Das OLG Bremen hält das behördliche Anfechtungsrecht bezüglich der Vaterschaft gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB für mit Art. 6 Abs. 5 GG und Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar, setzt das Verfahren aus und legt es gem. Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht vor.
[...]
II.
Im vorliegenden Fall sind nach Art. 111 FGG-RG die bis zum 31.08.2009 geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, weil das Verfahren vor dem 01.09.2009 eingeleitet worden ist.
Die Berufung gegen das angefochtene Urteil ist zulässig (§§ 511, 517, 519, 520 ZPO). Für die Frage der Begründetheit kommt es auf die Verfassungsmäßigkeit des behördlichen Anfechtungsrechts gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB an. Bei Anwendung der genannten Bestimmung wäre die Berufung zurückzuweisen. Der Senat hält aber das behördliche Anfechtungsrecht für mit Art. 6 Abs. 5 GG und Art. 3 Abs.1 GG nicht vereinbar. Das Verfahren ist daher gem. Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Hierzu im Einzelnen:
1. Rechtslage nach dem Gesetz
Nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB ist die zuständige Behörde berechtigt, in den Fällen der Vaterschaftsanerkennung nach § 1592 Nr. 2 BGB die Vaterschaft anzufechten. Die Anfechtung setzt voraus, dass zwischen dem Kind und dem Anerkennenden keine sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt der Anerkennung oder seines Todes bestanden hat und durch die Anerkennung rechtliche Voraussetzungen für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden (§ 1600 Abs. 3 BGB). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Das Familiengericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung eine sozial-familiäre Beziehung, die einer Anfechtung der Vaterschaft entgegenstünde, verneint. Eine sozial-familiäre Beziehung nach § 1600 Abs. 3 BGB besteht, wenn der Vater zum maßgeblichen Zeitpunkt für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. D.h. eine sozial-familiäre Beziehung muss entweder im Zeitpunkt der Anerkennung vorgelegen haben (der Gesetzgeber hält auch bei pränatalen Anerkenntnissen das Vorliegen einer sozial-familiären Beziehung für möglich, wenn der Anerkennende hinreichend intensiv an Schwangerschaft und Geburt Anteil genommen und den Kontakt zum Kind in seine Lebensplanung aufgenommen hat – BT-Drucks. 16/3291, Anlage 1 S. 13) oder im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen (Helms in: Helms/Kieninger/Ritter, Abstammungsrecht in der Praxis, Rdnr. 123; Zimmermann, FuR 2008, 21, 22).
Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung liegt in der Regel vor, wenn der Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat (§ 1600 Abs. 4 Satz 1 BGB). Die Regelvermutung greift hier nicht, weil der Beklagte zu 2. mit der Mutter des Beklagten zu 1. nicht verheiratet ist und mit ihr auch zu keinem Zeitpunkt zusammengelebt hat.
Der Beklagte zu 2. hat ersichtlich auch zu keiner Zeit typische Elternrechte und -pflichten, wie regelmäßigen Umgang, Betreuung und Erziehung des Kindes sowie Leistung von Unterhalt, die für die Übernahme tatsächlicher Verantwortung i.S. des § 1600 Abs. 4 Satz 1 BGB sprächen (BT-Drucks. 16/3291, S. 13), wahrgenommen. Der Beklagte zu 1. hat zwar vorgetragen, dass der Beklagte zu 2. bis zum vollständigen Kontaktabbruch Ende 2006 ihn und seine Mutter ca. 3 x die Woche besucht und regelmäßig mit ihm und der Mutter Spaziergänge unternommen habe; dies alleine reicht für die Annahme einer sozial-familiären Beziehung aber nicht aus (s. OLG Oldenburg, FamRZ 2009, 1925). Dem Beweisangebot des Beklagten zu 1. ist daher nicht nachzugehen. Im Übrigen spricht gegen eine gelebte Beziehung zwischen den Beklagten der Umstand, dass nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag des Klägers der Beklagte zu 1. nach seiner Geburt in häuslicher Gemeinschaft mit dem Lebensgefährten seiner Mutter zusammengelebt hat.
Durch die Anerkennung der Vaterschaft ist dem Beklagten zu 1. auch ein ausländerrechtlicher Vorteil i.S. des § 1600 Abs. 3, zweiter Halbs. BGB entstanden. Denn nur infolge der wirksamen Anerkennung durch den Beklagten zu 2. hat der Beklagte zu 1. gem. § 4 Abs. 1 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit und damit das Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet erworben. Die Mutter des Beklagten zu 1. hat zur Wahrnehmung der Personensorge gem. § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erlangt.
Die Vaterschaftsvermutung (§ 1600c Abs. 1 BGB) ist durch das im Auftrag der Abteilung für Ausländerwesen, Staatsangehörigkeits- und Namensangelegenheiten erstellte Abstammungsgutachten des Klinikums B. vom 07.07.2008 (Bl. 77 ff. d.A.) widerlegt.
