer im konkreten Fall rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden könnte (vgl. BVerwG, U. v. 16.07.2002 - 1 C 8/02 - BVerwGE 116, 378 385>; U. v. 28.09.2004 - 1 C 10/03 - BVerwGE 122, 94 98>).

Allerdings kann auch der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegengehalten werden, wenn eine von der Regel abweichende Ausnahme gegeben ist. Das Vorliegen einer Ausnahme beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Dabei sind einerseits das Gewicht, das der Ausweisungsgrund hat, und andererseits die persönlichen Belange des Ausländers, insbesondere ein ihm nach Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK zustehender Schutz, in die Abwägung einzubeziehen. Das Gewicht des Ausweisungsgrundes bestimmt sich dabei maßgeblich nach einer aktuellen Prognose der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (OVG Bremen, B. v. 27.10.2009 - 1 B 224/09 - InfAuslR 2010, 29 31>; zuletzt B. v. 12.08.2010 - 1 B 160/10 - n. v.).

Gegen den Kläger und seine Ehefrau waren wegen unrichtiger Angaben im aufenthaltsrechtlichen Verfahren Strafverfahren eingeleitet worden (vgl. Anklageschrift vom 26.01.2004 im Verfahren Amtsgericht Bremen, Az. 82 Ds 170 Js 13674/03). Die Strafverfahren sind vom Amtsgericht Bremen am 09.01.2007 gemäß § 153a Abs. 2 StPO mit der Auflage eingestellt worden, dass der Kläger und seine Ehefrau jeweils 150,00 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen. Mit Rücksicht auf den nachträglich eingetretenen Sachverhalt - die Beklagte hat der Ehefrau des Klägers inzwischen wegen ihrer Erkrankung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zugesichert -, kann in diesem Gesetzesverstoß auch bezüglich des Klägers kein Versagungsgrund für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erblickt werden.

4. Der Kläger erfüllt mithin, abgesehen von der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG), die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG.

Gründe, von der Sollvorschrift des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG abzuweichen, bestehen nicht. Die mangelnde Spruchreife beruht allein darauf, dass der Kläger derzeit noch keinen gültigen Pass besitzt.

Die gegen den Kläger ergangene Abschiebungsregelung kann damit keinen Bestand haben. [...]