LSG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.10.2011 - L 19 AS 1560/11 B ER - asyl.net: M19120
https://www.asyl.net/rsdb/M19120
Leitsatz:

1. Eine der Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II ist der gewöhnliche Aufenthalt des Leistungsberechtigten in der Bundesrepublik.

2. Ein Ausländer hat nur dann seinen gewöhnlichen Aufenthalt i. S. von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB 2 in Deutschland, wenn er über einen Aufenthaltstitel verfügt, der den persönlichen Aufenthalt zulässt. Verlangt wird insoweit ein prognostisch auf Dauer gesicherter Aufenthalt, der die Beseitigung der Bedürftigkeit durch die Aufnahme einer Tätigkeit mit existenzsicherndem Ertrag ungefährdet erscheinen lässt.

3. Gemeinschaftlich freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 2 Nrn. 1, 2, 5 FreizügG/EU und damit aufenthaltsberechtigt sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung in der Bundesrepublik aufhalten wollen bzw. wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit berechtigt sind, oder nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU. Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sind nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgenommen. Angesichts der umstrittenen Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit Gemeinschaftsrecht der EU sind vom Leistungsausschluss betroffenen freizügigkeitsberechtigten Alt-EU-Bürgern und Bürgern der neuen EU-Staaten nach Ablauf der für die jeweiligen Staaten geltenden einschränkenden Übergangsregelungen einstweilig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zu gewähren.

4. Für einen bulgarischen Staatsangehörigen sind nach der geltenden Regelung Freizügigkeit und Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt vorübergehend nur eingeschränkt eröffnet. Dies hat zur Folge, dass Sozialleistungen nicht uneingeschränkt zugänglich sind.

Schlagwörter: gewöhnlicher Aufenthalt, Sozialleistungen, SGB II, Aufenthaltsrecht, Unionsbürger, Bulgarien, bulgarische Staatsangehörige, Freizügigkeitsbescheinigung, freizügigkeitsberechtigt, Leistungsausschluss,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, SGB I § 30 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 5,
Auszüge:

[...]

Für den hier einschlägigen Bereich der Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II hat das BSG mit Urteil vom 16.05.2007 (B 11b AS 37/06 R = juris Rn. 22) entschieden, dass Ausländer nur dann ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II in Deutschland haben, wenn sie über einen Aufenthaltstitel verfügen, der den persönlichen Aufenthalt zulässt. Hieran habe auch die Neufassung von § 7 Abs. 1 SGB II ab dem 01.04.2006 nichts geändert (Kritik bei Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 7 Rn. 11; ausdrücklich offengelassen im Urteil des BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = juris Rn. 13). Nach Auffassung des Senats spricht vieles dafür, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bei der Anwendung von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II bereichsspezifisch dahin auszulegen, dass ein prognostisch auf Dauer gesicherter Aufenthalt zu fordern ist, der ein Erreichen des Regelungszieles des SGB II - Beseitigung der Bedürftigkeit durch die Aufnahme einer Tätigkeit mit existenzsicherndem Ertrag - vgl. § 1 Abs. 1 SGB II -, ungefährdet erscheinen lässt.

Diese Voraussetzungen sind bei der Antragstellerin nicht gegeben. Ihr steht weder nach nationalem Recht (a) noch europarechtlich (b) ein Aufenthaltsrecht zu. Als Angehörige des Vertragsstaates Bulgarien bedarf sie zudem zur legalen Ausübung einer Tätigkeit der vorherigen Genehmigung (c).

a) Nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vom 30.07.2004 (BGBl. I 1950), hier anzuwenden i.d.F. des Gesetzes vom 12.04.2011, BGBl. I 610) ist die Antragstellerin - zumindest für Zeit ab Antragstellung bei Gericht am 21.06.2011 - nicht freizügigkeitsberechtigt. Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Nach § 2 Abs. 2 Nrn. 1, 2, 5 FreizügG/EU sind gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt (in den hier in Betracht kommenden Alternativen)

- Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,

- Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbstständige Erwerbstätige),

- nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4.

