VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 01.09.2011 - 12 A 362/11 - asyl.net: M19164
https://www.asyl.net/rsdb/M19164
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG für alleinerziehende Mutter und ihre minderjährigen Kinder, da ihnen bei Rückkehr nach Serbien oder Kosovo jegliche Existenzgrundlage fehlen und somit eine Gefahr für Leib und Leben vorliegen würde.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Kosovo, Serbien, Roma, alleinerziehend, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, die bestandskräftigen Bescheide vom 11.08.1994, 16.12.2005 und 09.11.2007 abzuändern und für die Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 bezüglich Serbiens und bezüglich des Kosovo festzustellen. Die Kläger haben insoweit einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen der abgeschlossenen Verfahrens im weiteren Sinne gemäß den §§ 51 Abs. 5. 49 VwVfG sowie auf eine entsprechende Feststellung. [...]

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn die manifeste Gefahr besteht, dass der Ausländer im Zielstaat der Abschiebung mangels einer ausreichenden Existenzmöglichkeit an Hunger oder Krankheit streben würde. Dies kommt in Betracht, wenn das wirtschaftliche Existenzminimum, mithin das Vorhandensein einer Unterkunft, die Gewährleistung ausreichender Verpflegung und die Verfügbarkeit einer Grundversorgung im medizinischen Bereich, nicht gesichert ist (vgl.: VG Stuttgart, Urt. v. 03.11.2008 - A 11 K 6398/07 -, juris). Diese Voraussetzungen sind für die Kläger bei einer Abschiebung sowohl im Kosovo als auch in Serbien erfüllt.

Als alleinerziehende Mutter von drei minderjährigen Kindern, die alle dem Volk der Roma angehören, wären die Kläger nicht in der Lage, ihre Existenz zu sichern.

Bei einer Rückkehr ins Kosovo, die zwar angeblich bisher nicht beabsichtigt ist, aber aufgrund der Herkunft der Kläger als möglich und naheliegend erachtet werden muss, schließt sich das erkennende Gericht dem Verwaltungsgericht Ansbach an, welches in seinem Urteil vom 17.05.2011 (AN 14 K 11.30049) in einem vergleichbaren Fall Folgendes ausgeführt hat:

"Das Gericht geht weiterhin davon aus, dass eine alleinstehende, ohne verwandtschaftliche Hilfe in das Kosovo zurückkehrende Frau, die drei minderjährige Kinder zu ernähren hat, keine Chance hat, für sich und ihre Familie das zum Überleben notwendige Existenzminimum zu erwirtschaften. Im Verfahren wurde dargelegt, dass nach der Ehescheidung der Klägerin zu 1) eine finanzielle Unterstützung aus Deutschland bei einer Rückkehr der Familie in den Kosovo nicht erwartet werden könne. [...] Angesichts einer Arbeitslosenquote im Kosovo von geschätzten 45 % (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien/Kosovo vom 6.1.2011) ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 1) durch Erwerbstätigkeit zum Lebensunterhalt beitragen könnte, abgesehen davon, dass die meisten Lohnempfänger mit einem Gehalt auskommen müssen, das nicht Existenz sichernd ist (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, zur Lage der medizinischen Versorgung - update vom 7.6.2007). Hinzu kommt, dass Angehörige der Minderheitengruppen Roma/Aschkali/Ägypter, zu denen die Kläger nach Überzeugung des Gerichts zählen, vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 3). Die Arbeitslosenquote bei diesen Minderheiten liegt deshalb bei 98 %. Verwandte der Klägerin zu 1) halten sich im Kosovo nach ihren überzeugenden Angaben nicht mehr auf.

Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel, ob die Klägerin zu 1) eine staatliche Registrierung am Wohnort erreichen könnte. Eine solche Registrierung müsste wohl in ... passieren, da sie dort zuletzt gelebt hat. Eine staatliche Registrierung am Wohnort sowie Personenstandsurkunden sind grundsätzliche Voraussetzungen für den Zugang zu vielen Leistungen und im Rechtsverkehr. Viele Angehörige der RAE sind im Kosovo jedoch nicht registriert bzw. besitzen keine oder nur unvollständige Personenstandsurkunden. [...] Selbst wenn es der Klägerin zu 1) jedoch gelänge, sich und ihre Familie registrieren zu lassen und staatliche Unterstützung zu erhalten, ist festzustellen, dass das Sozialhilfeniveau im Kosovo kaum ausreicht, um die Grundversorgung zu sichern (amnesty international zur Situation der Roma im Kosovo und zu den Abschiebungen von Roma in den Kosovo, Berlin, 6.5.2010). (...)

