OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2011 - 12 B 12.10 - asyl.net: M19087
https://www.asyl.net/rsdb/M19087
Leitsatz:

1. Die Dauer der mit einer Ausweisung verfügten Sperrwirkung richtet sich im Hinblick auf deren Akzessorietät nach dem mit der Ausweisung verfolgten zulässigen konkreten Zweck. Ist der Zweck erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitliche Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist.

2. Hat sich eine im Zeitpunkt der Ausweisung 1998 unter Berücksichtigung besonderen Ausweisungsschutzes gestellte Prognose, dass im Hinblick auf ein gravierendes Drogendelikt eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen ernsthaft drohte und damit eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausging, nicht bestätigt, lässt sie sich nach 13 Jahren nicht mehr aufrecht erhalten.

Schlagwörter: Sperrwirkung, Ausweisung, spezialpräventiv, generalpräventiv, Generalpräventiver Zweck, Ausweisungszweck, freiwillige Ausreise, Straftat, Drogendelikt, Sorgerecht, gemeinsames Sorgerecht, Duldung, Befristung, Befristungsantrag, Gefahrenprognose, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Wiederholungsgefahr, türkische Staatsangehörige, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn die versagenden Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat auf die von ihm begehrte weitere Befristung auf den Tag der freiwilligen Ausreise einen Anspruch, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage der Befristungsentscheidung ist § 11 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Satz 1 und Satz 2 AufenthG. Danach wird die Sperrwirkung der Ausweisung (Einreiseverbot, Verbot der erneuten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) auf Antrag in der Regel befristet, wobei die Bemessung der Frist grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde steht.

Die Dauer der mit einer Ausweisung verfügten Sperrwirkung richtet sich im Hinblick auf deren Akzessorietät nach dem mit der Ausweisung verfolgten zulässigen konkreten Zweck (vgl. dazu auch VGH München, Beschluss vom 26. März 2009 – 19 ZB 09.498 -, juris, Rn. 2; VGH Mannheim, Urteil vom 26. März 2003, InfAuslR 2003, 333). Die Sperrwirkung darf grundsätzlich nur so lange fortbestehen, wie es der Ausweisungszweck erfordert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. April 1984, BVerwGE 69, 137, 141; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage, § 11 Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 11 AufenthG Rn. 25 ff., 30). Ist der Zweck erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitliche Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11. August 2000, BVerwGE 111, 369).

Bei der Beantwortung der Frage, ob der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive oder generalpräventive Ausweisungszweck erfüllt ist, muss die Ausländerbehörde eine Gefahrenprognose treffen, bei der sie alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und sachgerecht abwägt. Hierzu zählen auch das Verhalten des Ausländers nach der Ausweisung und der Ausweisungsgrund (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007, BVerwGE 129, 243).

Gemessen daran hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass der Beklagte die Wirkung der Ausweisung – wie beantragt – auf den Tag der freiwilligen Ausreise befristet. Das dem Beklagten insoweit zustehende Ermessen ist auf Null reduziert, weil der hier allein zulässige spezialpräventive Zweck der Ausweisung erfüllt ist. Es ist nicht mehr zu erwarten, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Klägers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 31. August 2004 – 1 C 25/03 -. BVerwGE 121, 356 = juris Rn. 16).

Der Kläger ist 1998 wegen des ihm gemäß § 48 Abs. 1 AuslG zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes aus schwer wiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen worden, wobei die zwingende Ausweisung im Sinne von § 47 Abs. 1 AuslG nach § 47 Abs. 3 Satz 1 zur Regel-Ausweisung herabgestuft worden war. Die Ausweisung durfte im Hinblick auf das dem Kläger unstreitig zustehende Recht aus Art. 7 ARB Nr. 1/80 nur aus spezialpräventiven Gründen erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 2005, BVerwGE 124, 243). Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige allein im Ermessenswege ausgewiesen werden dürfen, ist allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt worden (vgl. insoweit BVerwG, Urteil vom 3. August 2004, BVerwGE 121, 315 ff.). Im Hinblick auf das ihm zustehende Assoziationsrecht hätte der Kläger danach nur im Ermessenswege und nur dann ausgewiesen werden dürfen, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung dargestellt hätte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührte. Eine strafrechtliche Verfehlung durfte nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellte und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutete (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - C-349/06 – Polat, NVwZ 2008, 59 Rn. 28 ff.; BVerwG, Urteil vom 2. September 2009, NVwZ 2010, 389). Es spricht einiges dafür, dass auch diese Voraussetzungen vor allem im Hinblick auf die Art der Straftat (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) und auf deren erhebliches Gewicht, das sich u.a. in dem verhängten Strafmaß von vier Jahren Freiheitsstrafe manifestiert, vorlagen.

