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VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 30.06.2011 - 4 K 1073/10 - asyl.net: M19098
https://www.asyl.net/rsdb/M19098
Leitsatz:

Die einer Aufenthaltserlaubnis beigefügte Nebenbestimmung in Form einer wohnsitzbeschränkenden Auflage (Wohnsitzauflage) ist als eigenständiger Verwaltungsakt selbständig anfechtbar.

Räumliche Aufenthaltsbeschränkungen sind regelmäßig dann nicht (mehr) als belastende Verwaltungsakte im Sinne von § 35 LVwVfG anzusehen, wenn es sich bei ihnen um bloße Wiederholungen solcher Beschränkungen in vorhergehenden Aufenthaltstiteln oder Duldungen handelt. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn dem Ausländer erstmals eine Aufenthaltserlaubnis mit einer gleichlautenden Wohnsitzauflage erteilt wird.

Bei der Wohnsitzauflage handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt; für die Beurteilung der Sach und Rechtslage kommt es auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an.

§ 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ermächtigt nur zum Erlass einer Auflage, mit der ein Ausländer verpflichtet wird, im Zuständigkeitsbereich der erlassenden Behörde seinen Wohnsitz zu nehmen. Für eine Auflage, die einen Ausländer zwingt, seine Wohnung im Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde zu nehmen, ist eine gesetzliche Regelung erforderlich, die dies ausdrücklich ermöglicht. Eine solche Regelung existiert im Geltungsbereich des Aufenthaltsgesetzes, abgesehen von den in den §§ 15a, 24 und 54a Abs. 3 AufenthG geregelten Fallkonstellationen, derzeit nicht.

Eine Aufhebung der Wohnsitzauflage in einem Aufenthaltstitel hat zur Folge, dass der Ausländer berechtigt ist, sich nach seiner Wahl im gesamten Bundesgebiet niederzulassen. Darauf, ob die Ausländerbehörde (des vermeintlich künftigen Wohnorts) der Meinung ist, ein bestimmter Wohnort scheide als geeigneter Wohnsitz aus, kommt es nicht an. Denn zum Prüfprogramm des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gehört allein eine Bewertung des in der angefochtenen Wohnsitzauflage bestimmten Wohnorts.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Auflage, wohnsitzbeschränkende Auflage, Wohnsitzauflage, räumliche Beschränkung, Verhältnismäßigkeit, Wohnortwechsel, Wechsel des Wohnorts, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: LVwVfG § 35, AufenthG § 12 Abs. 2 S. 2, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

2. Die Klage ist auch begründet. Dabei kommt es, da es sich bei der wohnsitzbeschränkenden Auflage um einen Dauerverwaltungsakt handelt, zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage hier auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an (Nieders. OVG, Beschluss vom 13.04.2010 - 8 ME 5/10 - m.w.N.). Als Rechtsgrundlage für die der Aufenthaltserlaubnis vom 20.09.2009 beigefügte Wohnsitzauflage kommt allein § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in Betracht. Danach kann eine Aufenthaltserlaubnis, auch nachträglich, mit Auflagen, insbesondere einer räumlichen Beschränkung, verbunden werden. Unter räumliche Beschränkungen im Sinne dieser Vorschrift fällt auch eine Wohnsitzauflage, wie sie hier im Streit ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.2008, a.a.O.). Obwohl auf der Tatbestandsseite dieser Vorschrift ausdrücklich keine Voraussetzungen genannt sind, ist anerkannt, dass eine räumliche Beschränkung nur dann ausgesprochen werden darf, wenn das zur Wahrung öffentlicher Interessen, zu denen - abgesehen von den sich aus höherrangigem Recht, u.a. Art. 28 und 32 der Richtlinie 2004/83/EG oder Art. 2 Abs. 1 4. Zusatzprotokoll zur EMRK, oder aus anderen Vorschriften, u.a. Art. 23 und 26 GFK, ergebenden Grenzen - grundsätzlich u.a. auch der Schutz des Arbeitsmarkts und die gleichmäßige Verteilung sozialer Lasten gehören, erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.2008, a.a.O.; Bayer. VGH, Urteil vom 09.05.2011 - 19 B 10.2384 -, juris, m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Okt. 2010, Bd. 1, A 1, § 12 RdNrn. 26 ff.; Zeitler, in: HTKAuslR, Stand: 01.07.2011, Anm. zu § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG - Wohnsitzauflage, m.w.N.).

