VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 29.07.2011 - 21 L 1127/11.A - asyl.net: M19084
https://www.asyl.net/rsdb/M19084
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für sechs Monate gegen Dublin-Überstellung nach Italien (Änderung der Rechtsprechung). Durch die befristete Anordnung erhält das BAMF die Möglichkeit, entweder konkrete Garantien Italiens für den Antragsteller zu erwirken oder aber von dem Selbsteintritt Gebrauch zu machen. Es wird darauf hingewiesen, dass das BAMF zu entsprechender Aufklärung und Ermittlung verpflichtet ist und - nachdem die o. g. Erkenntnisse zu den Aufnahmebedingungen in Italien seit jedenfalls etwa einem Jahr öffentlich diskutiert werden und Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen sind - die gegenteilige Auffassung längst hätte untermauern müssen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Italien, Griechenland, Belgien, Konzept der normativen Vergewisserung, subjektives Recht, Selbsteintritt, Ermessen, Obdachlosigkeit, medizinische Versorgung, Existenzgrundlage,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. c, GG Art. 16a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1 S. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Nachdem der Einzelrichter der beschließenden Kammer zu Jahresbeginn anhand der seinerzeit vorliegenden Erkenntnisse noch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür hatte, dass das Asylsystem in Italien diesem Konzept nicht (mehr) entsprechen könnte (- Beschluss vom 7. Januar 2011 – 21 L 2285/10.A -, www.nrwe.de –) hält die Kammer und der ihr angehörende beschließende Einzelrichter aufgrund der seither erschienenen ausführlichen neuen Erkenntnisse an dieser Rechtsprechung nicht mehr fest.

Es kann dabei dahinstehen, ob Bedenken bestehen, dass der Antragsteller seine Asylgründe in Italien uneingeschränkt vorbringen kann oder ob ihm dies dort nicht oder nur unter erheblichen, mit dem unions- bzw. völkerrechtlichen Standard unvereinbaren Einschränkungen möglich ist (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Juli 2011 – 5 L 1096/11.A – mit zahlreichen Nachweisen).

Aus den vorliegenden Erkenntnissen (- Schweizerische Flüchtlingshilfe/The law students´ legal aid office (Juss-Buss), Norwegen: Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien – Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende, Mai 2011; Bethke/Bender, Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010, vom 29.11.2010; Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittstaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand: 22. Juni 2010); Antwort der Bundesregierung vom 18. April 2011 auf eine Kleine Anfrage, BT-Drucksache 17/5579 -) ergibt sich jedenfalls für das Gericht, dass die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge in Italien völlig überlastet sind, so dass die große Mehrheit der Asylsuchenden ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu Nahrung, Wasser und Elektrizität leben muss. Auch die Gesundheitsversorgung ist nicht ausreichend sichergestellt, da diese teilweise nur mit einer festen Wohnadresse beansprucht werden kann. Asylsuchende sollen in Italien bis zu einem Asylentscheid an sich in einem CARA (Empfangszentrum für Asylsuchende) aufgenommen werden. Viele Asylsuchende finden jedoch keinen Aufnahmeplatz, insbesondere in Süditalien sind die Strukturen völlig überlastet. Das SPRAR (Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge) soll Asylsuchenden und Flüchtlingen den Zugang zu Arbeit und zur Landessprache erleichtern. Auch hier bestehen landesweit lediglich 3.000 Plätze, die eine Aufnahme von jeweils maximal 6 Monaten ermöglichen. Im Jahr 2009 wurden indes 17.603 Asylsuchende verzeichnet, 2008 haben 31.000 Personen ein Asylgesuch gestellt, im Jahr 2007 waren es 14.000 Menschen. Die große Mehrheit der Asylsuchenden ist damit ungeschützt, ohne Obdach, Integrationshilfe und gesicherten Zugang zu Nahrung, Wasser und Elektrizität. Die Betroffenen übernachten in Parks, leerstehenden Häusern und überleben nur dank der Hilfe karitativer Organisationen. In der kalten und feuchten Jahreszeit wird ihre Lage noch prekärer. In Rom zeigt sich die landesweit dramatische Situation sehr deutlich. Dort warten über 2.300 Personen auf einen SPRAR Platz, von denen es in Rom lediglich 200 gibt. Viele weitere melden sich wegen der langen Warteliste gar nicht erst an (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe/The law students´ legal aid office (Juss-Buss), Norwegen: Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien – Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende, Mai 2011; Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, a.a.O.).