Die im Zeitpunkt der Ausweisung 1998 unter Berücksichtigung besonderen Ausweisungsschutzes gestellte Prognose, dass im Hinblick auf das gravierende Drogendelikt eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Klägers ernsthaft drohte und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausging (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997 - 1 C 17/94 -, juris Rn. 19 = InfAuslR 1997, 296), ist nicht bestätigt worden und lässt sich jetzt nicht mehr aufrecht erhalten. Der Kläger war den Feststellungen des Urteils des Landgerichts Berlin vom 21. Mai 1996 zufolge bis zur Begehung der Straftat im August 1995 in wirtschaftlicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert. Er unterhält bis heute schutzwürdige familiäre Beziehungen zu seinen Kindern und lebte bis 2004 in ehelicher Lebensgemeinschaft mit deren Mutter. Vor der Begehung des Betäubungsmitteldelikts im Sommer 1995 war er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Dies ist auch seit seiner Festnahme vor rund 15 ½ Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Dem Kläger wurden während seiner Inhaftierung bereits 1997 und somit sehr frühzeitig Vollzugslockerungen u.a. als Freigänger gewährt. Die Anfang 2000 mit Aussetzung der restlichen Strafvollstreckung (§ 57 StGB) auferlegte Bewährungszeit ist schon vor vielen Jahren erfolgreich abgelaufen; die ausgesetzte restliche Freiheitsstrafe wurde vor 8 Jahren erlassen. Vor diesem Hintergrund können dem Kläger die hohe kriminelle Energie, die sich seinerzeit in der begangenen Straftat manifestiert hat, und deren erheblicher Unwertgehalt nicht mehr vorgehalten werden. Der Zweck der Ausweisung, mit der der Beklagte einer Wiederholungsgefahr begegnen wollte (und allein durfte), ist inzwischen erreicht.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kommt einem unterstellten Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK hier kein so erhebliches Gewicht zu, dass der Kläger mit dem Beklagten weiterhin für gefährlich gehalten und der Zweck der 1998 verfügten Ausweisung als noch nicht erfüllt angesehen werden dürfte. Es kommt in rechtlicher Hinsicht insoweit nicht allein auf die Frage an, ob der Kläger nach der Ausweisung erneut in irgendeiner Weise straffällig geworden ist, sondern entscheidend ist vielmehr, ob eine eventuell erneut begangene Straftat die im Zeitpunkt der Ausweisung gestellte Gefahrenprognose bestätigt, d.h. ob die prognostizierte Gefährlichkeit fortbesteht und deshalb eine Aufrechterhaltung der Sperrwirkung erforderlich ist. Die Gefahrenprognose ist wiederum im Zusammenhang mit der rechtlichen Grundlage zu sehen, die zu der Ausweisung des Ausländers geführt hat. Geringfügigen strafrechtlichen Verfehlungen muss hier zumindest eine Indizwirkung dafür zukommen, dass der Ausweisungszweck noch nicht erfüllt ist und die Begehung weiterer – auch erheblicher - Straftaten erwartet werden kann.

Anders als der Beklagte meint bedeutet dies keine unzulässige Privilegierung bestimmter Ausländer, denn schließlich hängt auch die Möglichkeit einer Ausweisung von der Verfestigung des Aufenthaltsstatus und der konkreten Situation des Ausländers ab. So hätte der Kläger im Gegensatz etwa zu einem Ausländer ohne verfestigten Aufenthaltsstatus und ohne Bindungen im Bundesgebiet nicht wegen einer geringfügigen Straftat ausgewiesen werden können. Dass bestimmte Ausländer auf einfachere Weise ausgewiesen werden können als andere, entspricht dem gesetzlichen Befund und bedeutet keine unzulässige Ungleichbehandlung.