Wie sich aus dem Wortlaut von § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ergibt, steht diese Entscheidung im Ermessen der Ausländerbehörde. Ihre Entscheidung ist insoweit nur darauf überprüfbar, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 114 Satz 1 VwGO; vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.2008, a.a.O.). U.a. muss die Behörde im Rahmen ihrer Ermessensausübung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und einen ggf. vorliegenden Vorrang höherrangigen Rechts beachten. Dabei ist den Besonderheiten des Einzelfalls gebührend Rechnung zu tragen. Dass die Ermessensausübung durch Erlasse bzw. Verwaltungsvorschriften, im vorliegenden Fall durch die Verwaltungsvorschriften des Innenministeriums (Baden-Württemberg) zum Ausländerrecht vom 02.11.2010 (Az: 4-1310/131; GABl 2010, 504) - VwV-AuslR-IM - und Nr. 12 der Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2006 (GMBl 2009, 877; abgedruckt in: HTK-AuslR, a.a.O., zu § 12 AufenthG) - AufenthG-VwV -, gelenkt wird, ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, solange dadurch die gebotene Berücksichtigung des Einzelfalls nicht vereitelt wird (BVerwG, Urteil vom 15.01.2008, a.a.O.; VG Stuttgart, Urteil vom 17.02.2001, a.a.O., m.w.N.) und die Verwaltungspraxis sich unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes tatsächlich an diesen Verwaltungsvorschriften orientiert.

Nach diesen Grundsätzen halten die Ermessenserwägungen, die für die streitige Wohnsitzauflage maßgebend waren, einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Nach Nr. 12.1.1.1 AufenthG-VwV, die durch die VwV-AuslR-IM insoweit nicht ergänzt oder geändert worden ist, darf von dem Grundsatz, dass der Aufenthaltstitel für das (gesamte) Bundesgebiet erteilt wird, nur in Ausnahmefällen abgewichen werden. Nach Nr. 12.2.5.2.4 AufenthG-VwV bedarf eine Streichung oder Änderung der Wohnsitzauflage zur Ermöglichung eines den Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde überschreitenden Wohnortwechsels der vorherigen Zustimmung durch die Ausländerbehörde des Zuzugsorts. Nach Nr. 12.2.5.2.4.2 AufenthG-VwV ist diese Zustimmung - unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts oder den migrations- und integrationspolitischen Interessen - zu erteilen, wenn ein Umzug des Ausländers erforderlich ist, um einer Gefahrenlage im Gebiet des räumlichen Bereichs einer wohnsitzbeschränkenden Auflage, die von Familienangehörigen bzw. dem ehemaligen Partner ausgeht, zu begegnen. Mit dieser Nr. 12.2.5.2.4.2 trägt die AufenthG-VwV dem Anspruch des Ausländers auf Schutz seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung (siehe auch Hailbronner, a.a.O., § 12 RdNr. 36 m.w.N.).

