VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 20.09.2011 - 35 K 146.11 V - asyl.net: M19170
https://www.asyl.net/rsdb/M19170
Leitsatz:

Zur Familienzusammenführung einer somalischen Mutter zu ihrem in Deutschland als Flüchtling anerkannten minderjährigen Sohn. Kein rechtsmissbräuchliches Verhalten, denn sähe man die typischerweise vorliegenden Unterstützungshandlungen der Eltern bei der Ausreise ihrer Kinder als rechtsmissbräuchlich an, liefe die gesetzliche Regelung des Elternnachzugs nach § 36 Abs. 1 AufenthG leer. Es liegt ein atypischer Ausnahmefall von der Passpflicht vor, da somalische Pässe generell nicht anerkannt werden, so dass keine Möglichkeit besteht, der Passpflicht durch Vorlage eines somalischen Passes nachzukommen.

Schlagwörter: Visumsverfahren, Familienzusammenführung, Somalia, Passpflicht, anerkannter Flüchtling, minderjährig, Eltern-Kind-Verhältnis, Beurteilungszeitpunkt, Rechtsmissbrauch, Kindeswohl, Passbeschaffung, Zumutbarkeit,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 36 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Bescheid der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Nairobi vom … 2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung des beantragten Visums.

Rechtsgrundlage für den Nachzugsanspruch der Klägerin ist § 36 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Danach ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Dem Sohn der Klägerin (O.) ist am … 2010 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt worden; ein sorgeberechtigter Elternteil hält sich nicht im Bundesgebiet auf. Auch die weitere Erteilungsvoraussetzung, die Minderjährigkeit des Flüchtlings, liegt vor. Zwar ist bei Verpflichtungsklagen grundsätzlich von der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung auszugehen. Zu diesem Zeitpunkt ist der den Nachzug vermittelnde Sohn der Klägerin bereits volljährig. Jedoch ist beim Elternnachzug zu einem minderjährigen Kind nach § 36 Abs. 1 AufenthG wie beim Kindernachzug nach § 32 AufenthG auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen (so auch Kloesel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, 63. Lfg., § 36, Rdnr. 9; Hofmann/Hoffmann /Oberhäuser, HK-AuslR, § 36, Rdnr. 6; Storr/Wenger/Eberle/Albrecht Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 36, Rdnr. 5a; vgl. auch Fritz/Marx, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Mai 2008, § 28, Rdnr. 61), zu welchem O. noch minderjährig war. Das Bundesverwaltungsgericht hat den vom allgemeinen Grundsatz abweichenden Beurteilungszeitpunkt mit dem hierbei verfolgten Zweck, Kindern unter 16 Jahren die Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zu ermöglichen, begründet: Stellte man in diesem Fall auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab, würde dieser Zweck weitgehend verfehlt, weil – trotz rechtzeitig gestellten Antrags – der dem Minderjährigen zukommende Schutz vielfach aufgrund des Zeitablaufs entfiele. Insbesondere könnte das Kind, das wegen einer rechtswidrigen Ablehnung seines Antrags den Rechtsweg beschreiten muss, dadurch seinen Anspruch verlieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG - 1 C 32.07 - juris, Rdnr. 17; BVerwG, Urteil vom 18. November 1997 - BVerwG 1 C 22.96 -, juris, Rdnr. 19 f.).

Gleiches muss gelten, wenn nicht Kinder zu ihren Eltern, sondern umgekehrt Eltern zu ihren Kindern nachziehen wollen (vgl. zum Vorstehenden auch VG Berlin, Urteil vom 23. Februar 2011 – VG 23 K 194.10 V –; VG Berlin, Urteil vom 11. November 2010 – VG 15 K 153.10 V –; VG Berlin, Urteil vom 12. April 2011 – VG 35 K 37.11 V –). Gerade der vorliegende Fall, in dem der rechtzeitig vor Erreichen der Altersgrenze geltend gemachte Anspruch allein mit der Begründung vereitelt worden ist, dass der Sohn der Klägerin in einigen Monaten volljährig werde, zeigt deutlich, dass auf das Alter im Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist, weil auch ein Sekundäranspruch den vereitelten Rechtsanspruch nicht kompensieren könnte.

