VG Köln

Merkliste
Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 05.10.2010 - 14 K 7186/09.A - asyl.net: M19101
https://www.asyl.net/rsdb/M19101
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsverheiratung. In Afghanistan werden mindestens 50 % der Ehen für die Frauen zwangsweise geschlossen. Viele der zwangsweise verheirateten Frauen sind weniger als 16 Jahre alt, die Heirat erfolgt meist mit wesentlich älteren Männern. Dabei wird regelmäßig ein "Brautpreis" bezahlt. Wirksamer Schutz gegen solche Zwangsheiraten ist in Afghanistan nicht zu erlangen.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, Zwangsehe, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, politische Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

[...]

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bedroht ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, soweit der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind Schutz vor der Verfolgung zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG). Damit kann auch die Gefahr eine Zwangsverheiratung durch die eigene Familie Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG darstellen (siehe dazu z.B. VG Hamburg, Urteil vom 7. November 2005 - 4 A 1970/03 - und vom 10. September 2008 - 5 A 466/06 - , jeweils juris; VG München, Urteil vom 11. April 2007 - M 23 K 05.50461 - , juris; Treiber, in: GKAufenthG, Stand September 2010, § 60 Rn. 196 ff.; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, 2009, § 19 Rdnr. 279 ff.).

Hinsichtlich der Frage, wann ein Ausländer von Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG "bedroht ist", ist - da die Anerkennung als Flüchtling auf einer Vorstellung von der Zumutbarkeit der Rückkehr ins und des Aufenthalts im Heimatland beruht - maßgeblich einzustellen, ob der Betreffende sein Heimatland verfolgt oder unverfolgt verlassen hat. Im ersten Fall bedarf es für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nur der Feststellung, dass für den Betreffenden keine hinreichende Sicherheit vor erneuter, vergleichbarer Verfolgung besteht. Andernfalls ist die Feststellung erforderlich, dass Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. zur Bedeutung einer Vorverfolgung für den heranzuziehenden Prüfungsmaßstab BVerwG, Urteile vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276, und vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243).

Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Dabei kann offen bleiben, ob sie vorverfolgt aus ihrem Heimatland ausgereist ist. Denn auch unter Zugrundelegung des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erstmaliger politischer Verfolgung ist im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan davon auszugehen, dass sie dort eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgesetzt wäre. Denn das Gericht ist in diesem Einzelfall zu Überzeugung gelangt, dass der Klägerin bei Rückkehr nach Afghanistan dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsverheiratung droht. Die mit 20 Jahren aus "afghanischer Sicht" noch heiratsfähige Klägerin - die noch Kontakt mit ihrer Familie hat - hat frühzeitig, glaubhaft und glaubwürdig dargelegt, dass sie bei Rückkehr nach Afghanistan von ihrer Familie zu einer Zwangsheirat gezwungen würde. Ihre Familie sei sehr arm, alle ihre Schwestern seien bereits mit - teilweise wesentlich älteren - Männern zwangsweise verheiratet worden; man habe sie regelgerecht verkauft. Dagegen spricht nicht, dass ihre Eltern die Klägerin mehrfach haben ausreisen lassen. Denn die Klägerin ist immer wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Vielmehr stimmen die Angaben der Klägerin mit der allgemeinen Auskunftslage überein: In Afghanistan werden mindestens 50 % der Ehen für die Frauen zwangsweise geschlossen. Die zwangsweise verheirateten Frauen sind dabei teilweise noch unter 16, die Heirat erfolgt meist mit wesentlich älteren Männern. Dabei wird regelmäßig ein "Brautpreis" gezahlt. Irgendein wirksamer Schutz gegen solche Zwangsheiraten ist in Afghanistan nicht zu erlangen (vgl. zu alldem z.B. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 27. Juli 2010, S. 26; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, 11. August 2010, S. 14; ai, AMNESTY REPORT AFGHANISTAN 2009, Stuttgarter Zeitung, Artikel "Kinderbräute erwartet oft Ehehölle", www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2129147_0_6120_-zwangsehen-in-afghanistankinderbraeute-erwartet-oft-ehehoelle.html; ausführlich ai, Afghanistan, "Niemand hört uns zu und niemand behandelt uns als Menschen", Den Frauen wird Gerechtigkeit verweigert, Oktober 2003; HUMAN RIGHTS WATCH, "We Have the Promises oft the World", Women´s Rights in Afghanistan, Dezember 2009). [...]