VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 25.08.2011 - 8 A 1659/10.A - asyl.net: M19144
https://www.asyl.net/rsdb/M19144
Leitsatz:

Der nach wie vor in der Provinz Paktia im südöstlichen Grenzbereich Afghanistans stattfindende innerstaatliche bewaffnete Konflikt weist ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt mit einer so hohen Gefahrendichte für die dortige Zivilbevölkerung auf, dass jedenfalls bei gefahrerhöhenden persönlichen Umständen eine erhebliche individuelle Bedrohung einer Zivilperson an Leib oder Leben anzunehmen ist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Afghanistan, Paktia, gefahrerhöhende Umstände, Taliban, Zwangsrekrutierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist auch begründet, denn dem Kläger steht auch unter Zugrundelegung der rechtlichen Vorgaben dieses Revisionsurteils und entgegen dem Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 20. September 2007 - 5 E 2199/06.A (V) - ein Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu.

Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 11. Dezember 2008 - 8 A 611/08.A - (juris Rdnrn. 64 ff.) für die in der Regel maßgebliche Heimatregion des Klägers (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9/08 - BVerwGE 134 S. 188 ff. = NVwZ 2010 S. 196 ff. = ZAR 2010 S. 242 ff. = juris Rdnr. 17), also hier für die Provinz Paktia, unter Heranziehung zahlreicher Erkenntnismittel einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen der afghanischen Regierungsarmee/ISAF/NATO einerseits und den Taliban und anderen oppositionellen Kräften andererseits im Sinne dieser Vorschrift bejaht. Dem haben im vorliegenden Verfahren der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht in seiner Stellungnahme vom 8. April 2010 und das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 27. April 2010 mit der Begründung zugestimmt, dass die Feststellungen des Senats für diese Annahme ausreichten und noch hinreichend aktuell gewesen seien (a. a. O. juris Rdnr. 25).

Der Senat hat diese Einschätzung auch für die Folgezeit mit zwei rechtskräftig gewordenen Urteilen des Berichterstatters vom 1. und 12. Februar 2010 - 8 A 731/09.A - und - 8 A 2190/09.A - bekräftigt und ausgeführt, dass sich an der zugespitzten, auch die Zivilbevölkerung massiv bedrohenden Gefahrenlage in dieser Provinz - wie allgemein bekannt - nichts verbessert habe, dass vielmehr eher eine Verschlechterung eingetreten sei. Dazu hat er exemplarisch auf folgende allgemein zugängliche Quellen verwiesen: [...]

Ob das Niveau willkürlicher Gewalt des bewaffneten Konflikts in der Provinz Paktia und die sich daraus ergebende Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung so hoch sind, dass eine Zivilperson dort "allein durch ihre Anwesenheit" einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (so überzeugend für die ebenfalls an Pakistan angrenzende Ostprovinz Kunar: VG Ansbach, Urteil vom 28. Juni 2011 - AN 11 K 11.30080 - juris Rdnrn. 34 f.), kann vorliegend dahingestellt bleiben, weil beim Kläger jedenfalls gefahrerhöhende persönliche Umstände vorliegen, so dass eine individuelle Bedrohung auch bei einem nicht "extrem" hohen Niveau willkürlicher Gewalt anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. juris Rdnr. 31).

Dabei kann letztlich weiter offen bleiben, ob sich der Kläger wegen der vor seiner Ausreise im Februar 2001 drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban auf die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL berufen kann, wofür einiges spricht.

Zwar könnte es fraglich sein, ob die dem Kläger nach den eingeholten Gutachten in seiner Heimatprovinz Paktia drohende Zwangsrekrutierung infolge des seinerzeit in den nordöstlichen Gebieten Afghanistans geführten bewaffneten Konflikts zwischen der sog. Nordallianz und den Taliban als ernsthafter Schaden gemäß Art. 15c QRL anzusehen war. Jedenfalls dürfte darin aber eine unmittelbare Bedrohung mit Folter oder mit unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 15b QRL gelegen haben. Schon in dem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juli 2001, mit dem dem Kläger wegen der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG/§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gewährt worden war, war dazu ausgeführt, dass Zwangsrekrutierte "wie Leibeigene behandelt" werden, was der Senat in seinem aufgehobenen Berufungsurteil vom 11. Dezember 2008 im Tatbestand so auch wiedergegeben (vgl. juris Rdnr. 12), vom Bundesverwaltungsgericht in seinem aufhebenden Revisionsurteil vom 27. April 2010 a.a.O. (juris Rdnr. 29) allerdings nicht berücksichtigt worden ist (vgl. dazu auch Pfersich, ZAR 2010 S. 364). Auch im Gutachten des Dr. Danesch vom 7. Oktober 2010 ist auf Seite 6 oben ausgeführt, dass von den Taliban gegen zwangsweise Rekrutierte Gewalt ausgeübt worden sei und sie geschlagen, beleidigt und anschließend zum Dienst an der Front verschleppt worden seien. Im Gutachten vom amnesty international vom 21. Dezember 2010 wird der Fall eines beinamputierten Zwangsrekrutierten geschildert, der immer wieder schwer misshandelt und am Rande eines Gefechts erneut verwundet wurde.

