VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 12.09.2011 - 6 L 866/11.A - asyl.net: M19123
https://www.asyl.net/rsdb/M19123
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.

1. Nach Auskunft des Ministerio dell'Interno ist der Antragsteller im Besitz einer noch gültigen italienischen Aufenthaltsgenehmigung zum subsidiären Schutz; somit stünden ihm dieselben Rechte bei Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfe zu wie italienischen Staatsbürgern. Die Richtigkeit dieser Mitteilung wird allein durch den Hinweis des Antragstellers auf die Aufenthaltsbewilligungsdauer von drei Jahren nicht in Frage gestellt.

2. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller wegen einer evtl. fortbestehenden physischen oder psychischen Erkrankung in Italien nicht adäquat behandelt werden würde, da er während seines früheren Aufenthalts in Brescia umfangreiche stationäre und ambulante Hilfsmaßnahmen erhalten hat.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, subsidiärer Schutz, Krankheit, Suizidgefahr, Herzerkrankung, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, medizinische Versorgung, Aufnahmebedingungen, psychische Erkrankung, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung, Aufenthaltstitel, Konzept der normativen Vergewisserung, Asylverfahren, sichere Drittstaaten,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 2, AsylVfG § 26a
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Er ist unstatthaft. [...]

Daher ist davon auszugehen, dass sog. Dublin-Rückkehrern in Italien nicht generell eine Behandlung droht, die den genannten EU-Vorschriften sowie der GFK und der EMRK widerspricht.

Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, aufgrund derer im vorliegenden Einzelfall, den es in Verfahren nach der Verordnung EG Nr. 343/2003 in den Blick zu nehmen gilt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 – 8 B 1433/09.A –, juris Rn. 25), ausnahmsweise eine andere Beurteilung angezeigt wäre. Zwar sind nach den vorliegenden Erkenntnissen die Aufnahmekapazitäten für Rückkehrer, die wie der Antragsteller als Personen mit subsidiärem Schutz im Rahmen des "Dublin-Verfahrens" nach Italien zurückkehren, in Italien durchaus prekär. In dem genannten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (S. 39) heißt es hierzu zusammenfassend:

"6. Elende Lebensbedingungen für Menschen mit Schutzstatus Die schwerwiegendsten Probleme gewärtigen Menschen, die einen Schutzstatus erhalten haben. Das italienische System unterstützt diese Personen, die nach sechs Monaten meist die Unterkunft verlassen müssen, nicht angemessen. Personen mit einem Schutzstatus, die aus dem System fallen, erhalten vom Staat keine genügende soziale Unterstützung und keine Integrationshilfe mehr.

Die Betroffenen landen auf der Strasse, zwar im Besitz einer Arbeitsbewilligung, die für die meisten von ihnen jedoch nutzlos ist, da sie keine Arbeit finden können. Dies ist das grösste Problem im italienischen System und gründet darin, dass das italienische Sozialwesen generell ungenügend ausgestattet und daher in keiner Weise darauf angelegt ist, Menschen, welche Trauma und Verfolgung erlebt haben und nun einen Platz in einer fremden Gesellschaft finden müssen, nachhaltig zu unterstützen. Viele Betroffene leben auf der Strasse ohne echte Perspektive, ihre Situation verbessern zu können.

Weil die meisten Personen mit einem Schutzstatus keine Unterkunft haben und ihnen die Möglichkeiten fehlen, ihre grundlegenden Bedürfnisse wie Nahrung, Duschmöglichkeiten, Hygiene, Wäschewaschen zu befriedigen, können sie auch keine Arbeitsstelle suchen. Stattdessen leben sie auf der Strasse auf der ständigen Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten, die fast nicht zu finden sind, und müssen in Warteschlangen ausharren, um etwas zu essen zu erhalten. Kirchliche Organisationen und NGOs verteilen Essen und stellen an verschiedenen Orten in grösseren Städten andere wichtige Dinge wie Waschmaschinen zur Verfügung. Wie erwähnt, verbringen diese bedürftigen Menschen den ganzen Tag damit, von einem Ort zum anderen zu eilen, um ihre grundlegenden Lebensbedürfnisse zu decken. Italienischkurse zu besuchen, wie sie manchmal von kirchlichen Organisationen und NGOs angeboten werden, und eine Arbeit zu suchen, um sich selber versorgen zu können, ist unter diesen prekären Umständen nahezu unmöglich".

Im Falle des Antragstellers kann jedoch der Eintritt der dargestellten Missstände, insbesondere das Fehlen des Zugangs zu Unterkunft, Gesundheitsversorgung und sozialer Unterstützung, nicht angenommen werden.

Zunächst ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller wegen einer eventuell fortbestehenden physischen oder psychischen Erkrankung nicht adäquat behandelt werden würde. Während seines früheren Aufenthaltes in Brescia wurden ihm umfangreiche stationäre und ambulante Hilfsmaßnahmen zuteil.