Die Geltendmachung des Anspruchs durch die Klägerin ist – auch nach der einhelligen Rechtsprechung verschiedener Kammern des Verwaltungsgerichts Berlin (vgl. VG Berlin 35. Kammer, a.a.O., m.w.N.), der der Einzelrichter folgt – nicht rechtsmissbräuchlich. Mit der Annahme, es stelle einen Rechtsmissbrauch dar, dass die Klägerin ihren damals minderjährigen Sohn unter Umgehung der Einreisevorschriften in die Bundesrepublik Deutschland habe schleusen lassen, um damit die Möglichkeit des Nachzuges für sich und die übrigen Kinder zu eröffnen, verkennt die Beklagte die Bedeutung der Flüchtlingsanerkennung des Sohnes O.. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgte durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und ist daher von der Beklagten hinzunehmen. Zudem ist die Annahme der Beklagten, die Einreise sei nicht erfolgt, um Schutz vor Verfolgung zu erhalten, mit der Entscheidung des Bundesamtes und auch mit der allgemein bekannten Lage in Somalia nicht in Einklang zu bringen. (vgl. zum Vorstehenden auch VG Berlin, Urteil vom 11. November 2010 – VG 15 K 153.10 V –).

Es ist nicht überzeugend, wenn die Beklagte meint, die Norm sei zwar im "Normalfall" dazu da, beiden Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings die Einreise zu ermöglichen, aber nicht dann, wenn die Eltern durch einen Schleuser ihr Kind in die Bundesrepublik hätten bringen lassen. Die Beklagte vermochte bereits nicht darzustellen, was der "Normalfall" sei, da unbegleitete Minderjährige, wenn sie Eltern haben, mit denen auch Kontakt besteht, regelmäßig von den Eltern unterstützt aus ihren Heimatländern fliehen dürften. Sähe man die typischerweise vorliegenden Unterstützungshandlungen der Eltern bei der Ausreise ihrer Kinder als rechtsmissbräuchlich an, liefe die gesetzliche Regelung des Elternnachzugs nach § 36 Abs. 1 AufenthG regelmäßig ins Leere. Die Beurteilung, ob diese Personen ein Aufenthaltsrecht haben, obliegt im Falle der Asylantragstellung dem Bundesamt. Wird einem Minderjährigen Asyl gewährt oder ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, ist es nicht zulässig, den Eltern im Rahmen der Prüfung ihres Nachzugsanspruchs entgegenzuhalten, dass sie unter Umgehung der Einreisevorschriften ihr Kind in die Bundesrepublik Deutschland geschickt hätten. Mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nämlich eine Wertentscheidung der Bundesrepublik Deutschland getroffen worden, die nicht durch die Verweigerung der Einreise der Eltern ins Gegenteil verkehrt werden darf. Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 23.11.1993 - 1 C 21.92 - juris) führt zu keiner anderen Beurteilung, denn die Entscheidung betrifft eine vollkommen andere Interessenlage. Dort ging es um die Frage, ob ein Anspruch auf Ersatz beschädigter, durch einen Bankeinbruch abhanden gekommener Banknoten durch die Deutsche Bundesbank bestehe, wenn der Inhaber beim Erwerb der abhanden gekommenen Banknoten nicht in gutem Glauben gewesen ist.

Die Frage, ob die Klägerin angesichts der zwischenzeitlichen Volljährigkeit nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erlangen könnte, ist zumindest offen. Es kann angesichts der nachgewiesenen Traumatisierung des Sohnes der Klägerin nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin nach der Einreise einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat. Darauf kommt es aber letztlich nicht an, weil jedes Visum stets unter dem Vorbehalt steht, dass die anschließende Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eines rechtmäßig eingereisten Ausländers im Inland geprüft werden muss.