Selbst wenn die Klägerin zu 1) daher eine Registrierung erreichen sollte, wäre sie und ihre Familie dann mit einem der größten Probleme konfrontiert, von denen Roma im Kosovo betroffen sind, dem Zugang zu Wohnraum. (...). Unter Berücksichtigung des allgemeinen im Kosovo herrschenden Mangels an Wohnraum wäre die Klägerin zu 1) daher mit dem Problem konfrontiert, für sich und ihre vier Kinder Wohnraum zu finden. Dafür stünden ihr in dem Falle, dass sie es erreichte, staatliche Unterstützungsleistungen zu erhalten, monatlich bis zu 80,00 EUR zur Verfügung (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 6.1.2011: die Sozialhilfe beträgt für Einzelpersonen 40,00 EUR monatlich und für Familien abhängig von der Zahl der Personen bis zu 80,00 EUR monatlich). [...].

Bedingt durch Tradition, Religion und soziokulturelle Eigenheiten sowie wirtschaftliche Abhängigkeiten sind Frauen im Kosovo gesellschaftlich schlechter gestellt als Männer. Während die Arbeitslosenquote insgesamt ca. 45 % beträgt, liegt sie bei Frauen bei über 70 %. Die Klägerin zu 2), ihre Geschwister und die Klägerin zu 1) würden daher selbst dann, wenn sie eine Registrierung erreichen sollten und staatliche Unterstützungsleistungen erhalten würden, sich in einer wirtschaftlichen Situation befinden, die eine besondere Gefährdung hervorrufen würde, Opfer sexueller Ausbeutung, die im Kosovo weit verbreitet ist und Frauen und Kinder betrifft, betroffen zu sein (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6.1.2011). So berichtet das US-Außenministerium in einem Report zum Kosovo vom 16.6.2009, abrufbar unter www.unhcr.org/refworld/docid/4a4214ad28.html:

"Der Kosovo ist Ursprungs-, Transit- und Zielland von Frauen und Kindern, die zwecks kommerzieller sexueller Ausbeutung über die Landesgrenzen hinweg im Rahmen des Menschenhandels verschleppt werden. Auch innerhalb des Kosovo fallen kosovarische Frauen und Kinder für die gleichen Zwecke dem Menschenhandel zum Opfer. Nichtregierungsorganisationen haben berichtet, dass der Kinderhandel mit dem Ziel, Kinder zum Betteln zu zwingen, insbesondere bei den Roma-Gemeinschaften ein zunehmendes Problem darstelle. Nach Ausführungen des UNHCR in den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes von Personen aus dem Kosovo vom 9. November 2009 besteht bei Opfern von Menschenhandel und insbesondere bei Frauen und Kindern internationaler Schutzbedarf, da es möglich ist, dass sie keinen effektiven Schutz durch den Staat erhalten."

Es kann daher keine Rede davon sein, dass die Situation der Kläger nach einer Abschiebung in den Kosovo lediglich von der wirtschaftlichen Not aller in vergleichbarer Situation lebenden Einwohner des Kosovo geprägt wäre. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihre Situation vergleichbar wäre mit der einer Romafamilie, die zusammen mit dem Vater bzw. Ehemann, also einem männlichen Ernährer der Familie in den Kosovo abgeschoben wird. Vielmehr stünde die Klägerin zu 1) als Familienoberhaupt unter Berücksichtigung und wegen ihrer Erkrankung und der auf sie wartenden Schwierigkeiten alleine und hilflos da. Mit Sicherheit stünde sie jedenfalls anfangs ohne Einkünfte und Wohnraum da. Die Existenzsicherung ihrer Familie mit drei minderjährigen Kindern, von denen eines außerdem noch erkrankt ist, wäre für unvorhersehbare lange Zeit nicht gewährleistet. Selbst wenn sie es nach einer gewissen Zeit erreichen könnte, dass sie in ihrem Heimatort registriert würde und staatliche Unterstützung erhalten könnte, muss nach den Auskünften, die das Gericht im Verfahren zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, davon ausgegangen werden, dass sie sich ihre Medikamente davon nicht leisten könnte und daher langfristig der extremen Gefahr der Erblindung ausgesetzt wäre. Die übrigen Familienmitglieder wären wegen der durch diese Verhältnisse geschaffenen wirtschaftlichen Not ernsthaft in Gefahr, in verbrecherischer Weise sexuell und in anderer Weise ausgebeutet zu werden, um den Lebensunterhalt sichern zu können. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger auf die Hilfe einer im Kosovo noch vorhandenen Verwandtschaft setzen können. [...]

Damit sind die Kläger aber unübersehbar in verschiedentlicher Hinsicht von schwersten Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit bei einer Rückkehr in den Kosovo bedroht. Weder wäre eine ausreichende Versorgung der Erkrankung der Klägerin zu 1) gesichert, noch könnte die Familie das wirtschaftliche Existenzminimum erlangen und insbesondere die Klägerinnen zu 1) und zu 2) wären jedenfalls unter diesen Voraussetzungen den im Kosovo weit verbreiteten Mechanismen der sexuellen Ausbeutung ausgeliefert. Aus diesen Gründen ergibt sich für die Kläger ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG."