Die Anfechtungsfrist nach § 1600b Abs. 1a S. 1 BGB von einem Jahr ist gewahrt. Die Jahresfrist beginnt, wenn die anfechtungsberechtigte Behörde von den Tatsachen Kenntnis erlangt, die die Annahme rechtfertigen, dass die Voraussetzungen für ihr Anfechtungsrecht vorliegen. Nach der Übergangsvorschrift des Art. 229 § 16 EGBGB beginnt die Frist aber nicht vor dem 01.06.2008, so dass durch Einreichung der Klage am 24.03.2009 die Frist gewahrt ist. Die absolute Fünf-Jahres-Frist des § 1600b Abs. 1a Satz 3 BGB, die für ein im Bundesgebiet geborenes Kind spätestens mit der Wirksamkeit der Vaterschaftsanerkennung zu laufen beginnt - im vorliegenden Fall also mit der Geburt des Beklagten zu 1. am 13.12.2005 (§ 1600b Abs. 2 S. 1 BGB) - und die zum Schutz des Kindes von der Übergangsregelung unberührt bleibt (BTDrucks. 16/3291, S. 18; OLG Oldenburg, a.a.O.; Palandt/Brudermüller, BGB, 70 Aufl., § 1600b Rdnr. 34; a.A. Zimmermann, FuR 2009, 21, 27), ist hier ebenfalls gewahrt.
Die zum 01.06.2008 durch Gesetz zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft vom 13.03.2008 (BGBl. I 2008, 313) in Kraft getretene Anfechtungsvorschrift ist im vorliegenden Fall auch anwendbar, da § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB auch für Altfälle aus der Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes gilt. Dafür sprechen sowohl der Wortlaut der Vorschrift, der keine Einschränkungen vorsieht, als auch die Übergangsvorschrift des Art. 229 § 16 EGBGB, die sonst überflüssig wäre (OLG Oldenburg, a.a.O.; AG Hamburg-Altona, StAZ 2010, 306; OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 25.08.2010 – 3 UF 106/10 – zit. nach juris).
2. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung
a) Entgegen der Auffassung des Beklagten zu 1. bestehen gegen die Anfechtungsvorschrift des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB nicht schon deswegen verfassungsrechtliche Bedenken, weil bei einer erfolgreichen Anfechtung der Vaterschaft das Kind rückwirkend die deutsche Staatsangehörigkeit verliert.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StAG erwirbt ein Kind durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn der die Vaterschaft Anerkennende die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Wird die Vaterschaft erfolgreich angefochten, wird das Kindschaftsverhältnis und damit die rechtliche Voraussetzung des Staatsangehörigkeitserwerbs mit Rückwirkung beseitigt (BGH, NJW 1994, 2697, 2698), und zwar unabhängig davon, ob der Erwerb der Staatsangehörigkeit auf einer missbräuchlichen Anerkennung beruht. Dies steht in Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das sich in seiner Entscheidung vom 24.10.2006 – 2 BvR 696/04 – (veröffentlicht in: FamRZ 2007, 21 ff.) mit dem rückwirkenden Wegfall der deutschen Staatsangehörigkeit eines Kindes infolge einer erfolgreichen Anfechtung der Vaterschaft befasst hat. In der genannten Entscheidung hat das BVerfG ausgeführt, dass der Wegfall der deutschen Staatsangehörigkeit, der als Rechtsfolge einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung eintritt, jedenfalls dann keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, wenn das betroffene Kind sich in einem Alter befindet, in dem Kinder üblicherweise noch kein eigenes Bewusstsein ihrer Staatsangehörigkeit und kein eigenes Vertrauen auf deren Bestand entwickelt haben (BVerfG, ebenda). Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen, da der Beklagte zu 2. im Dezember 2010 erst 5 Jahre alt geworden ist.
b) Es bestehen auch insoweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken, als die einjährige Anfechtungsfrist (§ 1600b Abs. 1a S. 1 BGB) erst beginnt, wenn die Behörde von Tatsachen Kenntnis erlangt, die gegen die Vaterschaft sprechen, mit der Folge, dass bei einer erfolgreichen Anfechtung der Verlust der Staatsangehörigkeit auch in einem Alter, in dem sich die Frage stellt, ob die Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitsstatus beeinträchtigt sein könnte, nicht ausgeschlossen ist, weil die gesetzlichen Regelungen zur Anfechtung der Vaterschaft eine Altersgrenze nicht vorsehen. Denn die Anwendung der Vaterschaftsanfechtungsregeln ist in dem hier vorliegenden unproblematischen Fall (der Beklagte zu 1. ist erst 5 Jahre alt) nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil Fallkonstellationen denkbar sind, in denen das Kind infolge der Anfechtung und des damit einhergehenden Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit in seinem Vertrauen auf den Bestand seines Staatsangehörigkeitsstatus verletzt wird (vgl. BVerfG, FamRZ 2007, 21, 23).
c) Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen jedoch insoweit, als die Anfechtungsvorschrift des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB zu einer Ungleichbehandlung nichtehelich geborener Kinder gegenüber scheinehelich geborenen Kindern führt (so auch AG Hamburg-Altona, StAZ 2010, 306 ff.; s. auch Genenger, FuR 2007, 155, 160).