Aus beiden Gutachten ergibt sich weiterhin, dass ein vor der Zwangsrekrutierung im Februar 2001 Geflohener im Falle seiner jetzigen Rückkehr nach Paktia mit seiner Wiedererkennung und wegen seines todeswürdigen, nicht verjährenden Verbrechens gegen die Religion mit seiner Tötung oder anderen Racheakten, möglicherweise auch mit seiner (erneuten) Zwangsrekrutierung zu einem bewussten Einsatz an vorderster Front oder als Selbstmordattentäter durch die wiedererstarkten und in der Bevölkerung starken Rückhalt genießenden Taliban rechnen müsste, und zwar ohne Aussicht auf eine Fluchtmöglichkeit oder Schutzgewährung.

Demgegenüber vermag der Senat der nicht bzw. nicht nachvollziehbar und allen übrigen vom Senat herangezogenen Erkenntnismitteln widersprechenden Behauptung des Auswärtigen Amtes in seiner Auskunft vom 15. Dezember 2010 nicht zu folgen, wonach für Rückkehrer in der Provinz Paktia aktuell keine Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban bestehe, weil diese seit Ende 2001 keine Herrschaftsgewalt in Afghanistan mehr ausübten und durch die Militäroperationen der ISAF zunehmend unter Druck gesetzt würden.

Ein dem Kläger nach Überzeugung des Senats demgegenüber im Falle seiner Rückkehr drohender gezielter Gewaltakt in Form einer Bestrafung und/oder Zwangsrekrutierung durch die Taliban wäre im Rahmen des Art. 15c QRL/§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch zu berücksichtigen und stünde angesichts des Verfolgungsgrundes und der Identität der verfolgenden Partei des seit mehr als zehn Jahre fortgeführten bewaffneten innerstaatlichen Konflikts auch in einem inneren Zusammenhang mit der fluchtbegründenden Gefahr der Zwangsrekrutierung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. juris Rdnr. 33).

Entgegen den im Revisionsverfahren vom Bundesamt und vom Vertreter des Bundesinteresses aufgeworfenen und vom Bundesverwaltungsgericht aufgegriffenen Zweifeln stellen nach beiden eingeholten Gutachten weder das Alter noch insbesondere die inzwischen bekanntgewordene Epilepsie-Erkrankung des Klägers stichhaltige Gründe dar, die der Gefahr seiner Bestrafung oder (erneuten) Zwangsrekrutierung entgegenstehen könnten, weil der Verfall traditioneller Werte in der afghanischen Gesellschaft weit fortgeschritten, eine Rücksichtnahme gegenüber Behinderten kein Teil der paschtunischen Tradition und gerade in der gegenwärtigen verschärften Lage nicht zur erwarten sei, zumal Epilepsie eine nicht auf den ersten Blick erkennbare Krankheit darstelle; das entspricht auch der Überzeugung des Senats.

Unabhängig von der Anwendbarkeit der Beweiserleichterung gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL stellt die dem Kläger drohende Bestrafung und/oder Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder einen ihrer Verbündeten aber jedenfalls für ihn einen persönlichen gefahrerhöhenden Umstand dar, der angesichts der hohen Gefahrendichte zu einer individuellen Bedrohung führt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. juris Rdnr. 31).

Wie der Senat bereits in seinem ersten Berufungsurteil vom 11. Dezember 2008 ausgeführt und näher begründet hat, kann der Kläger schließlich nicht gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL auf einen internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Afghanistan, insbesondere nicht in dessen Hauptstadt Kabul verwiesen werden, weil er wegen seiner durch mehrere ärztliche Bescheinigungen nachgewiesenen und von der Beklagten nicht substantiiert bestrittenen Epilepsie-Erkrankung gesundheitlich gefährdet und deshalb auch nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig ist und sich dort deshalb keine Existenzgrundlage sichern könnte, so dass in seinem Fall sogar die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG festzustellen seien. Dem hat das Bundesamt dadurch Rechnung getragen, dass es die damit begründete Aufhebung des Widerrufs seines Abschiebungsschutzes gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG/§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Bescheid vom 18. Juli 2001 hat rechtskräftig werden lassen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 25. August 2011 hat der Kläger nachvollziehbar und in Übereinstimmung mit früheren Angaben und deshalb glaubhaft mitgeteilt, dass er nach dem Tod seiner Ehefrau nur noch drei Kinder in Pakistan und keine Verwandten mehr in Afghanistan habe. [...]