VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 01.09.2011 - 3 L 427/11.A - asyl.net: M19112
https://www.asyl.net/rsdb/M19112
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Italien, sichere Drittstaaten, Aufnahmebedingungen, Obdachlosigkeit
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der demnach zulässige Antrag ist auch in der Sache begründet. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Es bestehen schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den Kernanforderungen des EU-Rechts entspricht. Zwar hat Italien alle europarechtlich vereinbarten Standards zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen. Es mehren sich aber die Hinweise, dass die tatsächlichen Umstände der Asylverfahren in Italien von diesen normativen Vorgaben zum Teil erheblich abweichen.

Die erkennende Kammer geht mit dem Verwaltungsgericht Gießen (vgl. B.v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A. -, juris) nach den vom Verwaltungsgericht Gießen in der genannten Entscheidung zusammengefassten Tatsachenmaterial davon aus, dass das staatliche Aufnahmesystem in Italien völlig überlastet ist. Es existieren 3000 Plätze, die eine Aufnahme von Asylsuchenden für jeweils 6 Monate ermöglichen. Im Jahr 2011 haben bis Anfang Mai bereits 26.000 Flüchtlinge in Italien um Schutz nachgesucht (Spiegel Online vom 26.04.2011, Peters: "Paris und Rom schotten sich ab"). Die Wartelisten für diese Plätze sind lang. Selbst wenn die Flüchtlinge einen dieser Plätze erhalten haben, sind sie nach Ablauf von 6 Monaten sich selbst überlassen. So ist die große Mehrheit der Asylsuchenden ungeschützt, ohne Unterkunft und ohne gesicherten Zugang zu Nahrungsmitteln. Daraus ergibt sich u.a. das Problem, dass die Anmeldung eines festen Wohnsitzes nicht möglich ist. Ein fester Wohnsitz ist jedoch Voraussetzung für den Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem. Auch die Zuteilung einer Steuernummer, die einen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht, ist nur mit festem Wohnsitz möglich. Für Flüchtlinge, die ins Dublin-Verfahren nach Italien abgeschoben wurden, bedeutet dies jedoch auch, dass sie für ein gegebenenfalls noch in Deutschland durchzuführendes Klageverfahren nicht erreichbar sind (ebenso: VG Regensburg, B. vom 14.06.2011 - RN 7 E 11.301 89 -; VG Schleswig-Holstein, B. vom 03.06.2011 - 1 B 21/11 -; VG Braunschweig, B. vom 09.05.2011 - 7 B 58/11 - juris; VG Freiburg, B. vom 24.01.2011 - A 1 K 117/11 - , juris; VG Meiningen, B. vom 24.02.2011 - 2 E 20040/11 Me - juris; VG Darmstadt, B. vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10. DA.A - juris; VG Köln, B. vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A - , juris; VG Minden, B. vom 07.12.2010 - 3 L 625/10.A - ,juris).

Nach den vorliegenden Erkenntnissen zur Lage von Asylbewerbern in Italien ist im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (99 f.) trifft, wenn eine Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften - hier Italien - Verfahrensgegenstand ist, und ob etwaige Vorgaben einer Überstellung - hier nach Italien - entgegenstehen (vgl. zu dieser Prüfung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde mit Blick auf § 34a Abs. 2 AsylVfG: BVerfG, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris Rn. 4).

Die Erfolgsaussichten eines diese Prüfung umfassenden Hauptsacheverfahrens sind weder offensichtlich zu verneinen, noch zu bejahen. Denn die Prüfung erfordert die Beantwortung tatsächlich und rechtlich komplexer Fragen, die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich ist (zur Problematik der Bestimmung sicherer Drittstaaten: BVerfG, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris Rn.4; Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 - DVBl. 1996, 825 ff.). [...]