VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 26.10.2011 - 5 K 527/11.TR - asyl.net: M19176
https://www.asyl.net/rsdb/M19176
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da der psychisch kranke Kläger die notwendige therapeutische Behandlung in Afghanistan nicht erhalten kann und daher auch nicht in der Lage wäre, sein Überleben dort zu bewerkstelligen.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Afghanistan, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten jedoch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn - gleich aus welchen Gründen - eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings genügt für die Annahme einer "konkreten Gefahr" im Sinne der Vorschrift nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der "Gefahr" im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab angelegte der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit", wobei allerdings das Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert, die außerdem landesweit gegeben sein muss (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118.05 - unter Hinweis auf den weiteren Beschluss vom 14. März 1997 - 9 B 627.96 -).

Für den Kläger besteht aus dem Grunde eine erhebliche individuelle Gefährdung, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten steht, dass er aufgrund seiner behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung nicht in der Lage sein wird, sein Existenzminimum in Afghanistan zu sichern. Zwar muss gesehen werden, dass bei Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, eine Sperrwirkung für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots besteht, da insoweit die Zuerkennung eines Abschiebeverbots einer generellen Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG durch die insoweit zuständigen Behörden vorbehalten bleiben muss. Diese Sperrwirkung greift bei allgemeinen Gefahren, wie sie zum Beispiel im Hinblick auf die typischen Folgen der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen im Heimatland des Ausländers generell bestehen (vgl. ausführlich BVerwG, Urteile vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 - und vom 12.07.2001 - 1 C 5.01 -).

Besteht eine allgemeine Gefahr in diesem Sinne, fehlt es aber an einer Leitentscheidung im Sinne des § 60a Abs. 1 AufenthG, so kann die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht. Insoweit kann der Ausländer bei allgemein drohenden Gefahren Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des §. 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in das Heimatland mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Eine extreme Gefahrenlage i.d.S. besteht beispielsweise dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage sein Existenzminimum nicht sichern kann.

Hiervon ausgehend besteht für den Kläger, der aufgrund der in Afghanistan erlebten Vorfälle psychisch schwer erkrankt ist, wie die von ihm im gerichtlichen Verfahren vorgelegten fachlichen Stellungnahmen nachvollziehbar belegen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er alsbald nach seiner Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten wird, da er nicht in der Lage sein wird, eine Existenzgrundlage aufzubauen. Die zur Wiederherstellung seiner Überlebensfähigkeit notwendige therapeutische Behandlung wäre in Afghanistan nicht gewährleistet. Zur Überzeugung des Gerichts steht von daher fest, dass er nicht in der Lage wäre, sein Überleben in Afghanistan zu bewerkstelligen, nachdem ihm eine Rückkehr in seine Heimatregion aufgrund der dort erlebten Vorfälle nicht zumutbar ist. [...]