Kinder, die während einer bestehenden Scheinehe zur Welt kommen und auf diese Weise dem (deutschen) Ehemann der Mutter abstammungsrechtlich zugeordnet werden (§ 1592 Nr. 1 BGB), sind von der Anfechtungsregelung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 ausgenommen. Damit werden scheineheliche Kinder privilegiert. Denn sie verlieren ihren Status als eheliches Kind und die daraus resultierenden ausländerrechtlichen Vorteile nur dann, wenn der Ehemann der Mutter oder der biologische Vater die Vaterschaft erfolgreich angefochten hat. Die Scheinehe (§ 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB) kann zwar auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde (§ 1316 Abs. 3 BGB) aufgehoben werden. Die nachträgliche gerichtliche Auflösung der Ehe hat aber keinen Einfluss auf die einmal eingetretene Vaterschaftswirkung (§ 1592 Nr. 1 BGB). Die Auflösung geschieht nämlich im Falle der Scheidung der Ehe gem. § 1564 Satz 2 BGB wie auch im Falle der Aufhebung gem. § 1313 Satz 2 BGB jeweils mit Wirkung ab Rechtskraft ex nunc (Seidel in: MünchKomm, BGB, 5. Aufl., § 1592 Rdnr. 19; Rauscher in: Staudinger, BGB (2004), § 1592 Rdnr. 28; Palandt/Brudermüller, BGB, 70 Aufl., § 1592 Rdnr. 3) mit der Folge, dass das Kind seinen Status als eheliches Kind nicht verliert.
Gem. Art. 6 Abs. 5 GG sind den nichtehelich geborenen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Art. 6 Abs. 5 GG enthält die Wertentscheidung, dass ein Kind nicht wegen seiner nichtehelichen Geburt benachteiligt werden darf. Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 5 GG beinhaltet insoweit eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes (BVerfG, FamRZ 2009, 492). Dieser beinhaltet, dass die vom Gesetzgeber erfassten, in sich gleichartigen Tatbestände gleichartig zu behandeln sind (BVerfGE, 11, 64, 71). Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber zwar nicht, unter allen Umständen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln (BVerfGE 9, 124, 129). Er wird aber dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonst wie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden lässt (BVerfGE 12, 341, 348). Einleuchtende Sachgründe sind für die Ungleichbehandlung nichtehelich geborener Kinder infolge der Anfechtungsregelung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB und deren Rechtsfolgen jedoch nicht zu erkennen. Die behördliche Anfechtungsbefugnis nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB will missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennungen entgegentreten, durch die Staatsbürgerschaft, Aufenthaltsrecht und mittelbar auch Sozialleistungen erschlichen worden sind bzw. werden sollen (BT-Drucks. 16/3291, S. 11 ff.; Palandt/Brudermüller, BGB, 70. Aufl., § 1600 Rdnr. 6). Das berechtigte Interesse des Gesetzgebers, diesen an die Abstammung geknüpften Rechtsfolgen entgegenzuwirken, rechtfertigt allerdings eine Differenzierung zwischen nichtehelich und scheinehelich geborenen Kindern nicht.
Sowohl die Vater-Kind-Zuordnung aufgrund einer missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung, die unter den Anwendungsbereich des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB fällt, als auch die Abstammungszuordnung aufgrund einer Scheinehe beruhen auf einer Personenstandsmanipulation. Dadurch werden in beiden Fällen Aufenthaltstitel bzw. die deutsche Staatsangehörigkeit zu Unrecht erlangt. Eine Differenzierung ist daher nicht gerechtfertigt, auch wenn bei Eingehung einer Scheinehe – bezogen auf das Kind – die ausländerrechtlichen Vorteile nicht gewollter Hauptzweck, sondern unbeabsichtigte Nebenfolge sein mag (vgl. Helms, StAZ 2007, 69, 71).
Die Klärung der Verfassungsmäßigkeit der hier in Rede stehenden Norm ist daher notwendig, zumal sich auch aus der Stellungnahme der Klägerin vom 22.02.2011 zu dem den Parteien vorab zugesandten Entwurf des Senatsbeschlusses keine Gesichtspunkte ergeben haben, die die verfassungsrechtlichen Bedenken des Senats ausräumen könnten. Eine verfassungskonforme Auslegung scheidet aus. Denn der Wortlaut des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB ist einer Auslegung nicht zugänglich. Die Regelung ist eindeutig und unmissverständlich.