Anspruch auf Kindernachzug für minderjähriges Kind aus dem Kosovo zum deutschen Vater.
1. Ohne Bedeutung ist angesichts des Wortlauts des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, ob der Vater das alleinige Sorgerecht hat oder den Lebensunterhalt des Kindes sichern kann. Jedenfalls ist das in § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen des Auswärtigen Amtes zugunsten der Erteilung des begehrten Visums auf Null reduziert. Berücksichtigte man im Rahmen des § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu Lasten des nachzugswilligen Kindes die fehlende Sicherung seines Lebensunterhaltes, stellte dies eine Umgehung der gesetzlichen Wertung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG dar, wonach der Kindernachzug zu einem Deutschen nicht von der Sicherung des Lebensunterhalts des nachziehenden Kindes abhängig ist.
2. Eine Visumsversagung im Ermessenswege verstößt ferner gegen Art. 20 AEUV, wonach jede Person, die - wie der Vater des Klägers - die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, den Status eines Unionsbürgers hat. Verwiese man den Vater des Klägers auf die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Kosovo, käme dies im Ergebnis einer Verweigerung seines weiteren Verbleibs im EU-Gebiet gleich. Dies würde nach der Rechtsprechung des EuGH die ihm aus seiner Unionsbürgerschaft erwachsenen Rechte im Kernbestand verletzen. Unerheblich ist hierbei, dass der Vater auch die Staatsangehörigkeit des Kosovo oder von Serbien und Montenegro besitzt.
[...]
Die Klage in Form der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Pristina vom 29. Oktober 2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO), denn er hat einen Anspruch auf das beantragte Visum zum Kindernachzug.
Anspruchsgrundlage für das begehrte Visum ist § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen minderjährigen ledigen Kind eines Deutschen zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger ist der Sohn des deutschen Staatsangehörigen B., der sich im Bundesgebiet aufhält. Er ist minderjährig und ledig. Anhaltspunkte, dass die Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen Kläger und seinem Vater nicht beabsichtigt ist, bestehen nicht. Ob der Vater des Klägers das alleinige Personensorgerecht innehat, ist angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlautes des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, in dem anders als in § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG dieses Erfordernis nicht aufgeführt wird, ohne Bedeutung (vgl. Fritz/Marx, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: 26. Mai 2008, § 28, Rdnr. 60). Im Übrigen steht dem Vater des Klägers nach Art. 128 Abs. 1 FamG des Kosovo jedenfalls das gemeinsame Personensorgerecht zu (vgl. Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Kosovo, S. 27).
Der Visumserteilung steht nicht der Versagungsgrund des § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Danach kann die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs versagt werden, wenn derjenige, zu dem der Familiennachzug stattfindet, für den Unterhalt von anderen Familienangehörigen oder anderen Haushaltsangehörigen auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB XII) angewiesen ist. Es kann dahinstehen, ob § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im vorliegenden Fall aufgrund der Erwägung unanwendbar ist, weil § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass es beim Kindernachzug zu einem Deutschen auf die Sicherung des Lebensunterhaltes des Nachziehenden nicht ankommt. Gleichermaßen kann offen bleiben, ob der Tatbestand von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG deshalb nicht vorliegt, weil der Vater des Klägers derzeit ein ausreichendes Einkommen bezieht, um damit den Unterhalt für seine Tochter A. ohne Rückgriff auf öffentliche Leistungen sicherzustellen. Denn jedenfalls ist das dem Auswärtigen Amt in § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen zugunsten der Erteilung des begehrten Visums auf Null reduziert.
