VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 08.09.2011 - 10 K 522/11 - asyl.net: M19105
https://www.asyl.net/rsdb/M19105
Leitsatz:

Kein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für ältere Frau aus dem Kosovo (Ashkali, Diabetes mellitus, Thrombose, Bluthochdruck, teilweise Reiseunfähigkeit). Auch wenn letztlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass Angehörige ethnischer Minderheiten im Kosovo nicht in allen Fällen entsprechend ihren Bedürfnissen eine umfassende medizinische Versorgung erhalten können, ist dies gleichwohl für die Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich, da sie sich an ihrem Herkunftsort registrieren und Sozialhilfe erhalten kann. Darüber hinaus können ihre Angehörigen sie weiterhin finanziell unterstützen.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Ashkali, Diabetes mellitus, Hypertonie, Thrombose, medizinische Versorgung, Medikamente, Registrierung, Reisefähigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

In Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zur medizinischen Versorgung in der Republik Kosovo das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Republik Kosovo in der Person der Klägerin nicht festzustellen. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Fall ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland aufgrund der dortigen Verhältnisse alsbald wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird.

Aus der von der Klägerin zur Untermauerung ihres erneuten Asylfolgeantrages vorgelegten Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis Dr. med. R. 21.10.2010 geht hervor, dass sie nach wie vor an Diabetes mellitus, Thrombose sowie Bluthochdruck leide, und die Medikamente Metformin 850, Glimepirid 2 mg, Dekristol Viat D, Tilidin ret 150/8, Amlodipin 10, Citalopram und Ramipril 10 einnehmen müsse. Diese Erkrankungen der Klägerin sind, wie die erkennende Kammer bereits in ihrem zwischen den Beteiligten ergangenen Urteil vom 16.07.2010, 10 K 2165/09, festgestellt hat, im Kosovo nach dem dortigen Standart, auf den sich die Klägerin verweisen lassen muss, grundsätzlich behandelbar, und auch die hierfür erforderlichen Medikamente sind dort erhältlich. Dass diese gerichtlichen Feststellungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr tragfähig wären, ist nicht erkennbar, und dies wird von der Klägerin ersichtlich auch nicht in Frage gestellt (vgl. zu den entsprechenden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten von Diabetes mellitus, Hypertonie sowie Thrombosen auch die neueren Auskünfte der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pristina vom 23.06.2011 an VG Bremen, RK 516.80 - E 60/11, vom 21.03.2011 an BMFl, RK 516.80 - E 98/08, sowie vom 23.01.2011 an BMFl, RK 516.80 - E 181/10).

Es bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Kosovo unabhängig von den dort im Grundsatz vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes befürchten müsste.

Zwar ist den von der Klägerin in Bezug genommenen Publikationen, insbesondere derjenigen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Kosovo: Update, Zur Lage der medizinischen Versorgung vom 01.09.2010) zu entnehmen, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen im Kosovo gleichermaßen Zugang zum Gesundheitssystem haben und besonders benachteiligt Behinderte, Frauen und die ethnischen Minderheiten der Roma, Ashkali und Ägypter sind. Den Ausführungen der Schweizer Flüchtlingshilfe zufolge seien ethnisch motivierte Diskriminierungen vor allem beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen im Bereich hygienische Grundversorgung, medizinische Versorgung, Sozialhilfe und Bildung verbreitet und betreffe die im Kosovo grassierende Korruption zudem auch das Gesundheitswesen. Angesichts extrem tiefer Löhne würden, wie in anderen Sektoren auch, im Gesundheitssektor für das rasche Erbringen von Leistungen häufig informelle Zahlungen verlangt. Diese Missstände benachteiligten die sozial Schwächsten in besonderem Maße und verschärften die ohnehin bestehende Ungleichheit des Zugangs zu öffentlicher medizinischer Versorgung. Im Kosovo gebe es weder eine öffentliche Krankenversicherung noch Beihilfen und Gesetze, die den Zugang zu privaten Krankenversicherungen erleichtern würden. Zwar sollten medizinische Leistungen insbesondere auch für Sozialhilfebezieher, schwerwiegend chronisch Kranke, Menschen mit spezifischen Krankheiten, wie etwa Diabetiker, kostenlos verfügbar sein. Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen überstiegen die Kapazitäten indes weit und die Patienten müssten in den meisten Fällen einen Teil oder die gesamten Behandlungskosten inklusive der Kosten für Medikamente übernehmen. Nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gelte generell, dass die medizinische Versorgung und die Behandlungsmöglichkeiten mit zunehmender Distanz von Pristina schlechter würden und unregelmäßig fahrende, alte und teure Transportmittel den Zugang zu medizinischen Dienstleistungen zusätzlich erschwerten. Besonders in ländlichen Gebieten hätten die Gemeinden Finanzierungsprobleme und kämpften mit der ungenügenden Medikamentenversorgung, was die Umsetzung der gewünschten Gesundheitsversorgung beeinträchtige.

