VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 19.09.2011 - 5 L 996/11.DA - asyl.net: M19136
https://www.asyl.net/rsdb/M19136
Leitsatz:

Auch unter Berücksichtigung der Stillhalteklausel des Artikel 13 ARB 1/80 besteht nach dem Ausländergesetz 1965 bei fehlender Lebensunterhaltssicherung kein Anspruch auf eine Ermessensentscheidung hinsichtlich eines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Stillhalteklausel, Stand-Still-Klausel, Sicherung des Lebensunterhalts, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Ermessen, bisherige Erwerbstätigkeit, Erwerbstätigkeit, Gefälligkeitsbescheinigung, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, türkische Staatsangehörige,
Normen: ARB 1/80 Art. 13, AufenthG § 31 Abs. 1, AufenthG § 31 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 3, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Als Grundlage für die Verlängerung der gem. § 31 Abs. 1 AufenthG durch die Ausländerbehörde des Main-Kinzig-Kreises erteilten Aufenthaltserlaubnis kommt hier nur § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Betracht. Danach kann eine Aufenthaltserlaubnis, die einem Ausländer nach Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt worden ist, verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG nicht vorliegen. Während bei der erstmaligen Verlängerung einer solchen Erlaubnis die Inanspruchnahme von öffentlichen Sozialleistungen unbeachtlich ist (vgl. § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG), müssen bei der weiteren Verlängerung die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 i.V.m. § 8 Abs. 1 AufenthG erfüllt sein (OVG Lüneburg, B. v. 02.02.2011 – 11 ME 441/10 – juris; B. v. 08.02.2007 – 4 ME 49/07 – AuAS 2007, 62; Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 31 Rn. 58).

Der Lebensunterhalt des Antragstellers ist nicht i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG gesichert. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Allerdings bleiben insoweit das Kindergeld, der Kinderzuschlag und das Erziehungsgeld oder Elterngeld sowie öffentliche Mittel außer Betracht, die auf Beitragsleistungen beruhen (Satz 2). Die Befähigung zur Bestreitung des Lebensunterhalts kann aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen verfügbaren Mitteln erwachsen. Allerdings können auch freiwillige Leistungen Dritter ausnahmsweise zur Sicherung des Lebensunterhalts beitragen. Der Lebensunterhalt muss grundsätzlich für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts gesichert sein. Bei dieser Prognoseentscheidung ist neben dem aktuellen Beschäftigungsverhältnis auch der Verlauf der bisherigen Erwerbstätigkeit des Ausländers in die erforderliche Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Denn von einer Sicherung des Lebensunterhalts kann nur dann ausgegangen werden, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen (BVerwG, U. v. 17.04.2009 – 1 C 17.08 – BVerwGE 133, 329; Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 5 Rn. 19).

Der Lebensunterhalt ist – entgegen der Ansicht des Antragstellers – auch nicht dann gesichert, wenn keine Leistungen in Anspruch genommen werden, obwohl ein Anspruch auf (aufstockende) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II besteht. Ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, ist nach dem gesetzgeberischen Regelungsmodell unerheblich. Dies lässt sich zwar nicht schon aus dem Wortlaut der Vorschrift herleiten. Es ergibt sich aber aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift in Verbindung mit den Gesetzesmaterialien und der systematischen Stellung im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes. Der Sinn und Zweck der Regelung besteht darin, neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden (Online-Kommentar, Migrationsrecht.net, zu § 2 AufenthG m.w.N.; BVerwG, U. v. 26.08.2008 – 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370).