Maßgeblich ist in der Ermessensabwägung darauf abzustellen, ob der Nachzug des Klägers den mit § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verfolgten Zweck beeinträchtigt. Zweck dieser Vorschrift ist, sicherzustellen, dass durch den Zuzug die Sicherung des Lebensunterhaltes für die Person nicht in Frage gestellt wird, denen der Stammberechtigte bisher Unterhalt geleistet hat (vgl. Bt-Drs. 15/420, S. 81; Fritz/Marx, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: 26. Mai 2008, § 27, Rdnr. 250, 252; Hofmann/Hoffmann/ Müller, Ausländerecht, § 27, Rdnr. 30). Dieser Zweck wird im Falle des Nachzugs des Klägers nicht berührt, da sich bei seinem Zuzug die Unterhaltssituation für seine Halbschwester A... nicht verschlechtert und auch eine mögliche Verbesserung nicht beeinträchtigt. Derzeit erfüllt der Vater des Klägers seine Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seiner Tochter und verfügt aktuell über ausreichende Einkünfte, um den Kindesunterhalt auch im Falle des Zuzugs des Klägers zu gewährleisten, ohne dafür auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII angewiesen zu sein. Der Unterhaltsbedarf der nach Einreise des Klägers zweiköpfigen Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II beträgt derzeit 1.015,- Euro: [...]
Dem steht im Moment ein Nettoeinkommen von 1.401,- Euro gegenüber:[...]
Bei dieser Einkommenssituation verbleiben beim Zuzug des Klägers seinem Vater 386,- Euro, um daraus den Unterhalt für seine Tochter zu zahlen, den das Amtsgericht W... seinerzeit auf 202,- Euro monatlich festgesetzt hat, und gegebenenfalls eine größere Wohnung für sich und den Kläger anzumieten. Der Umstand, dass diese Einkommenssituation nicht hinreichend verlässlich ist, weil der Vater des Klägers am 1. August 2011 bei dem Unternehmen a... GmbH eine neue Stelle angetreten hat und die Probezeit erst am 31. Januar 2012 endet, kann dem Kläger bei der Ermessensausübung nicht entgegengehalten werden. Sollte sein Vater die Probezeit erfolgreich beenden, so ist er für den Unterhalt für seine Tochter A... weiterhin nicht auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Für den Fall, dass seinem Vater innerhalb der Probezeit gekündigt werden sollte, hätte ein Nachzug des Klägers keine Auswirkungen auf die Unterhaltssituation für seine Stiefschwester und würde daher den Schutzzweck von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht berühren. Denn soweit sein Vater kein Arbeitseinkommen beziehen kann, wäre er unabhängig vom Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet für den Unterhalt seiner Tochter auf öffentliche Leistungen angewiesen. Auch würde ein Nachzug des Klägers sich nicht nachteilig darauf auswirken, dass sein Vater eine möglicherweise eintretende Angewiesenheit auf Leistungen nach dem SGB II wegen einer Kündigung innerhalb der Probezeit nicht wieder beenden könnte. Denn wenn er eine neue Arbeitsstelle finden sollte, ist zu erwarten, dass er dort ein ausreichendes Einkommen bezieht, um ohne öffentliche Leistungen den Unterhalt für seine Tochter sicherstellen zu können. Diese Erwartung stützt sich darauf, dass er seit August 2010 durchgehend ein Einkommen erzielt hat, mit dem er – auch bei Nachzug des Klägers – ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen seiner Tochter Unterhalt leisten konnte. Sofern er nach einer möglichen Kündigung innerhalb der Probezeit keine neue Arbeitsstelle finden sollte, wäre er für den Kindesunterhalt auch dann auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen, wenn der Kläger im Kosovo verbliebe, mit der Folge, dass sich sein Nachzug nicht nachteilig auf den Unterhalt von A. auswirken kann.
Die Frage, ob der Zuzug des Klägers voraussichtlich zu einer Erhöhung der öffentlichen Leistungen in der Weise führte, indem er selbst solche Leistungen beziehen werde, hat bei der Ermessensausübung in der vorliegenden Konstellation außer Betracht zu bleiben. Eine solche Prüfung liefe nämlich der Systematik des Aufenthaltsgesetzes zuwider, da § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG festlegt, dass der Kindernachzug zu einem Deutschen nicht davon abhängt, ob der Lebensunterhalt des nachziehenden Kindes gesichert ist. Berücksichtigte man jedoch im Rahmen von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zulasten des nachzugswilligen Kindes die fehlende Sicherung seines Lebensunterhaltes, stellte dies eine Umgehung der gesetzlichen Wertung dar.