Ausweislich der von ihm selbst vorgelegten Arztberichte erhielt er am 29. September 2009 aufgrund eines mutmaßlichen Suizidversuchs eine ambulante Erstversorgung durch die Fondazione Poliambulanza in Brescia. Von dort wurde er ins Zivilkrankenhaus Montechiari in Brescia überwiesen, wo er unter anderem aufgrund einer traumatogenen psychischen Erkrankung (schizoaffektive depressive Störung) behandelt wurde. Dort erhielt er über die Wundversorgung hinaus Psychopharmaka und therapeutische Gespräche. Auch eine Herzuntersuchung wurde vorgenommen ("Consulenza cardiologica, Bl. 42 d. Beiakte). Die stationäre Behandlung konnte trotz der offenbar massiven akuten Ausprägung des Krankheitsbildes am 30. September 2009 beendet werden. Denn bei seiner Entlassung - so die vom Antragsteller eingereichte Übersetzung des Entlassungsberichts weiter - war eine Zustandsverbesserung eingetreten und eine Neigung, "sich selbst weh zu tun", nicht festzustellen. Zudem verhielt sich der Antragsteller kooperativ, adäquat und akzeptierte, dass die Therapien "zu Hause" fortgeführt und ambulante Kontrollen vorgenommen werden (Bl. 39, 88 f. Beiakte). Demnach war seine Behandlung auch keineswegs auf reine Notfallmaßnahmen beschränkt, sondern offenbar auf Fortführung angelegt. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob bei dem Antragsteller aktuell tatsächlich eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegen sollte oder nicht. Denn selbst wenn sich von der LVR-Klinik Viersen am 8. September 2011 attestierte "hochgradige Verdacht" auf eine posttraumatische Belastungsstörung bestätigen sollte, besteht nach vorstehenden Ausführungen kein Anhaltspunkt dafür, dass der Antragsteller nach einer etwaigen Überstellung nach Mailand nicht wie schon in der Vergangenheit adäquate ärztliche Hilfe erhielte.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass es dem Antragsteller verwehrt sein sollte, sich künftig erneut in Brescia aufzuhalten. Nach Aktenlage (Bl. 72 d. Beiakte) ist eine Überstellung nach Mailand-Malpensa und nicht etwa in deutlich problematischere Regionen wie z.B. Rom oder Süditalien beabsichtigt. Auch hatte der Antragsteller bereits in Brescia Obdach erhalten. Den vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen zufolge war er in Brescia unter der Anschrift Via Venezia 111 bzw. 116 wohnhaft und im Begriff, in die Via A. Monti 17/A umzuziehen (vgl. Bl. 41, 46, 88 f., d. Beiakte). Dies spricht eher dafür, dass der Antragsteller in Brescia über einen festen Wohnsitz verfügte. Darüber hinaus hatte das Polizeipräsidium Brescia nach der genannten Auskunft Ministero dell’Interno vom 12. Juli 2011 dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel über die Gewährung subsidiären Schutzes erteilt, der noch bis zum 28. November 2011 gültig ist. Zwar berechtigt eine solcher Aufenthaltstitel, der nach den vorliegenden Erkenntnissen für drei Jahre erteilt wird, den Asylsuchenden nicht, sich in einer beliebigen Gemeinde aufzuhalten. Allerdings ist nach der aktuellen Auskunftslage für Asylsuchende, die einen Schutzstatus erhalten haben, diejenige Gemeinde verantwortlich, in der sie zuerst ihr Asylgesuch eingereicht haben. Dieser Gemeinde bleibt sie auch nach Abschluss des Asylverfahrens administrativ zugeordnet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 31, 32, 35).

Berücksichtigt man zudem, dass eine Aufenthaltsbewilligung verlängert werden kann, sofern die Gründe, die zu ihrer Erteilung geführt haben, weiterhin bestehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 31), ist jedenfalls nach dem derzeitigen Sachstand nicht greifbar, weshalb dem Antragsteller ein erneuter Aufenthalt in Brescia verwehrt sein sollte und er mit einer Abschiebung in andere Landesteile zu rechnen hätte. Die Richtigkeit der Mitteilung des Ministero dell’Interno vom 12. Juli 2011 wird allein durch den Hinweis des Antragstellers auf die Aufenthaltsbewilligungsdauer von drei Jahren nicht in Frage gestellt. Sein weiterer Vortrag, er habe entsprechende Papiere ohnehin nicht mehr im Besitz, ist schon deshalb unerheblich, weil der Antragsteller gemäß der genannten Bescheinigung vom 12. Juli 2011 bei den italienischen Behörden als Inhaber subsidiären Schutzes geführt wird. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, weshalb dem Antragsteller ein Nachweis über seinen Aufenthaltsstatus nicht auch mit dieser Bescheinigung – ggf. in amtlicher Übersetzung – möglich sein sollte. Dass es dem Antragsteller auch möglich war, in Italien ein Asylverfahren zu durchlaufen, folgt schließlich aus seinem eigenen Vortrag gegenüber dem Bundesamt.

Eine im Verfahren nach § 34a als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis zu prüfende Reiseunfähigkeit (VGH Bad.-Württ. Beschluss vom 31. Mai 2011 – A 11 S 1523/11 -; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 – 4 Bs 223/10 -; VG Aachen, Beschluss vom, 28. Oktober 2010 – 7 L 419/10.A -, juris jeweils m.w.N.) ist ebenfalls nicht festzustellen. Aus den italienischen Arztberichten vom 29. und 30. September 2009 kann schon aufgrund des Zeitablaufs nicht auf eine gegenwärtige Reiseunfähigkeit geschlossen werden, zumal der Antragsteller anschließend in der Lage war, selbständig in die Niederlande und nach Deutschland zu reisen. Greifbare Anhaltspunkte für eine aktuelle Fluguntauglichkeit und/oder Suizidalität des Antragstellers bestehen auch nach der fachärztlichen Stellungnahme der LVR-Klinik W vom 8. September 2011 gegenwärtig nicht. [...]