VG Greifswald

Merkliste
Zitieren als:
VG Greifswald, Beschluss vom 13.10.2011 - 2 B 939/11 - asyl.net: M19118
https://www.asyl.net/rsdb/M19118
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung auf Erteilung einer Verlassenserlaubnis für ein volljährig gewordenes Kind wegen weiterhin bestehender familiärer Lebens- und Beistandsgemeinschaft mit der Mutter und den Geschwistern.

Schlagwörter: Verlassenserlaubnis, familiäre Lebensgemeinschaft, Achtung des Familienlebens, vorläufiger Rechtsschutz, familiäre Beistandsgemeinschaft, psychische Erkrankung, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 12 Abs. 5, VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Schutzrechte des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG), Art. 8 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebieten es, die durch den Antragsteller begehrte Fortführung seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seiner in der Region ... lebenden und dort werktätigen Mutter (und auch seinen Geschwistern) zu ermöglichen. Dem steht nicht entgegen, dass der Antragsteller seit dem ... 2011 volljährig ist.

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst im Grundsatz auch das Verhältnis zwischen den Eltern und ihren volljährigen Kindern (BVerfG, Beschluss vom 05.02.1981 - 2 BvR 646/80 - BVerfGE 57, 170, JURIS). Maßgeblich für die Schutzwirkungen einer familiären Gemeinschaft zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern ist, ob diese wie im Regelfall lediglich als Haus- oder Begegnungsgemeinschaft oder - weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist - als Beistandsgemeinschaft geführt wird. Die Beistandsgemeinschaft besteht grundsätzlich so lange, als ein Familienmitglied auf Lebenshilfe angewiesen ist und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe tatsächlich regelmäßig erbringt (Beschluss d. Kammer v. 10.12.2009 - 2 B 1314/09; OVG Lüneburg, Beschl. v. 01.11.2007 - 10 PA 96/07 - m. w. Nw.).

Entsprechendes folgt auch aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK. Bei Beziehungen zwischen nahen Verwandten außerhalb der klassischen Kleinfamilie kommt es darauf an, ob die tatsächlich bestehenden Bindungen hinreichend für die Annahme einer familiären Beziehung sind. Beziehungen zwischen Erwachsenen unterliegen danach zwar nicht notwendig dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Ausprägung als Recht auf Achtung des Familienlebens. Dies kann aber der Fall sein, wenn besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale affektive Beziehungen. Dies kann insbesondere der Fall sein bei jungen Erwachsenen, die nach Erreichen der Volljährigkeit weiterhin mit ihren Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben, und deren Beziehung zu jedenfalls einem Elternteil über das Normalmaß affektiver Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern weit hinausgeht (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss v. 05.02.2009 - 11 S 3244/08 - JURIS Rn. 16 m.Nw, zur Rspr. d. EGMR).

Der am ... 1993 geborene Antragsteller lebt in familiärer Gemeinschaft mit seiner Mutter und seinen in den Jahren 1994, 1995 und 1998 geborenen Geschwistern. Jedenfalls seit Mitte des Jahres 2010 lebt die Familie in der Region ..., wo die Mutter des Antragstellers erwerbstätig ist. Bisher hatte der Antragsgegner dem Antragsteller den Aufenthalt bei seiner Familie in der Region ... mit wiederkehrenden Verlassenserlaubnissen auch gestattet. Ausweislich der ärztlichen Bescheinigungen der Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. ... vom 12.07.2011 und 16.08.2011 leidet der Antragsteller unter einer psychischen Erkrankung, aufgrund derer es nach den Feststellungen der Fachärztin dringend erforderlich sei, dass der Antragsteller nicht alleine in ..., getrennt von seiner Familie, leben müsse.

Dies zugrunde gelegt, sind sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund für die einstweilige Anordnung gegeben.

Der Anordnungsanspruch besteht gemäß § 12 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Danach kann die Ausländerbehörde dem Ausländer das Verlassen des auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes beschränkten Aufenthaltes erlauben. Die Erlaubnis ist zu erteilen, wenn sich der der Ausländerbehörde gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum - wie hier - aufgrund zwingend zu beachtender Wertentscheidungen des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechend auf Null reduziert.

Dem Bestehen eines Anspruchs auf Erteilung einer Verlassenserlaubnis nach § 12 Abs. 5 AufenthG kann vorliegend nicht entgegengehalten werden, dass ein auf Wohnsitznahme im Bezirk einer Ausländerbehörde eines anderen Bundeslandes gerichtetes Begehren auf diese Weise nicht geltend gemacht werden kann.