Auch bei der beabsichtigten Abschiebung nach Serbien hätten die Kläger nach Auffassung des Gerichts keine realistische Möglichkeit einer Existenzsicherung. Zwar gibt es in Serbien grundsätzlich ein öffentliches Sozialfürsorgesystem, welches den Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsfürsorge, Bildungseinrichtungen und Wohnraum regelt. Allerdings ist der Zugang zu allen diesen Einrichtungen nur nach einer Registrierung möglich (vgl. Auskunft UNHCR vom 16.06.2011; Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.03.2010 und vom 21.04.2011, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Serbien - Allgemeine Lage und Situation der Roma und Albaner - Juni 2010), die den Klägern aller Voraussicht nach nicht gelingen wird. Das Gericht nimmt insofern auf die Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschl. v. 03.11.2005 - 8 LA 322/04, juris) Bezug. Darin führt das Gericht aus:

"Unabhängig davon, ob nun die Registrierung als Binnenvertriebener erfolgen soll oder "nur" eine Anmeldung mit ständigen Wohnsitz in Serbien, ist jedenfalls die Vorlage einer Reihe von Identitäts- und Personalpapieren notwendig (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23.9. 2005, Stand: Ende Juli 2005, S. 20), nämlich u.a. einer Geburtsurkunde, eines Personalausweises (licna karta), einer Bescheinigung über den Ort des letzten ständigen Aufenthalts und eines Staatsangehörigkeitsnachweises. Über diese Dokumente verfügen insbesondere Roma aus dem Kosovo häufig nicht (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16.2.2005, S. 2; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O.; IDP Interagency Working Group, Analysis of the Situation of Internally Displaced Persons from Kosovo in Serbia and Montenegro, Law and Practice, Oktober 2004, S. 17 f.; Global IDP Project, IDPs from Kosovo: Stuck between uncertain return prospects and denial of local integration, 22,9.2005, S. 14; Mattern, a.a.O., S. 3, jeweils m. w. N.). Hinzu kommt, dass diese notwendigen Dokumente nicht zentral, sondern bei den aus dem Koso-vo ausgelagerten, sich in der Regel im Süden von Serbien befindlichen (vgl, die Aufstellung in: IDP Interagency Working Group, a.a.O., S. 18, Fn. 53) Ämtern gebührenpflichtig zu beantragen sind, in der Vergangenheit dort persönlich vorgesprochen werden musste und sich die Bearbeitung vielfach verzögerte. Eine persönliche Antragstellung ist nunmehr allerdings nur noch für den Erhalt des Personalausweises erforderlich (vgl. Global IDP Project, a.a.O.). Bemängelt wird außerdem das Fehlen einer Vereinbarung über die Anerkennung der von der UNMIK ausgestellten Dokumente durch Serbien (vgl., IDP Interagency Working Group, a.a.O., S. 19). Schon die angeführten rechtlichen Erfordernisse werden vom Aus-wärtigen Amt als "ernsthaftes Hindernis" u.a. beim Zugang zur Gesundheitsfürsorge bezeichnet (vgl. Lagebericht, a.a.O.). Unter Berücksichtigung des - bei mittellosen Antragstellern - in der Praxis zusätzlich zu erwartenden "hinhaltenden Widerstandes der zuständigen Behörden" (o.a. Auskunft vom 16.2.2005) gelangt das Auswärtige Amt zu der Erkenntnis, dass "de facto" im Falle der Rückkehr aus dem Ausland eine Registrierung nur in der Gemeinde des letzten Wohnsitzes möglich sei (o.a. Auskunft vom 21.10.2004)."

Diese Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind auch heute noch gültig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Serbien vom 04.06.2010: S. 14; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Südserbien: Soziale Situation vertriebener Personen, Auskunft vom 28.02.2011, S. 2). Die Klägerin zu 1) und ihre Familie, die ihren Wohnsitz stets im Kosovo und niemals in Serbien hatte, werden vor diesem Hintergrund eine Registrierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht erhalten können und damit vom Zugang zum gesamten Sozialsystem ausgeschlossen bleiben. Der Aufbau einer Existenz und deren Sicherung dürfte den Klägern aber ohne staatliche Hilfe unmöglich sein, so dass mit deren völliger Verelendung zu rechnen wäre.

Ist mithin der Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt, ist eine Ermessensentscheidung der Beklagten veranlasst, die diese bislang nicht getroffen hat. Das Gericht ist gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO gleichwohl in der Lage, in der Sache abschließend zu entscheiden. Denn das Ermessen der Beklagten ist dahingehend reduziert, dass allein eine Änderung der Bescheide vom 11.08.1994, 16.12.2005 und 09.11.2007 und die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 114 Satz 1 VwGO ermessensfehlerfrei möglich sind. Bei einer Rückführung in den Kosovo oder nach Serbien und der damit verbundenen Unmöglichkeit der Existenzsicherung besteht konkrete Lebensgefahr. Die Kläger sehenden Auges in den Tod zu schicken, ist vor dem Hintergrund von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schlechthin unvertretbar. [...]