Das Argument der Beklagten, das Wohl der übrigen Kinder der Klägerin gebiete die Versagung des Visums, ist ebenfalls nicht geeignet, ihren gesetzlichen Nachzugsanspruch entfallen zu lassen. Es fehlt bereits an einer rechtlichen Grundlage für die anspruchshindernde Berücksichtigung des Kindeswohlaspekts im Rahmen des § 36 Abs. 1 AufenthG. Darüber hinaus ist – wie die Beklagte im Einklang mit der Rechtsprechung in den Kindernachzugsfällen regelmäßig vorbringt – die Entscheidung der Eltern, ggf. ohne ihre Kinder nach Deutschland zu ziehen, ihre autonome Lebensentscheidung (vgl. zum Vorstehenden auch VG Berlin, Urteil vom 11. November 2010 – VG 15 K 153.10 V –; VG Berlin, Urteil vom 23. Februar 2011 – VG 23 K 194.10 V –).

Ohne Erfolg macht die Beklagte geltend, dass die Klägerin nicht über einen visierfähigen Pass verfügt. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG setzt zwar die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel voraus, dass die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird. Danach dürfen Ausländer nur in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind.

Diese Regelvoraussetzung liegt hier nicht vor, weil nach unwidersprochenem Vorbringen der Beklagten somalische Pässe nicht vom Bundesministerium des Innern anerkannt werden.

Im vorliegenden Fall ist jedoch von einem atypischen Ausnahmefall auszugehen und folglich von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG für die Erteilung der Visa abzusehen. Ist die Passbeschaffung unzumutbar, kann eine Ausnahme von der Regelvoraussetzung angenommen werden (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 25. Januar 2007 – 2 A 264/05 – juris, Rdnr. 25; Hailbronner, AufenthR, § 5 Rdnr. 17 m.w.N.). Dies ist hier der Fall, weil es der Klägerin weder möglich noch zumutbar ist, die Passpflicht nach § 3 AufenthG zu erfüllen.

Somalische Pässe werden generell nicht anerkannt, so dass sie keine Möglichkeit hat, der Passpflicht durch Vorlage eines somalischen Passes nachzukommen. Die Klägerin hat auch keine Möglichkeit, eine Ausnahme von der Passpflicht zu erlangen. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin, eine Ausnahme von der Passpflicht nach § 3 Abs. 2 AufenthG zuzulassen, nicht an das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weitergeleitet, weil dieser Antrag nur im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Visums positiv beschieden werden würde. Somit liegt bei dem Einwand der Beklagten ein klassischer Zirkelschluss vor, weil sie das Visum verweigert, weil die Passpflicht nicht erfüllt wird, die ihrerseits wegen der Verweigerung des Visums nicht erfüllt werden kann. Dem Einwand der Beklagten steht daher der auch im öffentlichen Recht geltende Einwand treuwidrigen Verhaltens nach § 242 BGB entgegen, weil die Beklagte eine anspruchshindernde Einwendung allein durch ihr eigenes treuwidriges Verhalten begründet.

Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen entsprechenden Antrag nur positiv bescheidet, wenn das Auswärtige Amt seinerseits bestätigt, dass ein Anspruch auf Erteilung eines Visums besteht, ist die Klägerin auch nicht darauf zu verweisen, zunächst eine Ausnahme von der Passpflicht im Wege einer Untätigkeitsklage durchzusetzen. Denn das Bundesamt übt sein Ermessen nach dem Vorbringen der Beklagten allein danach aus, ob ein Anspruch auf Erteilung eines Visums besteht. Einen weitergehenden Prüfungsrahmen hat die Beklagte nicht aufgezeigt. In einem solchen Fall würde ein Aussetzen des Visumsverfahrens im Hinblick auf die Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht zu divergierenden Entscheidungen führen, weil das für die Erteilung einer Ausnahme zuständige Gericht dieselbe Rechtsfrage als Vorfrage zu dem Visumsverfahren zu entscheiden hätte, die das für die Erteilung des Visums selbst zuständige Gericht zu treffen hätte. Hängt demnach - wie hier - die Erteilung einer Ausnahme nach § 3 Abs. 2 AufenthG allein von dem Bestehen des Anspruchs auf Erteilung eines Visums ab, ist eine Ausnahme zu § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG aus systematischen Gründen anzunehmen. [...]