Die Antragstellerin hält sich in der Bundesrepublik nicht zur Berufsausbildung auf. Sie ist weder als Arbeitnehmerin tätig noch übt sie eine selbständige Tätigkeit aus. Im streitigen Zeitraum, der ab der Antragstellung bei Gericht am 21.06.2011 beginnt, ist sie auch nicht (mehr) als Arbeitssuchende freizügigkeitsberechtigt gewesen. Es besteht zwar kein Anlass, am Vorhandensein ihres Willens zur Arbeitssuche zu zweifeln. Das Aufenthaltsrecht zwecks Arbeitssuche besteht jedoch nicht uneingeschränkt. Das FreizügG/EU legt für die Arbeitssuche keine Frist fest, sondern bestimmt, dass jedenfalls für die ersten drei Monate ein Aufenthaltsrecht auch ohne Zweckbindung besteht (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist ein arbeitssuchender EU-Bürger so lange freizügigkeitsberechtigt wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht. Dem Betroffenen muss ein angemessener Zeitraum eingeräumt werden, um im Aufnahmemitgliedsstaat von Stellenangeboten, die seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis nehmen und sich ggf. bewerben zu können. Das Gemeinschaftsrecht regelt die Länge des Zeitraums nicht. Es verwehrt einem Mitgliedsstaat nicht, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, unbeschadet einer Klagemöglichkeit auszuweisen, wenn er nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (EuGH Urteil vom 26.02.1991 - C 292/89 - Antonissen; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 2 FreizügG/EU Rn 56).

Nach derzeitiger Aktenlage hat sich die Antragstellerin seit Dezember 2008 vergeblich um einen Arbeitsplatz bemüht. Zwar hat sie im Juni 2010 eine Arbeitsstelle als Teilzeitkraft in einem Café in Aussicht gehabt. Für diese Tätigkeit hat die Antragstellerin bislang aber nicht die für die Aufnahme der Erwerbstätigkeit nach § 284 Drittes Buch (Sozialgesetzbuch) SGB III erforderliche Arbeitsgenehmigung erhalten, wobei offen ist, ob dieser Arbeitsplatz für die Antragstellerin nach Ablauf von mehr als einem Jahr noch von dem potentiellen Arbeitgeber freihalten wird. Danach ist es der Antragstellerin in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahren seit dem Verlust des Arbeitsplatzes Ende Oktober 2008 - gerechnet bis zur Antragstellung beim Sozialgericht - nicht gelungen, auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Konkrete Bewerbungen und aktuell noch wahrzunehmende Arbeitsangebote hat sie im Verfahrensverlauf nicht vorgetragen. Vielmehr hat die Antragstellerin bei der erneuten Beantragung einer Arbeitserlaubnis nach § 284 SGB III bei der Bundesagentur für Arbeit im Juni 2011 angegeben, dass sie keinen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht habe. Deshalb hält der Senat die Annahme für gerechtfertigt, dass das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin wegen Arbeitssuche i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 FreizügG/EU nicht mehr besteht.

Die Vorschrift des § 2 Abs.3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU, wonach das Recht aus Abs. 1 für Arbeitnehmer bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit, unberührt bleibt, greift zu Gunsten der Antragstellerin nicht ein. Die Antragstellerin hat in der Bundesrepublik keine abhängige Beschäftigung von mehr als einem Jahr ausgeübt hat. Ebenso ist die Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG nicht einschlägig, wonach bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung, das Recht aus Abs. 1 während die Dauer von sechs Monaten unberührt bleibt. Die Frist von sechs Monaten, die nach dem Verlust des Arbeitsplatzes zum 31.10.2008 zu laufen begann, ist zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht abgelaufen gewesen.

Auch aus der Vorschrift § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU lässt sich ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin nicht ableiten. Danach genießen nicht erwerbstätige Unionsbürgerin ein Aufenthaltsrecht, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen (§ 4 FreizügG/EU). Wegen der im vorliegendem Verfahren behaupteten Bedürftigkeit der Antragstellerin als Voraussetzung eines Leistungsanspruches nach dem SGB II liegen diese Voraussetzungen offensichtlich nicht vor.

Anhaltspunkte für die zwischenzeitliche Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts der Antragstellerin i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU sind nicht ersichtlich. Unter Berücksichtígung der dokumentierten Meldedaten und der Angaben der Antragstellerin über die jeweilige Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet hat sich die Antragstellerin bei Antragstellung am 21.06.2011 weder seit fünf Jahren ständig rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten (§ 4a Abs. 1 FreizügG/EU) noch eine Erwerbstätigkeit mit der erforderlichen Dauer i.S.v. § 4a Abs. 2 FreizügG/EU) ausgeübt.