In Übereinstimmung hiermit stellt auch die Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrer Göttinger Erklärung vom 27.05.2010 (Keine Abschiebungen von Roma in den Kosovo!, Innenministerkonferenz in Hamburg (27./28. Mai 2010)) fest, dass jedenfalls für die Minderheit der Roma im Kosovo eine angemessene medizinische Versorgung auch für Rückkehrer unerschwinglich sei und Alte sowie Schwerkranke sich in einer hoffnungslosen Situation befänden.

Demgegenüber ist nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes (vgl. den jüngsten Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 06.01.2011, 508-516.80/3KOS) sowie den Erkenntnissen der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pristina (Auskunft vom 27.06.2011 an VG Freiburg, RK 516.80 – E 84/10) eine Verbesserung hinsichtlich der medizinischen Versorgungslage im Kosovo zumindest insoweit zu verzeichnen, als die kosovarische Regierung, die die umfassende Wiederherstellung der medizinischen Versorgungslage zu einem ihrer wichtigsten politischen Ziele erhoben hat, nunmehr Vorkehrungen getroffen hat, um in der Vergangenheit aufgetretene Korruptionsfälle im öffentlichen Gesundheitswesen, in denen bei an sich von der Zuzahlungspflicht für die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens befreiten Patienten staatlich finanzierte Medikamente nicht kostenlos bzw. nur gegen Leistung der Zuzahlungsgebühr ausgehändigt wurden, künftig zu vermeiden. Die Gehälter des medizinischen Personals, die bedingt durch die Finanzknappheit im öffentlichen Gesundheitssystem im unteren Bereich lagen, wurden wesentlich erhöht und es wurde zudem ein Registrierungsverfahren eingeführt, für das die neu gegründete "Kosovo Medicines Agency" (KMA) zuständig ist. Danach wird seit Januar 2011 jedes staatlich finanzierte Basismedikament durch eine rote Banderole mit fortlaufender Nummer gekennzeichnet, anhand derer sich nun unter anderem die Abgabe jedes einzelnen Medikaments nachprüfen lässt. Außerdem hat das kosovarische Gesundheitsministerium auf der Grundlage des "Action Plan 2011 - 2014" organisatorische Maßnahmen eingeführt, um die tatsächliche Erhältlichkeit von staatlich finanzierten Basisprodukten transparent zu machen.

Darüber hinaus ist nach der Einschätzung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pristina in der oben angeführten Auskunft an das VG Freiburg vom 27.06.2011 die ethnische Zugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Ashkali weder für ihre medizinische Behandlung im öffentlichen noch im privaten Gesundheitswesen von Bedeutung. Der Botschaft sei kein einziger Fall bekannt geworden, in dem die medizinische Behandlung einer Patientin wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe abgelehnt worden sei.

