VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Beschluss vom 21.09.2011 - B 1 E 11.578 - asyl.net: M19132
https://www.asyl.net/rsdb/M19132
Leitsatz:

Aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen Ausweisungsbescheid. Der chinesische Vater eines chinesischen Kindes, das in Deutschland bei seiner Mutter lebt, die auch ein deutsches Kind hat, könnte einen Anspruch auf eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis haben.

Schlagwörter: Abschiebung, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Vaterschaft, deutsches Kind, Verwurzelung, China, familiäre Lebensgemeinschaft, effektiver Rechtsschutz, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Sperrwirkung, Straftat, Ausweisung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1 S. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, GG Art. 19 Abs. 4, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der auf Gewährung von Abschiebungsschutz gerichtete Antrag nach § 123 VwGO ist in der vorliegenden Sache statthaft, da im Bescheid der Stadt Bayreuth vom 14.06.2011 keine Abschiebungsandrohung enthalten ist, sondern der Antragsteller aufgrund der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28.07.1994 abgeschoben werden soll. Da der Antragsteller sich bisher nur geduldet im Bundesgebiet aufgehalten hat, kommt auch hinsichtlich der Versagung der Aufenthaltserlaubnis ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr für eine Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Maßgebend sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

In der vorliegenden Sache hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da er gemäß dem vorgelegten Schreiben der Stadt Bayreuth vom 22.08.2011 demnächst abgeschoben werden soll. Ein für den 21.09.2011 gebuchter Flug ist nur aufgrund geäußerter Bedenken des Gerichts storniert worden und die Antragsgegnerin beabsichtigt gemäß der Antragserwiderung weiterhin die Abschiebung des Antragstellers.

Aus der Sicht des Gerichts besteht auch ein Anordnungsanspruch, da der Antragsteller Vater eines Kindes ist, dessen Mutter eine Niederlassungserlaubnis besitzt und diesem Kind und der Mutter nach summarischer Beurteilung aufgrund ihrer weitgehenden Verwurzelung in Deutschland nicht zugemutet werden kann, zum Zwecke der Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Antragsteller nach China auszureisen. Die Klage des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat daher Aussicht auf Erfolg und im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes erscheint es geboten, die Schaffung vollendeter Tatsachen durch Abschiebung des Antragstellers und die damit verbundene Trennung von seinem Kind, für das er nach den vorliegenden Erkenntnissen die elterliche Sorge gewissenhaft ausübt, vorläufig zu verhindern. Dem Antrag nach § 123 VwGO ist daher stattzugeben. Im Einzelnen sind für das Gericht folgende Erwägungen maßgebend:

Auch seitens der Ausländerbehörde wird im Bescheid vom 14.06.2011 anerkannt, dass zwischen dem Antragsteller und seinem in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kind ... Bindungen bestehen, die nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützt sind. Zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis hat geführt, dass die Ausländerbehörde zur Ansicht kam, dass die Erfüllung der elterlichen Sorgepflicht und die Pflege der Beziehung zwischen dem Antragsteller und seinem Kind nicht nur in Deutschland möglich sei, sondern auch in China zumutbar geschehen könne. Diese Annahme bedarf - wie noch näher dargelegt wird - der gerichtlichen Prüfung im Hauptsacheverfahren B 1 K 11.470. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen aber dann keine vollendeten Tatsachen durch eine Abschiebung geschaffen werden, wenn im Hauptsacheverfahren noch geklärt werden muss, ob der Bedeutung von Art. 6 GG von der Ausländerbehörde hinreichend Rechnung getragen wurde (vgl. insbesondere BVerfG vom 21.2.2011, Az. 2 BvR 1392/10 in InfAuslR 2011, 235, vom 7.12.2010, Az. 2 BvR 2625/10, vom 27.8.2010, Az. 2 BvR 130/10 in InfAuslR 2011, 287, vom 9.1.2009, Az. 2 BvR 1064/08 in InfAuslR 2009, 150 und vom 10.5.2008, Az. 2 BvR 588/08 in InfAuslR 2008, 347). Dies gilt vor allem dann, wenn - wie hier - ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das auch den etwaigen vorübergehenden Charakter einer Trennung möglicherweise nicht begreifen kann (vgl. BVerwG vom 9.1.2009 a.a.O.). Im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG ist dem Antragsteller hier daher im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufiger Abschiebungsschutz zu gewähren.