Ein Aufenthaltsrecht nach dem FreiziügG/EU besteht daher nicht. [...]

Ob schließlich etwas anderes aus dem Umstand folgt, dass die Antragstellerin über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt (zu deren Bedeutung vgl. BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R), erscheint im Hinblick darauf, dass in der Bescheinigung vom 04.06.2008 auf den Entfall der Freizügigkeitsvoraussetzungen, insbesondere der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts und in der Bescheinigung vom 07.08.2009 auf das Erfordernis einer Arbeitserlaubnis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit hingewiesen wird, zweifelhaft. Dies kann aber letztlich ebenso wie die Bedeutung des Umstands dahinstehen, dass der Aufenthalt von Staatsangehörigen der neuen Mitgliedsstaaten auch während der Übergangsphase nur unter den Voraussetzungen der §§ 6 und 7 FreizügG/EU, d.h. nach Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, beendet werden kann (Dienelt, a.a.O., Rn. 57 f., 61).

Denn dem Anordnungsanspruch steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durchgängig entgegen.

2. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, vom Leistungsbezug ausgenommen. Zweck dieser durch das Gesetz vom 24.03.2006, (BGBl I 558) zum 01.04.2006 eingeführten gesetzlichen Neuregelung war der Ausschluss von Ausländern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche infolge der Umsetzung der in Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4d der Richtlinie 2004/38/EG bestehenden Regelungen ergibt (BTDrucks 16/688, 13). Die Antragstellerin ist als bulgarische Staatsbürgerin Ausländerin; ein anderer Aufenthaltszweck als den der Arbeitssuche ist wie bereits dargelegt nicht ersichtlich. Die Antragstellerin ist demnach vom Leistungsanspruch nach dem SGB II ausgeschlossen. [...]

Insbesondere betrifft jedoch - soweit ersichtlich - die gesamte Aufarbeitung der zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gesehenen Probleme Fallgestaltungen, in denen uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger sich auf der Grundlage eines aus ihrem Status abgeleiteten Aufenthaltsrechts erlaubterweise im Zuzugsstaat aufhielten und zudem nicht durch das die Antragsteller betreffende Beschäftigungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt nach § 284 SGB III hinsichtlich ihrer Integrierbarkeit in den Arbeitsmarkt beeinträchtigt waren. Die Antragstellerin hat nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitssuchende, solange sie nicht im Besitz einer Arbeitsgenehmigung-EU sind. Hiernach besteht auch unter Beachtung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes nach EGV und AEUV ein objektiver Grund, sie von den Leistungen auszuschließen (vgl. auch Husmann, NZS 2009, 652 f., 657).

Bulgarische Staatsangehörige in der Situation der Antragstellerin nicht als vom Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach SGB II ausgeschlossen anzusehen, hieße im Übrigen, den Willen der vertragschließenden Parteien des Beitrittsvertrages sowie den Willen der Bundesregierung bei Ausübung der Vorbehaltsrechte zu ignorieren. Die Nichtanwendung bzw. Außerkraftsetzung der allgemeinen Regeln und Prinzipien des EU-Freizügigkeitsrechts für Arbeitnehmer im Beitrittsvertrag hat im Wesentlichen zwei Gründe. Der erste ist die Situation der nationalen Arbeitsmärkte. Der zweite Grund liegt in der befürchteten Belastung mit zusätzlichen Sozialausgaben, weil Arbeitnehmertätigkeit und soziale Sicherung in den meisten Ländern eng miteinander verknüpft sind (Fuchs, ZESAR 2007, 97 f., 102).Vor diesem Hintergrund erscheint ein Verständnis der Rechtslage dahin, dass Freizügigkeit und Zugang zu den nationalen Arbeitsmärkten vorübergehend nur eingeschränkt eröffnet, Sozialleistungen jedoch uneingeschränkt zugänglich gemacht werden sollten, ausgeschlossen.

Der Senat sieht danach keine Veranlassung, den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der vorliegenden Fallkonstellation europarechtlich in Frage zu stellen oder gar von seiner Anwendung abzusehen, solange jedenfalls keine eindeutigen Hinweise auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung in der Judikative des Bundesverfassungsgerichts bzw. des EuGH gegeben werden. [...]