Gemessen an dem Maßstab des § 2 Abs. 3 AufenthG hat der Antragsteller die Sicherung seines Lebensunterhalts nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Durch die vorgelegten Lohn- und Gehaltsabrechnungen für die Monate Mai und Juni hat der Antragsteller bisher lediglich ein Entgelt von 400 € monatlich durch eine Beschäftigung bei der Firma Z. nachgewiesen, bei der er ausweislich des Arbeitsvertrages im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung von 50 Stunden pro Monat beschäftigt war. Diese kurzfristige Beschäftigung lässt nicht den Schluss zu, dass der Antragsteller zukünftig seinen Lebensunterhalt wird decken können. Zwar legt der Antragsteller eine "Bestätigung" des Inhabers Yasar Z. vor, wonach das Arbeitsverhältnis wegen seines "Bleiberechts" aufgelöst worden war und eine Vollzeitbeschäftigung in Aussicht gestellt wurde, sobald der Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hat. Diese Bescheinigung genügt indes nicht zur Glaubhaftmachung der Sicherung eines ausreichenden Lebensunterhalts, da es sich hierbei lediglich um eine Absichtserklärung handelt. Zudem bestand wegen § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gar kein Anlass das Arbeitsverhältnis wegen des "Bleiberechts" aufzulösen, was dem Antragsteller bekannt war und was er der Firma Z. ohne Weiteres hätte mitteilen können.

Hinzu kommt, dass sich der Eindruck aufdrängt, dass der Antragsteller durch Gefälligkeitsbescheinigungen das Vorhandensein einer Lebensunterhaltssicherung vorspiegeln will. Denn der Antragsteller legte einen weiteren Arbeitsvertrag mit Herrn Memet X. Y. vor, wonach er seit dem 06.06.2011 in dessen Autowerkstatt arbeiten würde. Bei der angegebenen Entgelthöhe ist bei einer Autowerkstatt von einer Vollzeitbeschäftigung auszugehen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit der Antragsteller bei zwei verschiedenen Arbeitnehmern gleichzeitig gearbeitet haben will. Erschwerend kommt hinzu, dass die Vorlage von Lohn- und Gehaltsabrechnungen im Hinblick auf den vorgelegten Arbeitsvertrag vom 01.06.2011 ohne Weiteres möglich gewesen wäre, gleichwohl aber – trotz Anforderung durch das Gericht – nicht erfolgt ist. Schließlich hat der Antragsteller bereits in der Vergangenheit einen Arbeitsvertrag vorgelegt, bei dem es sich um eine Fälschung handelte, da die Arbeitgeberfirma nach den Ermittlungen des Polizeipräsidiums Frankfurt nicht existiert und es sich bei dem angegebenen Firmensitz um eine "Halle, die seit Jahren nicht genutzt" wurde, handelt (Bl. 298 ff., 321 der Behördenakte).

Vorliegend ist auch keine Ausnahme vom Regelerfordernis der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegeben. Von einer Ausnahme ist insbesondere dann auszugehen, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es gebieten.

Insoweit ist – auch unter Berücksichtigung der Kriterien des Art. 17 RL 2003/86/EG – davon auszugehen, dass dem Antragsteller eine Rückkehr in sein Heimatland zumutbar und möglich ist. Gesichtspunkte, die eine Ausnahme von der Regelvoraussetzung begründen könnten, ergeben sich insbesondere nicht aus einer Verwurzelung des Antragstellers in die hiesigen Lebensumstände. Hiergegen sprechen sowohl die fehlende Lebensunterhaltssicherung als auch die Vielzahl von Straftaten im Bundesgebiet, auch wenn der Antragsteller nach derzeitigem Sachstand über vier Jahre nicht mehr straffällig geworden ist.

Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 bestehen nicht, da der Antragsteller zu keinem Zeitpunkt über einen Zeitraum von einem Jahr bei einem Arbeitgeber beschäftigt gewesen ist.

Auch aus der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 vermag der Antragsteller keine weitergehenden Rechte abzuleiten.

Nach Art 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei "für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neue Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen." Die Vorschrift, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht beinhaltet, verleiht nicht unmittelbar ein Aufenthaltsrecht, sondern verwehrt den Vertragsparteien, die innerstaatlichen Regelungen für die Begünstigten gegenüber dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Klausel zu erschweren (Online-Kommentar, Migrationsrecht.net, Art. 13 ARB unter Hinweis auf EuGH, U. v. 11.05.2000 – Rs. C-37/98 – Savas, InfAuslR 2000, 326). Nicht erfasst werden daher Beschränkungen, die eine Vertragspartei bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Standstill-Klausel erlassen hatte; deren Beibehaltung, auch in veränderter Form, ist daher grundsätzlich unschädlich.

Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 kommt nicht nur zur Anwendung, wenn der Arbeitnehmer oder Familienangehörige die Rechte aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 erworben hat. Der EuGH hat in der Rechtssache Torpak (EuGH, U. v. 09.12.2010 – C-300/09 und C-301/09 – Toprak und Oguz, Rn. 45) klargestellt, dass die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 nicht dazu dient, die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen, sondern gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten soll, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 dieses Beschlusses genießen. Für Familienangehörige gilt nichts anderes.

Da der Antragsteller ausweislich der vorgelegten Gehaltsabrechnungen jedenfalls im Mai und Juni 2011 als Arbeitnehmer tätig war, dürfte er sich zwar auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen können, jedoch vermittelt ihm auch das AuslG 1965 keine weitergehende Rechtsposition gegenüber der heutigen Rechtslage. Denn auch nach dem Ausländergesetz vom 28. April 1965 (BGBl I S. 353) - AuslG 1965 - war die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nur möglich, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers gedeckt war.

Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse war nach § 2 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1965 nicht zwingend ausgeschlossen, sondern stand im Ermessen der Behörde. Eine Ermessensentscheidung war jedoch nur dann erforderlich, wenn dem Verlängerungsantrag des Ausländers nicht die Negativschranke entgegenstand. Denn nach § 2 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1965 musste die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn die weitere Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigte (BVerwG, U. v. 05.05.1982 – 1 C 86/78 – Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 33).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Begriff der Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 war weit zu verstehen (BVerwG, U. v. 05.05.1982 – 1 C 86/78 – Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 33). Zu seiner Konkretisierung konnte u.a. auf die Maßstäbe des die Ausweisung regelnden § 10 Abs. 1 AuslG 1965 zurückgegriffen werden. Das Vorliegen eines Ausweisungstatbestandes war aber weder Voraussetzung noch stets ausreichend, um eine Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik Deutschland zu bejahen (BVerwG, a.a.O.). Die Anwendung der Negativschranke verlangte eine zukunftsbezogene Beurteilung; der künftige (weitere) Aufenthalt des um die Aufenthaltserlaubnis nachsuchenden Ausländers musste Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen. Außerdem musste die Beeinträchtigung der Belange der Bundesrepublik Deutschland von beachtlichem Gewicht sein (BVerwG, a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Nicht nur eine bereits eingetretene, sondern auch eine bevorstehende Verletzung von Belangen der Bundesrepublik Deutschland stellte eine Beeinträchtigung dar.

Eine solche Gefährdung und damit Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik Deutschland wäre mit dem weiteren Aufenthalt des Klägers verbunden, da er nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu decken und mit einer Änderung der Hilfsbedürftigkeit für die Zukunft nicht zu rechnen ist. Insoweit erfüllt der Antragsteller den vormaligen Ausweisungstatbestand des § 10 Abs. 1 Nr. 10 AuslG 1965. Dieser setzte voraus, dass der Ausländer den Lebensunterhalt "nicht ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfe bestreiten kann oder bestreitet". Danach war zwar nicht erforderlich, dass der Ausländer bereits Sozialhilfeleistungen bezog, doch verlangte der Ausweisungstatbestand, dass die Sozialhilfebedürftigkeit nicht nur bevorstand, sondern schon eingetreten ist.

Dass der weitere Aufenthalt des Antragstellers einen Belang der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt, schließt freilich nicht aus, dass andere öffentliche Belange für seinen weiteren Aufenthalt sprechen. Sind andere öffentliche Belange gegeben, so musste schon nach alter Rechtslage bei der Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 eine Güter- und Interessenabwägung stattfinden (BVerwG, a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Bei der vorzunehmenden Abwägung waren ähnliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die auch bei der Ausnahmeprüfung im Rahmen des § 5 Abs. 1 AufenthG anzustellen sind. Wie bereits ausgeführt, ist vorliegend – außer der langen Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet – kein Gesichtspunkt ersichtlich, der für einen weitergehenden Aufenthalt des Antragstellers sprechen könnte. Dieser begründet jedoch weder eine Atypik noch einen Wegfall der Negativschranke, sodass – in diesem Fall – kein Raum für eine Ermessensentscheidung bestand. [...]