Entgegen der Meinung der Ausländerbehörde könnte außerdem im Hauptsacheverfahren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller in Betracht kommen, zumindest aber dürften Art. 6 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung des Antragstellers entgegenstehen. Zwar trifft zu, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug hier § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht, jedoch kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 10 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aufgrund eines rechtlichen Abschiebungshindernisses nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK in Betracht (vgl. BayVGH vom 22.7.2008, Az. 19 CE 08.781 in InfAuslR 2009, 158 und vom 13.9.2007, Az. 24 CS 07.2113; OVG Lüneburg vom 2.2.2011 in InfAuslR 2011, 151; VGH Baden-Württemberg vom 18.11.2009, Az. 13 S 2002109).

Soweit die Ausländerbehörde die Auffassung vertritt, dass dem Antragsteller, seinem Kind und der Kindesmutter die Führung der familiären Beziehungen in China zumutbar sei, kann dem nach summarischer Beurteilung nicht gefolgt werden. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass im Hauptsacheverfahren bei der gerichtlichen Entscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen sein wird und derzeit - anders als bei Erlass des Bescheides vom 14.06.2011 - Frau ... den Kontakt mit ihrem deutschen Sohn wieder aufgenommen hat oder jedenfalls wieder aufnehmen will. Soweit die Ausländerbehörde darlegt, dass die erneute Kontaktaufnahme offenbar erfolgt sei, um den weiteren Aufenthalt des Antragstellers zu ermöglichen, spricht zwar einiges für diese Annahme, jedoch dürfte dies im Hinblick darauf, dass Frau ... nach wie vor das gemeinsame Sorgerecht für ihr deutsches Kind besitzt, aufenthaltsrechtlich nicht entscheidend ins Gewicht fallen. Aus der Sicht des Gerichts muss die Ausländerbehörde außerdem berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht schon seit Jahren immer wieder betont, dass ausländerrechtlich nicht auf Begriffe wie Beistandsgemeinschaft oder Begegnungsgemeinschaft abgestellt werden darf (wie teilweise im Ablehnungsbescheid), sondern vielmehr Art. 6 GG nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu würdigen ist und an die Erfüllung der Elternfunktion im Sinne von Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG keine extensiven Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. insbesondere BVerfG vom 9.1.2009 a.a.O.). Aufgrund der familiären Verbindung mit dem deutschen Sohn ... ist es Frau ... und ihrem Kind daher nicht zumutbar, die familiären Beziehungen zum Antragsteller in China zu führen, vielmehr erscheint nach summarischer Prüfung eine Führung dieser Beziehungen allein in der Bundesrepublik Deutschland zumutbar möglich.

Hinsichtlich der familiären Verflechtungen der Kindesmutter in Deutschland hat die Ausländerbehörde im angefochtenen Bescheid auch nicht berücksichtigt, dass - wie dem Protokoll des Beratungsgesprächs vom 26.07.2011 entnommen werden kann - offenbar auch die Eltern von Frau ... mittlerweile in Deutschland leben, was eine Ausreise von ihr und ihrem chinesischen Kind noch weniger zumutbar erscheinen lässt. Jedenfalls bedarf auch dieser Umstand der Prüfung im Hauptsacheverfahren.

Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass auch die Annahme der Ausländerbehörden, insbesondere der Zentralen Rückführungsstelle Südbayern, der Antragsteller habe immer falsche Angaben zu seiner Identität gemacht, der Überprüfung bedarf. Nach summarischer Prüfung entsprechen die Daten im nunmehr ausgestellten chinesischen Reisepass (Bl. 699 d. Ausländerakte) genau den vom Antragsteller bei der Stellung seines Asylantrags am 08.03.1993 gemachten Angaben (vgl. Bl. 6 d. Ausländerakte). Insbesondere hatte er schon damals als Geburtsort ... und den Vornamen ... angegeben sowie wohl auch das nun im Reisepass eingetragene Geburtsdatum ... Allerdings gab er dies seinerzeit in englischer Schreibweise, den Monat zuerst genannt mit Bindestrichen, als "9-11-1962" an. Möglicherweise haben die Ausländerbehörden einfach eine darauf beruhende falsche Eintragung des Landratsamts Fürth (vgl. Bl. 5 d. Ausländerakte) fortlaufend übernommen. Allerdings dürften der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG oder dem IMK-Beschluss vom 17.11.2006 die Vorstrafen des Antragstellers entgegenstehen (insgesamt 70 Tagessätze Geldstrafe und 2 Monate Freiheitsstrafe).

Insgesamt ist dem Antragsteller im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und zur Vermeidung einer Trennung von seinem aufenthaltsberechtigten Kind ... bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig Abschiebungsschutz zu gewähren. [...]