Flüchtlingsanerkennung wegen nichtstaatlicher Verfolgung bei mangelnder Herrschaftsmacht der afghanischen Zentralregierung.
[...]
Die Klage ist zulässig. Die Klage wurde zunächst als sogenannte Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO erhoben, weil auf die erfolgte Anhörung des Klägers am 18.03.2009 bis zur Klageerhebung am 17.09.2010 kein Bescheid des Bundesamtes ergangen war. Hierzu wurde das Bundesamt anwaltlich durch ein entsprechendes Schreiben aufgefordert, ohne dass es reagiert hat. Die Voraussetzungen für eine Untätigkeitsklage - Klageerhebung nach drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes gemäß § 75 Satz 2 VwGO - waren gegeben. Ein zureichender Grund für die Verzögerung der Entscheidung ist seitens des Bundesamtes nicht geltend gemacht worden, § 75 Satz 3 VwGO. Nach Ergehen des Bescheides am 01.02.2011 hat der Kläger mit Schriftsatz vom 21.02.2011 die erhobene Untätigkeitsklage auf die Verpflichtungsklage mit dem vorliegenden Antrag umgestellt, und zwar innerhalb der Frist des § 74 VwGO.
Die Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 01.02.2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Beklagte war deswegen antragsgemäß zum Erlass des begehrten Verwaltungsaktes zu verpflichten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Bei dem vorliegenden Antrag handelt es sich um einen Folgeantrag des Klägers gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG. Der Kläger hat nämlich nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages einen erneuten Asylantrag gestellt. Nach dem Verlassen des Bundesgebietes hat der Kläger jedoch einen neuen Sachverhalt als Verfolgungsschicksal zur Entscheidung gestellt, der - was das Bundesamt auch zutreffend erkannt hat - zu einem zutreffenden Aufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG geführt hat.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des politischen Flüchtlings in seiner Person gemäß §§ 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylVfG, 60 Abs. 1 AufenthG. Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG leitet sich schon daraus her, dass der Kläger gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht nach Afghanistan abgeschoben werden darf, weil dort sein Leben und seine Freiheit wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Er befand sich vor seiner Ausreise zumindest in einer Situation, in der eine angedrohte Tötungshandlung jederzeit in eine gegen ihn gerichtete politische Verfolgung umschlagen konnte (sogenannte latente Verfolgungssituation). Eine politische Verfolgung kann gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 nämlich ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder c) nicht staatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Das Gericht geht davon aus, dass vorliegend eine Verfolgungshandlung von nicht staatlichen Akteuren i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG gegeben war bzw. unmittelbar den Kläger bedrohte. Diese Verfolgungshandlung und die Verfolgungsmächtigkeit der handelnden Akteure schlussfolgert das Gericht aus einer Gesamtschau der allgemeinen Lage in Afghanistan und der persönlichen Situation des Klägers. Es geht unter Zugrundelegung des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 17.02.2011 und auch des Berichtes zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 23.08.2011 davon aus, dass die zentral staatliche Regierung durch Ministerpräsident Karzai allenfalls im Großraum Kabul mit staatlicher Herrschaftsmacht ausgestattet ist, welche nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit in der Beherrschung des bestehenden Machtapparates voraussetzt (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2001 - 9 C 20.00 - NVWZ 2001, S. 815 f.). Im übrigen Staatsgebiet ist sie Bündnisse eingegangen oder konkurriert auch mit regionalen und örtlichen Milizen, mit weiteren durch Stammeszugehörigkeit oder Clanzugehörigkeit Einfluss ausübenden örtlichen Machthabern und islamistischen Kombattanten - insbesondere den Taliban -, deren Macht und Einfluss trotz des im Jahre 2001 eingeleiteten Umschwungs in weiten Teilen des Staatsgebietes, sogar zunehmend nach dem Jahre 2006 immer spürbarer wird. Dieser Einfluss der Taliban