Dass die Voraussetzungen für einen Umzug der Klägerin aus F. nach diesen Vorgaben vorliegen, liegt angesichts der offenen Aggressionen ihres (ehemaligen) Ehemanns auf der Hand und ist auch zwischen den Beteiligten nicht streitig. Auch die Beigeladene, die sich als einzige dem Begehren der Klägerin auf einen Umzug von F. nach S. verweigerte, ist der Meinung, dass die Klägerin bei einem weiteren Aufenthalt in F. durch ihren (wahrscheinlich psychisch kranken) Ehemann an Leib und Leben bedroht ist und deshalb ihren Wohnsitz außerhalb F.s nehmen muss. Sie ist lediglich der Auffassung, dass S. kein geeigneter Ort für die Neubegründung eines Wohnsitzes sei, weil die Klägerin, da ihr Ehemann von ihrem Aufenthalt dort wisse, dort vor möglichen Nachstellungen ihres Ehemanns ebenfalls nicht hinreichend sicher sei und sie deshalb einen Wohnsitz an einem anderen, ihrem Ehemann unbekannten Ort begründen solle. Auf diese Überlegungen kommt es im vorliegenden Fall aus rechtlichen Gründen jedoch nicht an. Deshalb kann es dahingestellt bleiben, ob diese Überlegungen der Beigeladenen im Ergebnis überzeugend sind, worüber die Beteiligten im Wesentlichen streiten.

Auf die Überlegungen der Beigeladenen über die Eignung ihres Stadtgebiets als Wohnsitz der Klägerin kommt es deshalb nicht an, weil § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG die Behörde nur zum Erlass einer Auflage ermächtigt, mit der ein Ausländer verpflichtet wird, in dem Zuständigkeitsbereich der erlassenden Behörde, im vorliegenden Fall also im Gebiet der Stadt F., seinen Wohnsitz zu nehmen. Für eine Auflage, die einen Ausländer zwingt, seine Wohnung im Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde zu nehmen, ist eine gesetzliche Regelung erforderlich, die dies ausdrücklich ermöglicht. Eine solche Regelung existiert im Geltungsbereich des Aufenthaltsgesetzes, anders als z.B. im Asylverfahrensgesetz und abgesehen von hier nicht gegebenen, in den §§ 15a, 24 und 54a Abs. 3 AufenthG geregelten Fallkonstellationen, derzeit nicht (so vor allem Hamb. OVG, Urteil vom 26.05.2010, a.a.O., m.w.N.; ebenso VG Aachen, Urteil vom 26.11.2010 - 9 K 268/10 -, juris; vgl. auch Zeitler, a.a.O.; Wenger, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 12 AufenthG RdNr. 6). Die Gegenauffassung (vgl. Nieders. OVG, Beschluss vom 13.04.2010 - 8 ME 5/10 -, juris; Hailbronner, a.a.O., § 12 RdNr. 28) vermag vor allem angesichts der explizit anderen Regelung in den hier nicht einschlägigen §§ 15a, 24 und 54a Abs. 3 AufenthG sowie in den §§ 50, 51 und vor allem 60 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG, die die Möglichkeit einer so genannten "abdrängenden Wohnsitzauflage" ausdrücklich vorsehen, nicht zu überzeugen. Soweit in der Rechtsprechung und Literatur, die zuvor für die hier vertretene Auffassung benannt ist, im Wesentlichen nur ausgeführt wird, § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ermächtigte nicht dazu, den Aufenthalt auf das Gebiet eines anderen Bundeslands zu beschränken, beruht das auf den Besonderheiten eines in der Rechtsprechung entschiedenen Referenzfalls. Es bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass diese Vorschrift eine Ausländerbehörde dazu ermächtigt, den Aufenthalt auf das Gebiet einer anderen Ausländerbehörden desselben Bundeslands zu beschränken (und ggf. damit verbundene Soziallasten durch Hoheitsakt auf eine andere Kommune desselben Bundeslands zu verlagern). Eine solche Befugnis zu einer landesinternen Umverteilung lässt sich der (bundesrechtlichen) Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG genauso wenig entnehmen wie die Befugnis zu einer länderübergreifenden Umverteilung. In den Gründen des Urteils des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 26.05.2010 (a.a.O., bei juris RdNr. 37) ist dementsprechend auch klargestellt, dass § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Ermächtigung enthält für eine Verlegung des Aufenthalts eines Ausländers aus dem Zuständigkeitsbereich der (in jenem Fall beklagten) Ausländerbehörde ("auf eine außerhamburgische Behörde") hinaus (ebenso VG Aachen, Urteil vom 26.11.2010, a.a.O.).