Zwar werden nach der zuletzt zitierten Auskunft "Dublin-Rückkehrer" in Bezug auf Aufnahmeplätze bevorzugt behandelt. Wenn jedoch kein Platz vorhanden ist, werden auch sie lediglich auf eine Warteliste gesetzt, was dazu führt, dass die meisten nach Italien zurückgeführten Asylsuchenden obdachlos sind. Nach dem Bericht von Bethke und Bender gibt es eine bevorzugte Behandlung von "Dublin-Rückkehrern" praktisch überhaupt nicht. Laut offiziellem Bericht des SPRAR wurden lediglich 12 % der "Dublin-Rückkehrer" in den Jahren 2008 und 2009 in ein SPRAR-Projekt vermittelt; 88 % wurden hingegen der Obdachlosigkeit überlassen. Im Jahre 2008 wurden von insgesamt 1.308 "Dublin-Rückkehrern" lediglich 148 in ein SPRAR-Projekt aufgenommen. Im Jahr 2009 erhielten von 2.658 Überstellten lediglich ca. 315 Personen einen Platz in einer Unterkunft (vgl. Bethke/Bender, a.a.O. S. 23).

Die Bundesregierung ist zwar der Ansicht, dass Asylbewerber in Italien einen (gerichtlich durchsetzbaren) Rechtsanspruch auf Unterkunft haben, gibt aber selbst zu, dass ihr belastbare und detaillierte eigene Erkenntnisse über die Unterbringung von Asylbewerbern in Italien nicht vorliegen (Antwort der Bundesregierung vom 18. April 2011 auf eine Kleine Anfrage, BT-Drucksache 17/5579, S. 7).

Das Bundesamt ist diesen von Seiten des Antragstellers umfangreich in das Verfahren eingebrachten Erkenntnissen nicht entgegen getreten.

Angesichts der durch die kriegerischen Auseinandersetzungen und der damit einhergehenden instabilen Verhältnisse in Nordafrika zu erwartenden weiteren Flüchtlingsströme von Afrika nach Italien wird sich die Entwicklung in Italien in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern.

Vor diesem Hintergrund besteht Grund zu der Annahme, dass durch den Vollzug der angegriffenen Verwaltungsentscheidung vollendete Tatsachen zum Nachteil des Antragstellers geschaffen werden, die ihn unzumutbar belasten würden.

Der Antragsteller hat gegenüber der Antragsgegnerin mithin einen Anspruch darauf, dass diese von der ihr in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO eingeräumten Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts ermessensfehlerfrei Gebrauch macht. Als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht bildet die Verordnung eine geeignete Grundlage für die Begründung subjektiver Rechte. Ob Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Ausländern grundsätzlich ein Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gewährt (so Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, § 27a Rn. 135; Marx, Asylverfahrensgesetz, § 29 Rn. 51), kann an dieser Stelle offen bleiben. Jedenfalls besteht ein solcher Anspruch dann, wenn die Entscheidung durch nationales Verfassungsrecht, wie z.B. durch Art. 6 Abs. 1 GG, durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG im Falle einer behandlungsbedürftigen Krankheit oder durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG im Hinblick auf ein eventuell nicht den europäischen Mindestanforderungen entsprechendes Asylverfahren und die mangelnde Sicherstellung des Lebensunterhalts geprägt wird (vgl. im Hinblick auf Art. 3 EMRK insbesondere Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 21. Januar 2011 – Beschwerde 30696/09 -, juris).

Die Gewährleistung dieses Anspruchs steht nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand des Gerichts in Frage. Hiervon ausgehend ist der Anspruch des Antragstellers auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO gefährdet.

Durch die vorliegend befristet erlassene Anordnung erhält die Antragsgegnerin die Möglichkeit, entweder konkrete Garantien Italiens für den Antragsteller dahingehend zu erwirken, dass diesem bei einer Überstellung umgehend eine Registrierung seines Asylantrags sowie Informationen unter Hinzuziehung eines anerkannten Dolmetschers und Rechtsbeistandes ermöglicht werden, er in einer angemessenen Unterkunft untergebracht wird und im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung erhält, oder aber von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Antragsgegnerin zur entsprechenden Aufklärung und Ermittlung verpflichtet ist und - nachdem die o.g. Erkenntnisse zu den Aufnahmebedingungen in Italien seit jedenfalls etwa einem Jahr öffentlich diskutiert werden und Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen sind - ihre gegenteilige Auffassung längst hätte untermauern müssen. [...]