Auch wenn nach Auswertung der der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen letztlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass Angehörige ethnischer Minderheiten im Kosovo nicht in allen Fällen entsprechend ihren Bedürfnissen eine umfassende medizinische Versorgung erhalten können, ist dies im Fall der Klägerin gleichwohl nicht beachtlich wahrscheinlich. Wie die erkennende Kammer in ihrem den ersten Asylfolgeantrag der Klägerin betreffenden Urteil vom 16.07.2010, 10 K 2165/09, ausgeführt hat, wird der Klägerin bei einer Rückkehr eine Registrierung an ihrem Herkunftsort im Kosovo möglich sein mit der Folge, dass ihr grundsätzlich auch alle Maßnahmen der Sozialhilfe und der Teilhabe am öffentlichen Gesundheitssystem zur Verfügung stehen. Danach hat die ihren eigenen Angaben zufolge am 20.10.1944 geborene Klägerin aber ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Ashkali Anspruch auf die kostenlose Bereitstellung der für die Behandlung ihrer Erkrankungen unentbehrlichen und in der sog. "Essential Drug List" aufgeführten Basismedikamente und -wirkstoffe. Dass nicht sämtliche der von ihr derzeit eingenommenen Medikamente in dieser Liste enthalten sind, ist dabei unschädlich. Selbst für den Fall, dass der Klägerin keine anderen, in der "Essential Drug List" enthaltenen Präparate mit vergleichbarer Wirksamkeit kostenlos zur Verfügung gestellt werden könnten und sie die von ihr benötigten Medikamente in privaten Apotheken beziehen müsste, ist dennoch davon auszugehen, dass die entsprechenden Medikamente für die Klägerin zugänglich sind und sie die hierfür anfallenden Kosten wird aufbringen können. Die Klägerin wird allein in Anbetracht ihres hohen Alters zwar selbst nicht in der Lage sein, die finanziellen Mittel für die Medikamente, die sie nicht kostenlos erhält, aufzubringen. Da die staatlichen Sozialleistungen für Einzelpersonen 40,-- Euro monatlich betragen und selbst zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum ausreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 06.01.2011, a.a.O.), wäre die Klägerin voraussichtlich nicht in der Lage, die regelmäßig anfallenden Kosten der von ihr benötigten, aber staatlich nicht finanzierten Medikamenten zu begleichen. Eine finanzielle Unterstützung der medizinischen, insbesondere der medikamentösen Behandlung der Klägerin ist jedoch, worauf die erkennende Kammer bereits in ihrem vorgenannten Urteil vom 16.07.2010, 10 K 2165/09, hingewiesen hat, durch ihre weiteren Angehörigen, die innerhalb und außerhalb der Republik Kosovo leben, zumutbar. Auch nur ansatzweise belastbare Umstände, die dafür sprechen könnten, dass der Klägerin die ihr über Jahre hinweg von ihren Verwandten im Kosovo gewährte familiäre Hilfe bei einer Rückkehr verweigert oder sich etwa auch ihre im Bundesgebiet aufenthaltsame Tochter bzw. ihr in Amerika lebender Sohn nicht an einer etwaig erforderlichen Finanzierung der medizinischen Versorgung beteiligen würden, hat die Klägerin auch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht dargetan. Entsprechend der traditionellen Einstellung zur familiären Unterstützung im Kosovo wird es vielmehr als selbstverständliche Aufgabe angesehen, dauerhaft kranke Angehörige im Kreise der Familie zu Hause zu betreuen und zu pflegen, und dem entsprechend auch finanziell zu einer erforderlichen medizinischen Versorgung beizutragen (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 06.01.2011, a.a.O.; ferner Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pristina an BMFl vom 21.03.2011, RK 516.80 - E 98/08, wonach die Pflege und Betreuung von dauerhaft kranken Menschen, die in vollem Umfang auf die Unterstützung und Hilfe Dritter angewiesen seien, im Kosovo in der Regel innerhalb der eigenen Familie stattfänden).

Dass für die Klägerin wegen der von ihr behaupteten Reisuntauglichkeit der Zugang zu etwaig erforderlichen Behandlungsmöglichkeiten trotz familiärer Hilfe und Unterstützungsleistungen nicht gewährleistet werden könnte, ist ebenfalls nicht annehmbar. Der von ihr vorgelegten Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis Dr. med. R. vom 21.10.2010 ist auch nicht ansatzweise eine dauerhaft bestehende Reiseuntauglichkeit zu entnehmen, vielmehr enthält diese lediglich den Hinweis, dass es der Klägerin zur Zeit nicht möglich sei, mit dem Flugzeug oder dem Bus zu reisen. Dies schließt aber ersichtlich einen etwaig erforderlich werdenden Transport der Klägerin zu einem Arzt bzw. ins Krankenhaus nicht aus. [...]