Eine auf einen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 3 a) VwVfG M-V) gerichtete Erlaubnis ist der bisher zuständigen Ausländerbehörde zwar aus Kompetenzgründen nicht erlaubt und durch die ihr mit § 12 Abs. 5 AufenthG eingeräumte Handlungsbefugnis nicht gedeckt. Begehrt nämlich ein Ausländer, dessen räumlicher Aufenthalt aufgrund einer Zuweisungsentscheidung auf den Bezirk einer bestimmten Ausländerbehörde beschränkt ist, aus familiären oder sonstigen Gründen eine Wohnsitznahme in dem Bezirk einer Ausländerbehörde eines anderen Bundeslandes, muss sich der Ausländer an die zuständige Behörde des Bundeslandes, in dem der Ausländer seinen Wohnsitz nehmen möchte, wenden, denn allein diese hat die rechtliche Möglichkeit, einem Ausländer den Zuzug in ihren Zuständigkeitsbereich zu entsprechen (OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 23.07.2009 - 2 O 50/09 - JURIS Rn. 5). Soweit die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, kann dem Begehren nach Zuzug nach hier vertretener Auffassung durch eine gemäß § 60a AufenthG durch die Ausländerbehörde des Zuzugsortes für ihren räumlichen Geltungsbereich zu erteilende (weitere) Duldung erfolgen (VG Greifswald, Beschl. v. 07.05.2010 - 2 B 98/10 -, vgl. auch OVG Mecklenburg-Vorpommern a.a.O.; ebenso wie hier OVG Lüneburg, Beschl. v. 05.12.2008 - 2 PA 563/08 - Juris Rn. 3; OVG Bremen, Beschl. v. 04.06.2008 - 1 B 163/08 - Juris Rn. 22 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 05.04.2006 - 2 M 133/06 - Juris Rn. 7 m.w.Nw.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 29.11.2005 - 19 B 2364/03 - Juris Rn. 15 ff.; VG Dresden, Urt. v. 11.04.2008 - 3 K 2142/07 - Juris Rn. 20; VG Oldenburg, Beschl. v. 03.03.2009 - 11 B 705/09 - Juris Rn. 5), nach anderer vertretener Auffassung auch nach Abschluss des Asylverfahrens durch eine Umverteilungsentscheidung nach § 51 Abs. 2 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), die ebenfalls durch die zuständige Behörde des Landes, für das der weitere Aufenthalt beantragt ist, zu treffen ist (so OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.05.2008 - 2 S 6.08 - Juris Rn. 8, sowie Beschl. v. 02.12.2009 - 3 S 120.08 - Juris Rn. 12).

Vorliegend hat der Antragsgegner allerdings den Aufenthalt der Familie in der Region ... seit Mitte des Jahres 2010 durch wiederkehrende Verlassenserlaubnisse nach § 12 Abs. 5 AufenthG ununterbrochen gestattet und davon allein den Antragsteller nach Erreichen seiner Volljährigkeit ausgenommen. Für den Antragsteller geht es damit der Sache nach nicht um einen erst beabsichtigten Familienzuzug durch Wechsel seines bisherigen Aufenthaltsortes, sondern um die Beibehaltung seines bisherigen Wohnortes bei seiner Familie, den die Familie mit wiederkehrenden Verlassenserlaubnissen durch den Antragsgegners faktisch erlaubt und in Niedersachsen genommen hat. Bei einer solchen Sachlage gebietet zum einen der nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK gebotene Schutz der familiären Lebensgemeinschaft eine "familienbezogene" Regelung des erlaubten Aufenthaltsortes, von der der Antragsteller aus den oben genannten Gründen nicht ausgenommen werden kann. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass das Lebensumfeld der Familie aufgrund der bisherigen Gestattungen des Antragsgegners in der Region ... besteht, wo die Mutter des Antragstellers in einem Arbeitsverhältnis steht und der Antragsteller zur Schule geht. Letzteres dürfte auch für die minderjährigen Geschwister des Antragstellers gelten. Dem ist durch den Antragsgegner mit der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeit des § 12 Abs. 5 AufenthG jedenfalls für eine Übergangszeit bis zu einer Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde des Zuzugsortes Rechnung zu tragen.

Für die begehrte einstweilige Anordnung besteht auch ein Anordnungsgrund. Die Eilbedürftigkeit für den Antragsteller besteht darin, dass er gegenwärtig einer Verlassenserlaubnis des Antragsgegner bedarf, um sich weiterhin bei seiner Familie in der Region Hannover aufhalten und auch seinen dortigen Schulbesuch fortsetzen zu können. Eine Duldung der Ausländerbehörde des Zuzugsortes, die die Erforderlichkeit einer durch den Antragsgegner zu erteilende Verlassenserlaubnis entfallen lassen würde, liegt noch nicht vor. [...]