Des Weiteren ist eine Ermessensentscheidung zu Lasten des Klägers – wie er zutreffend ausgeführt hat – mit dem besonders starken Gewicht, das dem Nachzugsbegehren zu einem deutschen Staatsangehörigen zukommt, unvereinbar. Dem Kläger ist ein Getrenntleben von seinem Vater in Hinblick auf das Grundrecht auf Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und dem Menschenrecht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) nur zumutbar, wenn dies zur Wahrung zwingender öffentlicher Interessen notwendig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 – BVerwG 1 C 14.97 – juris, Rdnr. 27; Fritz/Marx, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: 26. Mai 2008, § 27, Rdnr. 272; Hofmann/Hoffmann/ Müller, Ausländerecht, § 27, Rdnr. 30). Dies ist nur dann der Fall, wenn die Erteilung des Visums Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt und dies so gewichtig ist, dass es die bei Ablehnung des Sichtvermerks zu erwartende Beeinträchtigung der Familie eindeutig überwiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 1978 – BVerwG I C 79.76 – juris, Rdnr. 19). Es ist schon nicht ersichtlich, dass der Nachzug des Klägers berücksichtigungsfähige öffentliche Interessen berührt. Das einzig in Betracht kommende öffentliche Interesse, einen Zuzug von Ausländern in Sozialversicherungssysteme zu vermeiden, hat angesichts der Regelung in § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG außer Betracht zu bleiben.
Ferner verstößt eine Visumsversagung im Ermessenswege – worauf der Kläger zu Recht hingewiesen hat – gegen Art. 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die – wie der Vater des Klägers – die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, den Status eines Unionsbürgers (vgl. EuGH, Urteil vom 8. März 2011, C-34/09, ["Zambrano"], juris, Rdnr. 40, m.w.N.). Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach hervorgehoben, dass der in Art. 20 AEUV verankerte Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. EuGH, Urteil vom 8. März 2011, a.a.O., Rdnr. 41, m.w.N.). Art. 20 AEUV steht daher nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbereichs der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 8. März 2011, a.a.O., Rdnr. 42). In der Rechtssache Zambrano hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass eine derartige Auswirkung vorliegt, wenn einer einem Drittstaat angehörenden Person in dem Mitgliedstaat, in dem ihre minderjährigen Kinder, die diesem Mitgliedstaat angehören und denen sie Unterhalt gewährt, der Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis verweigert werden, denn eine solche Aufenthaltsverweigerung habe zur Folge, dass die Kinder – Unionsbürger – gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten. Aus dieser Rechtsprechung folgt offenkundig, dass der Europäische Gerichtshof nationale Maßnahmen, die dazu führen, dass Unionsbürger das Gebiet der Union verlassen müssen, als solche ansieht, die diesen Unionsbürgern den tatsächlichen Genuss des Kernbestandes der Rechte verwehren, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht. Dies hat hier zur Konsequenz, dass für eine Versagung des begehrten Visums nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kein Raum ist. Denn verwiese man den Vater des Klägers auf die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Kosovo, käme dies im Ergebnis einer Verweigerung seines weiteren Verbleibs im Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gleich (vgl. VG Berlin, Urteil vom 9. August 2011 – VG 1 K 343.10 V –). Dies würde nach der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die ihm aus seiner Unionsbürgerschaft erwachsenden Rechte in deren Kernbestand verletzen. Der Umstand, dass der Vater des Klägers neben der deutschen auch die Staatsangehörigkeit des Kosovo oder von Serbien und Montenegro besitzt, ist unerheblich, denn das Hinzutreten einer weiteren Staatsangehörigkeit hat keinen Einfluss auf den Umfang des Kernbestands der Rechte, den der Unionsbürgerstatus verleiht (vgl. VG Berlin, Urteil vom 16. Juni 2011 – VG 1 K 8.11 V –). [...]