OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.06.2011 - 2 M 38/11 - asyl.net: M19096
https://www.asyl.net/rsdb/M19096
Leitsatz:

1. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (vgl. BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 - 24 CE 07.484 Juris).

2. Es ist auch darauf zu achten, dass sich die krankheitsbedingte Suizidgefahr nicht in dem Zeitraum zwischen der Ankündigung und der Durchführung der Abschiebung realisiert (vgl. OVG NW, Beschl. v. 15.10.2010 - 18 A 2088/10 -, Juris). Auch den Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur endgültigen Übergabe des Ausländers an die Behörden das Zielstaats darf die Ausländerbehörde nicht außer Acht lassen.

3. Die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung - wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung - ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, lässt sich erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (vgl. OVG NW, Beschl. v. 09.05.2007 - 19 B 352/07 - NVwZ-RR 2008, 284).

5. Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008, a.a.O).

(Aus den amtlichen Leitsätzen)

Schlagwörter: Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Reiseunfähigkeit, Sicherungsanordnung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Ausländerbehörde ist von Amts wegen verpflichtet, aus dem Gesundheitszustand des Ausländers folgende Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten, und hat gegebenenfalls durch ein vorübergehendes Absehen von der Abschiebung oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, Beschl. v. 16.04.2002 - 2 BvR 553/02 -, Juris; Beschl. v. 26.02.1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, 241). Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 24.02.2010 - 2 M 2/10 -, Juris) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und so lange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des "Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie - außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs - eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 - 24 CE 07.484 - Juris). Es ist ferner darauf zu achten, dass sich die krankheitsbedingte Suizidgefahr nicht in dem Zeitraum zwischen der Ankündigung und der Durchführung der Abschiebung realisiert (vgl. OVG NW, Beschl. v. 15.10.2010 - 18 A 2088/10 -, Juris). Das von der Ausländerbehörde in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehört der Zeitraum des Aufsuchens und Abholens in der Wohnung, des Verbringens zum Abschiebeort sowie die Zeit der Abschiebehaft (VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 - 11 S 2439/07 -, InfAuslR 2008. 213 [214]). Auch den Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur endgültigen Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats darf die Ausländerbehörde nicht außer Acht lassen (VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008, a.a.O.). Die ihr obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, endet nicht immer schon mit der Ankunft des Ausländers im Zielstaat, sondern kann zeitlich bis zum Übergang in eine Versorgung und Betreuung im Zielstaat fortdauern, wenn dem Ausländer unmittelbar nach seiner Ankunft im Zielstaat eine Gesundheitsgefährdung droht, etwa weil er einer Betreuung oder medizinischen Behandlung bedarf. In derartigen Situationen ist sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Heimatland zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer wie bei der allgemeinen medizinischen Versorgung auch in diesem Zusammenhang regelmäßig auf den allgemein üblichen Standard der Möglichkeiten in seinem Heimatland zu verweisen ist (vgl. Beschl. d. Senats v. 08.09.2010 - 2 M 91/10 -, Juris; OVG NW, Beschl. v. 27.07.2006 - 18 B 586/06 -, EZAR-NF 51 Nr. 12, m. w. Nachw.). Auf Zeiträume "weit" vor und nach der Abschiebung hat das Verwaltungsgericht diese Schutzpflichten nicht ausgedehnt. Der Vorinstanz ist ferner darin beizupflichten, dass sich die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung - wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung - ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten lässt; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (OVG NW, Beschl. v. 09.05.2007 - 19 B 352/07 -, NVwZ-RR 2008, 284). [...]

Macht ein Ausländer eine Reiseunfähigkeit im oben beschriebenen Sinne geltend oder ergeben sich sonst konkrete Hinweise darauf, ist die für die Aussetzung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde verpflichtet, den aufgeworfenen Tatsachenfragen, zu deren Beantwortung im Regelfall medizinische Sachkunde erforderlich ist, im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA nachzugehen, wobei der Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 82 AufenthG). Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung oder die Einholung einer ergänzenden (fach-) ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-) ärztlichen Gutachtens angezeigt sein, da der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten die erforderliche medizinische Sachkunde zur Beurteilung einer mit der Abschiebung einhergehenden Gesundheitsgefahr und auch der Frage fehlen dürfte, mit welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden könnte (vgl. zum Ganzen: VGH BW, Beschl, v. 06.02.2008, a.a.O.).