und der mit ihnen verbundenen islamistischen Gruppen erfordert zur Stabilisierung der Herrschaft der Zentralregierung enorme militärische Ressourcen durch die ISAF-Truppen, die über ein militärisches Potential von 150.000 Mann verfügen und regional - vor allem im Osten und im Süden - in regelrechte militärische Kämpfe mit den Taliban verwickelt sind. Auch im Großraum Kabul lässt sich die Herrschaft der Zentralregierung nur aufrecht erhalten, weil bedeutende Kontingente der internationalen Truppen in diesem Raum stationiert sind. Inwieweit die Übergabe von drei Provinzen, die neueren Datums ist, an die neu aufgebaute afghanische Armee von Dauer ist, bleibt abzuwarten. Festzustellen ist aber, dass sich über einen Zeitraum von zwischenzeitlich zehn Jahren die Lage zugunsten einer Stabilisierung Afghanistans und Ausstattung mit einer allgemein gebilligten Zentralregierung nicht verfestigt hat. Es ist vielmehr zu beobachten, dass die verschiedenen Kombattanten, die bereits aufgezählt wurden, in ihren jeweiligen Gebieten Herrschaftsmacht errichtet haben und diese Herrschaftsmacht i.S.d. Rechtsprechung des BVerwG mit einer gewissen Stetigkeit und Stabilität ausgestattet haben und es unabsehbar ist, wie diese mit der zentralstaatlichen Regierung konkurrierende Herrschaftsmacht gebrochen werden kann. Insoweit sind die von dem Kläger geltend gemachten Gefährdungen und befürchteten Verfolgungshandlungen durch den genannten Teil von Verfolgungshandlungen, die von verfolgungsfähigen und verfolgungsmächtigen nicht staatlichen Akteuren i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG begangen werden, gegen die die staatliche Macht strukturell den Schutz vor Verfolgung nicht bieten kann. Es ist sogar festzustellen, dass diese Kombattanten teilweise selber den Staat repräsentieren. Vor diesem Hintergrund ist - vorgreifend - auch nicht ersichtlich, auf welche innerstaatliche Fluchtalternative der Kläger, der erstmals als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist, außerhalb Kabuls, wo er aber das familiäre Netzwerk vermissen müsste, verwiesen werden kann.
Das Gericht hält die Ausführungen des Klägers im Kern für glaubhaft. Er hat dargelegt, weshalb er nach seiner Rückkehr nach Herat im Jahre 2005 Angst um sein Leben haben musste. Dies hat er glaubhaft gemacht durch seine persönliche Schilderung und durch seine Lebensumstände, welche dahingehend zu beschreiben sind, dass er den Nachstellungen von Häschern des ..., die bereits vorher mit entsprechenden Ankündigungen und Drohungen unterlegt waren, durch ständige Ausreise und Wiederkehr in den Iran entgehen musste. Er hat den Grund des Konfliktes auch nachvollziehbar und plausibel bereits während seiner Anhörung, aber auch bei seiner umfassenden informatorischen Anhörung vor Gericht dargelegt. Das Gericht kann insoweit ihm folgen und glaubt ihm auch. Aufgrund der Macht des ..., der fortwährend die Rache des Klägers bei einem Aufenthalt in Afghanistan fürchten müsste und sich - nach den Schilderungen des Klägers - auch in den Besitz eines Großteils der Grundstücke und Liegenschaften der klägerischen Familie gesetzt hat, ist er bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht sicher. Soweit das Bundesamt dargelegt hat, dass dem Kläger nicht zu folgen sei, weil er sich in Widersprüche hinsichtlich seiner Angaben im ersten Asylverfahren verwickelt hat, kann das Gericht diese Schlussfolgerung nicht teilen. [...]
Nach dem oben angegebenen Maßstab hätte der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Zugehörigkeit zur klägerischen Familie Gefahr für Leib und Leben zu befürchten, was die Voraussetzungen einer Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung - Familienzugehörigkeit als unveräußerliches Merkmal - belegt. Angesichts der Verfolgungsmächtigkeit des angegebenen ... ist der Kläger auch nicht auf einen anderen Landesteil Afghanistans zu verweisen, so dass eine inländische Fluchtalternative nicht ersichtlich ist. Er war demnach als politischer Flüchtling anzuerkennen.
Über gegebenenfalls bestehende Abschiebungsverbote musste das Gericht gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 nicht mehr entscheiden, da dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. [...]