SG Freiburg

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Zitieren als:
SG Freiburg, Urteil vom 25.07.2011 - S 9 SO 5262/08 - asyl.net: M19090
https://www.asyl.net/rsdb/M19090
Leitsatz:

Bei grundrechtlich begründeter dauerhafter Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Zuzug aus einem anderen Bundesland (hier Art. 6 GG) ist bei Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG mit Wohnsitzauflage das "unabweisbar Gebotene gem. § 23 Abs. 5 S. 1 SGB XII verfassungskonform auszulegen und dementsprechend Grundsicherung zu gewähren.

Schlagwörter: verfassungskonform, unabweisbar gebotene Leistungen, Wohnsitzauflage, Wohnsitzwechsel, Aufhebung der Wohnsitzauflage, Unzumutbarkeit der Rückkehr
Normen: SGB XII § 23 Abs. 5, AufenthG § 23, AufenthG § 23a, AufenthG § 24 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 3-5, BSHG § 120 Abs. 5, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift § 120 Abs. 5 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), die § 23 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB XII vergleichbar war, aber eine Satz 3 a.a.O. entsprechende Regelung noch nicht enthielt, war anerkannt, dass eine Beschränkung der Leistungen auf die Rückreisekosten (gleich, ob nach Satz 1 oder Satz 2 der Vorschrift) in zwei Fällen wegen andernfalls drohenden Verstoßes gegen höherrangiges Recht nicht zulässig war: Einmal bei Personen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (grundlegend BVerwG-Urt. v. 18.5.2000, Az.: 5 C 29/98, <juris>), zum anderen, wenn der auch in Abwägung mit dem Gesetzeszweck des § 120 Abs. 5 BSHG nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Wunsch nach Herstellung der ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft Grund für die Wahl des Aufenthaltsorts ist (vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschl. v. 16.6.2000, Az.: 4 M 1928/00 = FEVS 52, 82; VG Aachen, Beschl. v. 18.11.1999, Az.: 2 L 1166/99 = InfAuslR 2000, 85; OVG Berlin, Beschl. v. 30.5.1997, Az. 6 S 14.97, <juris>). Dogmatisch wurde dies teils mit einer Nichtanwendbarkeit von § 120 Abs. 5 BSHG kraft Verfassungsrechts begründet (BVerwG, OVG Niedersachsen, VG Aachen, alle a.a.O.). Zutreffender scheint es der Kammer, den unbestimmten Rechtsbegriff des "unabweisbar Gebotenen" in derartigen Fällen verfassungskonform so auszulegen, dass im Einzelfall die Reisekosten übersteigende Leistungen bis hin zu vollumfänglichen Sozialhilfeleistungen (bei grundrechtlich begründeter, dauerhafter Unzumutbarkeit der Rückkehr) "unabweisbar geboten" sein können (OVG Berlin, a.a.O.).

Diese Rechtsprechung ist nach Überzeugung der Kammer in Anbetracht der unveränderten grundrechtlichen Rahmenbedingungen einerseits, der im wesentlichen inhaltsgleichen Übernahme von § 120 Abs. 5 BSHG in § 23 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB XII auf diese zu übertragen. Zwar enthält § 23 Abs. 5 Satz 3 SGB XII nunmehr eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, durch die die Anwendung des § 23 Abs. 5 Satz 2 SGB XII (nicht aber die des hier einschlägigen Satz 1 der Vorschrift) nach Maßgabe der Rechtsprechung zu § 120 Abs. 5 BSHG eingeschränkt wird. Es wäre jedoch verfehlt, hieraus den Schluss zu ziehen, § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII könne ohne Rücksicht auf mögliche Beeinträchtigungen insbesondere des Grundrechts aus Art. 6 GG angewandt werden. Denn es stand nicht in der Macht des Gesetzgebers, auf einfachgesetzliche Weise die unmittelbar aus der Verfassung begründeten Ausnahmen von der Leistungseinschränkung für Ausländer auf nur einen der hiervon betroffenen zwei Tatbestände zu beschränken. Auch würde es an einer sachlichen Rechtfertigung fehlen, die aus grundgesetzlichen Gründen vor einer Leistungseinschränkung geschützten Ausländer schlechter zu stellen als die aus völkerrechtlichen Aspekten privilegierten (so wohl im Ergebnis auch Birk a.a.O. und Hohm; in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. A. 2006, Rnr. 37, die insoweit auf eine Differenzierung zwischen § 23 Abs. 1 und Abs. 2 SGB XII verzichten). Daher muss entweder § 23 Abs. 5 Satz 3 SGB XII verfassungskonform entsprechend angewendet werden, wenn der Tatbestand des § 23 Abs. 5 Satz 1 erfüllt ist oder - dies hält das erkennende Gericht für die sachgerechte Lösung - der Umfang des "unabweisbar Gebotenen" nach den Umständen des Einzelfalles verfassungskonform bestimmt werden.

Im Falle der LE führt diese Prüfung und insbesondere die Abwägung ihre grundrechtlich geschützten Belange mit dem Gesetzeszweck von § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII zu dem Ergebnis, dass ihr im verfahrensgegenständlichen Zeitraum die ihm Tenor genannten Leistungen als unabweisbar geboten zu erbringen waren.

Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Familie der LE im Zeitpunkt ihres Umzugs nach F die für die LE geltende Wohnsitzauflage bekannt war und diese nicht mit deren alsbaldiger Aufhebung rechnen konnten. Der Familie kann dennoch nicht vorgehalten werden, sie hätte vor einem Wohnsitzwechsel die Aufhebung der Wohnsitzauflage abwarten müssen. Denn vergleichbare Umstände sind in den Fällen des § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII stets gegeben, da andernfalls schon der Tatbestand dieser Norm überhaupt nicht erfüllt wäre. Auch ist zu bedenken, dass die Wohnsitzauflage ausschließlich für die LE, nicht aber für die übrigen Haushaltsangehörigen galt. Deren Umzug nach F war daher - wenn auch nicht durch das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG (da ein so genanntes Deutschengrundrecht) - so doch zumindest durch deren allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) grundrechtlich geschützt. Dies gilt für die Enkelin der LE, die zum Zweck des Beginns einer Ausbildung nach F verzog, in besonderem Maße. Von ihr konnte auch im Interesse der gesellschaftlich erwünschten Integration von Zuwanderern insbesondere der jüngeren Generation keinesfalls erwartet werden, dass sie den ausbildungsbedingten Umzug unterlässt und dadurch die Aussicht auf eine alsbaldige Eingliederung ins Erwerbsleben gefährdet.

Weiter kann der Klägerin nicht entgegengehalten werden, zumindest sie und ggf. auch ihr Ehemann hätten zur Sicherstellung der Pflege der LE mit dem Umzug nach F bis zur Aufhebung der Wohnsitzauflage abwarten müssen. Denn sie waren hierzu weder aus ausländer- noch sonstigen rechtlichen Gründen verpflichtet und ihr Wunsch, die familiäre Haushaltsgemeinschaft auch mit der Enkelin aufrechtzuerhalten, ist nicht nur in Anbetracht der Umstände (Ausbildungsbeginn der Enkelin am neuen Wohnort, Erwerbslosigkeit der Eltern am alten Wohnort, besondere Bedeutung der familiären Bindungen bei einer Flüchtlingsfamilie aus einem anderen Kulturkreis) in besonderem Maße verständlich, sondern auch von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Der Schutzbereich dieses Grundrechts umfasst insbesondere auch die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern (BVerfG, Urt. v. 5.2.1981, Az. 2 BvR 646/80 = BVerfGE 57, 170). Die Klägerin und ggf. ihr Ehemann hatten aus den genannten Gründen auch keine Obliegenheit, mit der LE und ohne ihre Tochter nach Sachsen zurückzukehren und dort unter Erfüllung der Wohnsitzauflage die Pflege sicherzustellen, zumal der Ehemann der Klägerin in F - anders als zuvor in T - eine zur Deckung des Lebensunterhalts zumindest beitragende geringfügige Beschäftigung gefunden hatte.

Die LE konnte entgegen der Auffassung der Beklagten schließlich nicht darauf verwiesen werden, alleine den Wohnsitz in Sachsen beizubehalten und ihren Pflegebedarf außerfamiliär durch professionelle Pflegedienste oder ein Pflegeheim zu decken. Die LE war im Zeitpunkt des Umzugs hochbetagt und bis zu ihrem Lebensende zunehmend schwer pflegebedürftig, mit den hiesigen kulturellen und sozialen Gegebenheiten als Migrantin aus dem Iran naturgemäß weniger vertraut als seit jeher in Deutschland lebende Personen in gleicher Situation und sie beherrschte die deutsche Sprache nicht. Die LE war daher in besonderem Maße auf die Pflege und Hilfe gerade ihrer Tochter angewiesen. Diese konnte sie aber in Sachsen aufgrund des Umzugs der Klägerin samt Ehemann und Sohn nach F nicht mehr erhalten.

Die Abwägung zwischen dem von § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII verfolgten öffentlichen Interesse, zum Zwecke der möglichst gleichmäßigen Belastung der Sozialhilfeträger eine diese gefährdende Binnenwanderung sozialhilfebedürftiger Ausländer möglichst zu vermeiden, und dem Interesse der LE, bei ihrer Tochter zu wohnen um Pflege und Hilfe von ihr zu erhalten, fällt nach den Umständen des Einzelfalls zugunsten des Letzteren aus. Die Gewährung von Grundsicherungsleistungen und Hilfe zur Pflege durch die Beklagte waren unabweisbar geboten. Dies folgt einfachgesetzlich daraus, dass eine andere Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes den sozialhilferechtlichen Geboten widersprechen würde, dem Hilfeempfänger ein der Würde des Menschen entsprechendes Leben zu ermöglichen (§ 1 Satz 1 SGB XII), bei den Leistungen die besonderen Verhältnisse in der Familie zu berücksichtigen und die Kräfte der Familie zur Selbsthilfe anzuregen sowie den Zusammenhalt der Familie zu festigen (§ 16 SGB XII, familiengerechte Leistungen) sowie den Bedarf des Hilfebedürftigen an Pflege möglichst in Form häuslicher Pflege durch nahestehende Personen zu ermöglichen (§ 63 Satz 1 SGB XII). Allein dieses Ergebnis wird schließlich unter den konkreten Umständen des Einzelfalls dem aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Gebot gerecht, keine Rechtspflichten zu begründen, durch welche gezielt die Gewährung von Hilfe innerhalb der Familie beeinträchtigt würde (BVerfG, Beschl. v. 18.3.1970, Az. 1 BvR 498/66 = BVerfGE 28, 104, 112 f.). [...]