Gemessen daran geben etwaige aufenthaltsrechtliche Verstöße durch den Verbleib des Klägers im Bundesgebiet sowie etwaige fehlende Bemühungen um Ausstellung eines Passes im Hinblick auf ihre Art und ihr Gewicht keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür, dass der Zweck der 1998 verfügten Ausweisung noch nicht erfüllt ist. Dies hat auch der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid vom 26. März 2008 offensichtlich so gesehen, denn er hat als Zweck der Ausweisung u.a. die Verhinderung weiterer vergleichbarer Straftaten genannt.

Soweit das Bundesverwaltungsgericht das Vorliegen eines Ausnahmefalles von der regelmäßig zu erfolgenden Befristung für möglich gehalten hat, wenn ein Ausländer nicht freiwillig ausgereist ist und – ggf. mehrfach - abgeschoben werden musste, oder wenn ein Ausländer illegal wieder einreist (BVerwG, Urteil vom 11. August 2000, BVerwGE 111, 369), ist diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Abgesehen davon, dass es – wie auch das Bundesverwaltungsgericht betont – stets auf die Umstände des Einzelfalles ankommt, ist der Kläger nicht abgeschoben worden und versucht auch nicht mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit und unbeeindruckt von der Ausweisung, sich ein Bleiberecht im Bundesgebiet zu verschaffen. Der Beklagte hat auch keinen weiteren Versuch unternommen, den Kläger abzuschieben. Nach alledem ist eine Aufrechterhaltung der Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen nicht geboten. Von dem Kläger geht die im Zeitpunkt der Ausweisung bejahte Gefahr nicht mehr aus.

Unabhängig davon haben weder das Verwaltungsgericht noch der Beklagte hinreichend geklärt, ob und in welchem Ausmaß der Kläger tatsächlich in strafrechtlich relevanter Weise gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Zum einen ist insofern zu berücksichtigen, dass eine etwaige Strafbarkeit bis zum Abschluss des Asylverfahrens im Jahr 2005 nicht bestanden haben dürfte. Zum anderen spricht einiges dafür, dass dem Kläger im Hinblick auf seine familiäre Situation und das ihm für beide Kinder zustehende und tatsächlich ausgeübte Sorgerecht ein Duldungsanspruch nach – heute - § 60 a AufenthG zustand. Insoweit kommt es nicht allein darauf an, ob die minderjährigen Kinder auf eine Unterstützung durch den Kläger angewiesen waren, sondern auf die Intensität der zu keinem Zeitpunkt unterbrochenen familiären Beziehungen. Unter diesen Umständen hätte dem Kläger sogar trotz der Ausweisung eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden können, ohne dass die Sperrwirkung hierdurch beseitigt worden wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2010, BVerwGE 136, 284). Der 1995 geborene Sohn des Klägers, mit dem er bis 2004 in Haushaltsgemeinschaft gelebt hatte, war bei Abschluss des Asylverfahrens erst zehn Jahre alt, und die familiären Bindungen zu dem Kläger waren schon damals - wie die Tochter des Klägers in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und nachvollziehbar bekundet hat - von erheblichem Gewicht. Hinzu kommt, dass der Geburt des Sohnes während der Untersuchungshaft des Klägers eine Zäsurwirkung zukommt, denn der Kläger ist danach strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten. Die familiäre Beziehung wurde auch während der Inhaftierung des Klägers gelebt, weil er sehr bald in den offenen Vollzug verlegt wurde und seine Familie regelmäßig besuchte.

Im Übrigen hat der Beklagte den bereits 1999 gestellten Befristungsantrag erst nach rund acht Jahren beschieden, und die ursprünglichen Bescheide, die der Beklagte erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu Gunsten des Klägers geändert hat, waren im Hinblick auf die Dauer der Befristung und die dann mit dem Widerspruchsbescheid vom 26. März 2008 - dreizehn Jahre nach Begehung der Straftat - verfügte Verneinung eines Regelfalles im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG offensichtlich rechtswidrig. Unter all diesen Umständen kann es dem Kläger hier nicht im Befristungsverfahren vorgehalten werden, der Ausweisungszweck sei noch nicht erfüllt, weil der Kläger nicht freiwillig ausgereist sei. [...]