Damit beschränkt sich die Befugnis der Ausländerbehörde nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auf die Möglichkeit zum Erlass einer räumlichen Beschränkung (u.a. in Form einer Wohnsitzauflage) auf ihren eigenen Zuständigkeitsbereich sowie, nach Maßgabe der §§ 48, 49 LVwVfG, ggf. auf deren Aufhebung (vgl. zu Letzterem VG Freiburg, Beschlüsse vom 07.06.2010, a.a.O., und vom 29.06.2009 - 4 K 874/09 - m.w.N.). Ob das die Erweiterung einer Wohnsitzauflage auf die dem Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde unmittelbar benachbarten Gebiete einschließt, was in der Praxis häufig geschieht, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls dürfte eine solche Gebietserweiterung für den betreffenden Ausländer nicht anfechtbar sein, da dies, solange damit keine Verpflichtung zur alleinigen Wohnsitznahme außerhalb des Gebiet des zuständigen Ausländerbehörde verbunden ist, lediglich eine "Erweiterung" seiner Rechtsposition darstellt.

Dementsprechend beurteilt sich die Rechtmäßigkeit der hier streitigen Wohnsitzauflage allein danach, ob der Klägerin in F. und nur dort eine Gefahr droht, die einen Wegzug von dort gebietet. Das ist, wie oben ausgeführt, hier unstreitig der Fall. Eine Aufhebung dieser Wohnsitzauflage hat zur Folge, dass die Klägerin berechtigt ist, sich nach ihrer Wahl im gesamten Bundesgebiet niederzulassen und damit den Ort als Wohnsitz zu wählen, der ihr am geeignetsten und im konkreten Fall vor allem am sichersten erscheint. Darauf, ob eine Ausländerbehörde - hier: die Beigeladene - der Meinung ist, eine bestimmte Stadt - hier: S. - scheide als geeigneter Wohnsitz aus - hier: weil S. ebenfalls nicht hinreichend sicher sei -, kommt es nicht an. Denn zum Prüfprogramm des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gehört allein eine Bewertung des in der angefochtenen Wohnsitzauflage bestimmten Wohnorts. Mangels einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine Umverteilung, das heißt für eine für den Ausländer verbindliche Zuweisung eines Wohnorts außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs der zuständigen Ausländerbehörde, ist eine rechtliche Bewertung des Orts des beabsichtigten Zuzugs, der im Übrigen im Belieben des Ausländers steht und deshalb gar nicht feststehen muss, fehl am Platz.

Soweit nach Nr. 12.2.5.2.4 AufenthG-VwV die Streichung oder Änderung einer wohnsitzbeschränkenden Auflage von der vorherigen Zustimmung durch die Ausländerbehörde des Zuzugsorts abhängig gemacht wird, steht das der Aufhebung einer solchen Auflage durch ein Gericht nicht entgegen, da Gerichte an Verwaltungsvorschriften nicht gebunden sind. Ob es in Fällen wie dem vorliegenden, der dadurch gekennzeichnet ist, dass es dem Ausländer allein darum geht, den in seiner Wohnsitzauflage bestimmten Wohnort verlassen zu dürfen, und in dem es ihm nicht jedenfalls nicht vorrangig - wie z.B. in Fällen der Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft - um den Zuzug in einen feststehenden Ort geht, überhaupt Sinn macht, die Entscheidung über eine Aufhebung bzw. Streichung einer Wohnsitzauflage von der Zustimmung der Ausländerbehörde des Zuzugsorts, den der Ausländer im gesamten Bundesgebiet frei wählen darf, abhängig zu machen, bedarf hier keiner Entscheidung.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt auch die Rechtswidrigkeit des Bescheids der Beklagten vom 19.02.2010 und des Widerspruchbescheids des Regierungspräsidiums F. vom 18.05.2010, mit denen der auf Aufhebung bzw. Änderung der Wohnsitzauflage gerichtete Antrag der Klägerin explizit abgelehnt wurde. [...]