Im Fall des Antragstellers ist ein solcher weiterer Aufklärungsbedarf gegeben. Er befand sich in der Zeit vom 16.06.2009 bis 29.06.2009 in stationärer Behandlung in den St. H. Kliniken B., wohin er aus der Abschiebehaft überstellt worden war. Im ärztlichen Bericht vom 29.06.2009 wurde eine schwere psychische Erkrankung attestiert und eine weitere engmaschige psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung dringend empfohlen. Ferner wurde ausgeführt, eine Abschiebung führe höchstwahrscheinlich zu einer deutlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands und einer vitalen Gefährdung durch Wiederauftreten der Suizidalität. Nach einem Kurzbericht der psychiatrischen Ersten Hilfe des St. H. Kliniken B. vom 27.07.2009, suchte der Antragsteller an diesem Tag die Einrichtung auf, nachdem sich sein psychischer Zustand eigenen Angaben zufolge nach erneuter Inhaftierung verschlechtert habe. In diesem Bericht heißt es zwar weiter, eine akute Suizidalität habe nicht festgestellt werden können; eine weitere ambulante Behandlung wurde aber dringend empfohlen. In seiner an die Ausländerbehörde gerichteten Stellungnahme vom 03.08.2009 kam der amtsärztliche Dienst des Antragsgegners zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller nicht haft-, verwahr-, reise- und flugtauglich sei. Es liege eine behandlungsbedürftige psychiatrische Erkrankung vor, die stationär therapiert werden müsse. Die stationäre Einweisung in die psychiatrische Abteilung des St. J.-Krankenhauses D, sei für denselben Tag (03.08.2009) vorgesehen. Nach einer erneuten Untersuchung am 16.12.2009 stellte der amtsärztliche Dienst des Antragsgegners ungeachtet des Fehlens eines Abschlussberichts über den stationären Aufenthalt fest, dass die psychiatrische Erkrankung zwar fortbestehe, der Antragsteller aber (nunmehr) für haft-, verwahr-, reise- und flugtauglich gehalten werde. Nach einer weiteren Untersuchung am 13.07.2010 äußerte sich der amtsärztliche Dienst in seiner Stellungnahme vom 22.07.2010 dahingehend, dass sich hinsichtlich der psychischen Erkrankung keine neuen Aspekte ergeben hätten, der Allgemeinzustand des Antragstellers zufriedenstellend sei und der Antragsteller reise- und flugtauglich erscheine; allerdings wurde die Einschränkung gemacht, dass über die Entwicklung der Symptome in der akuten Reisesituation keine Prognose gestellt werden könne. In ähnlicher Weise äußerte sich der Amtsarzt nach einer weiteren Untersuchung am 01.12.2010. In seiner Stellungnahme vom 14.12.2010 gab er an, der Antragsteller sei in Begleitung eines Freundes reisefähig gewesen. Im aktuellen psychopathologischen Befund könne eine latente Suizidalität nicht ausgeschlossen werden, eine Prognose zur Reaktion im Fall einer konkreten Belastungsreaktion könne durch das Gesundheitsamt nicht gestellt werden. Nach dem Schreiben des behandelnden Arztes das St. J.-Krankenhauses D. vom 21.02.2011 ist der Antragsteller aus psychiatrischer Sicht grundsätzlich mit Arztbegleitung reise- und flugfähig. In seiner letzten Stellungnahme vom 22.02.2011 erläuterte der Amtsarzt die bisherige Bewertung der Reisefähigkeit des Antragstellers folgendermaßen: Die vorzeitige Entlassung des Antragstellers aus der zweiten stationären Behandlung vom 06.08.2009 bis 10.08.2009 sei auf dessen Wunsch gegen ärztlichen Rat erfolgt, Da Gefährdungsmomente oder eine Suizidalität nicht hätten nachgewiesen werden können, fehlten die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach dem PsychKG LSA oder BGB. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Gutachten vom 03.08.2009 und den Gutachten vom 16.12.2009, 22.07.2010 und 14.12.2010 liege darin, dass zum 03.08.2009 eine akute Suizidalität nicht habe ausgeschlossen werden können. Nach dem im Beschwerdeverfahren vorgelegten Kurzarztbrief des St. J.-Krankenhauses D. vom 28.02.2011 hat der Antragsteller zwar lebensmüde Gedanken, ist aber nicht akut suizidal; eine medikamentöse Weiterbehandlung wurde empfohlen.

Danach lässt sich feststellen, dass der Antragsteller weiterhin an einer psychischen Erkrankung leidet, die derzeit allerdings nicht stationär, sondern nur ambulant mit Medikamenten behandelt werden muss. Unter dieser Voraussetzung bestehen nach den letzten (amts-) ärztlichen Einschätzungen auch keine konkreten Anhaltspunkte für eine akute Suizidalität. Die (amts-) ärztlichen Stellungnahmen lassen aber gerade offen, ob und in welchem Ausmaß sich bei einer unmittelbar bevorstehenden Abschiebung der Gesundheitszustand des Antragstellers wesentlich verschlechtern und sich dadurch die latent fortbestehende Suizidalität (wieder) erhöhen wird. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht deshalb angenommen, dass ein Gutachten einzuholen ist, das sich auch mit dieser - entscheidungserheblichen - Frage hinreichend auseinandersetzt.

Bei dieser Sachlage überwiegt das Interesse des Antragstellers, sich bis zur Klärung seiner Reisfähigkeit weiterhin im Bundesgebiet aufhalten zu können, das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Ausreisepflicht. Die Folgen, die ihm bei einer Abschiebung im Fall einer Reiseunfähigkeit drohen, könnten voraussichtlich nicht oder nur schwer wieder rückgängig gemacht werden und wiegen schwerer als die Folgen einer nicht zeitnahen Durchsetzung der Ausreisepflicht trotz möglicherweise doch vorhandener Reisefähigkeit. [...]